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Veröffentlicht am 24.10.24

Anfang

Was man von außen sieht, wenn jemand anfängt, einen Prosatext zu übersetzen, lässt sich leicht beschreiben: Eine Person tippt den ersten Satz in ein Dokument, in einer anderen Sprache als der, in der er ursprünglich geschrieben wurde. Genauso verfährt sie mit dem nächsten. Doch das, was man von außen sieht, mimen Übersetzerinnen und Übersetzer im Grunde nur. Selbst wenn der erste Satz einer Übersetzung in der endgültigen Fassung unverändert – oder nach vielen Veränderungen wieder in der allerersten Gestalt – stehen wird, kann ich mir dessen zu Beginn nicht sicher sein, denn ich weiß nicht, welchen Einfluss ein anderer Satz, der sich drei, dreißig oder dreihundert Seiten weiter findet, auf eben diesen ersten haben wird. Am Anfang dient das, was ich in der Zielsprache aufschreibe, lediglich als Grundstein für den Raum, den ich mich in der Übersetzung zu bauen entschlossen habe. Im Idealfall habe ich eine vage Vorstellung davon, wie dieser am Ende des Prozesses aussehen, sich anhören, anfühlen sollte, aber die entscheidenden Informationen darüber, womit ich ihn ausstatten muss, damit er zu dem Raum wird, den ich mir vorgestellt habe, teilt mir der Text erst im Laufe der Arbeit mit. Teilen mir beide Texte mit, das Original und die Übersetzung. Denn je mehr von dieser bereits entstanden ist, desto mehr versorgt auch sie mich mit wichtigen Details für den weiteren Verlauf des Bauvorhabens.

In der japanischen Sprache gibt es das Konzept des kekkai, das so viel bedeutet wie Schwelle, Grenze, Abgrenzung. Ursprünglich kannte man den Begriff im Zusammenhang mit buddhistischen Klöstern, in deren Umgebung die kekkai – Holzbretter oder Steinsäulen mit entsprechenden Hinweisen – Linien markierten, die von bestimmten Personen oder Tieren nicht überschritten, über die hinaus bestimmte Waren nicht weitergeführt werden durften, was zur Gewährleistung des asketischen Lebens der Mönche beitragen sollte. Mit Verbotsschildern gehen Literaturübersetzer meist sparsam um, denn jeder Aspekt ihrer Erfahrungen kann zum Gelingen der Übersetzung beitragen, es ist also nicht ratsam, die Welt von sich fernzuhalten. Für sie ist eher die sich später herausgebildete, allgemeinere Bedeutung des Begriffes interessant: Kekkai kann auch eine spirituelle Grenze markieren, wie zum Beispiel das Händewaschen vor der Teezeremonie oder das Anzünden von Räucherwerk. Der Satz „Heute fange ich mit der Übersetzung an“ ist ein kekkai dieser Art. Ich zünde ihn allein oder in Anwesenheit einer anderen Person an, mir wird ein wenig feierlich zumute und ich bin auch erleichtert, denn nun erinnere ich mich an vergangene Anfänge und ahne: Wohl auch dieser Text, mag er noch so umfangreich sein, ist übertragbar, hinübertragbar.

Was man bei etwas so Konturlosem wie dem Anfang einer Übersetzung kaum glauben würde: Er hat tatsächlich ein Ende. Spätestens wenn ich nach dem ersten Durchgang der Übersetzung diese überarbeite, stelle ich fest, dass die meisten Fragen, die ich mir zu verschiedenen Ausdrücken, Mehrdeutigkeiten, Interpretationsmöglichkeiten notiert habe, inzwischen vom Ausgangstext oder der Übersetzung beantwortet wurden. Viele der Antworten waren schon von Anfang an da, hätten aber ohne das Netz, das mit dem ersten Durchgang geknüpft wurde, nicht aufgefangen werden können. Das Anfangen einer Übersetzung ist also vor allem ein Auffangen von allem, was der Text zu sagen hat – nicht vorrangig über seinen Inhalt, vor allem über seine Machart. Und es ist auch ein Einfangen der Gestaltungsmöglichkeiten, die die Sprache, in die ich übersetze, mir zur Verfügung stellt.

Zwischen dem Wort anfangen und dem Wort anfassen besteht eine Verwandtschaft: Ich versuche, den Text anzufassen, zunächst eher nur zu berühren, mich von ihm berühren zu lassen. Obwohl ich bei jedem neuen Text Berührungsängste habe, mir nicht sicher bin, ob ich wirklich die für die Übersetzung erforderliche Zeit werde mit ihm leben wollen. Denn ganz gleich, wie sehr mir ein Text gefällt, wann er geschrieben wurde, wann er spielt, wovon er handelt, er nimmt mich immer mit. Nimmt mich mit in seine Welt, und vor dem Anfang weiß ich noch:  Ich werde jede Stunde des Übersetzens, und das können hunderte sein, in genau dieser Welt verbringen. Später, jenseits des kekkai, weiß ich es nicht mehr, dann bin ich einfach dort.