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Veröffentlicht am 29.01.25

Artikel

As, die, η, het, la, the, una, une: Artikel, diese Winzlinge, sind feste Partner der Nomen, stehen aber wie ein Auftakt vor ihnen. Ein kompliziertes Sprachelement, ein bisschen sperrig. Sind sie Hebel, die das Nomen programmieren? Kleine Taschen, kleine Krücken? Lerngrammatiken sprechen vom Begleiter oder, horribile dictu, vom Geschlechtswort. Die meisten Sprachen der Welt kommen ohne eigenständiges Artikelwort aus (Arabisch, Hebräisch, Hindi, Japanisch, Mandarin, Persisch, Urdu und und und); die indogermanischen Sprachen haben es in großer Variationsbreite, mit Ausnahme von fast allen slawischen Sprachen. Die drücken dann die Bedeutungen und Funktionen, die der kleine Artikel stemmen muss, auf andere Weise aus – Genus (im Gegensatz zu den meisten Sprachen leistet das Deutsche sich drei), Numerus und auch noch den Kasus, eine ziemliche Fracht.

In Johnsons Jahrestagen heißt es, das Kind Gesine habe schon begriffen, dass es gewisse Löcher in der Sprache frei lassen sollte, aber noch nicht, was genau hineingehörte, aus der Bär wurde bei ihr d’Bä[01]Uwe Johnson: Jahrestage. suhrkamp taschenbuch, Berlin 2013. S. 411. D’Ende d‘Welt. Das wäre praktisch, genderneutral und hübsch knapp. Sprachgeschichtlich dürfte es irgendwann mal auf etwas Ähnliches hinauslaufen. Doch der Verlust!

Abdalrahman Alqalaq spielt auf Deutsch mit Artikel und Genus, wenn er DER Heimat sagt: Heimat, und ich sage mit Absicht DER. … //Wie DER Lehrer, der dich unterweist in Disziplin und Selbstbeherrschung // mit Ruten- und Stockschlägen[02]https://weiterschreiben.jetzt/texte/abdalrahman-alqalaq-heimatkomplex-der-heimat/… Beim Übersetzen ist man (in der Regel) zum grammatikalischen Genus des Deutschen verpflichtet, und das kann durch die femininen oder maskulinen kulturellen Bilder, die viele Begriffe evozieren, schön herausfordernd sein. Wenn die im Text manifest werden: Kann aus dem deutschen Gevatter Tod eine Muhme, eine Tante, eine Frau Tod werden, wie das Italienische, Französische, Russische sie kennt? Auch das Leben ist in diesen drei Sprachen weiblich. (Weshalb Boris Pasternaks Meine Schwester – das Leben im Original zu einer Gestalt zusammenfließt.)

Doch das Genus im Artikel ist fürs Übersetzen nicht durchgehend relevant. Auf Schritt und Tritt entscheiden müssen sich Übersetzer·innen aus artikellosen Sprachen, wenn es um die Kategorie der Determiniertheit geht, die den Charakter von Begriffen, Sätzen, ganzen Texten beeinflussen kann: bestimmter oder unbestimmter Artikel oder Nullartikel. Für mich hat die herbe, negationssatte Duden-Erklärung (von 1984) einen eigenen, fast poetischen Reiz: Mit dem unbestimmten Artikel hebt der Sprecher etwas aus einer gegliederten Gesamtheit heraus und drückt aus, dass es unbekannt ist … Es ist von etwas Unbestimmt-Unbekanntem die Rede, das noch nicht identifiziert werden kann[03]Der Duden in 10 Bänden, Hg. Günther Drosdowski, Bd. 4, Die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Mannheim, Wien, Zürich 1984, S. 214. Vor diesem Hintergrund noch einmal Johnsons Jahrestage: Mrs. Cresspahl. …Vierunddreißig Jahre alt. Die hält ihren Hals steif, die zieht einen Bauch ein[04]Uwe Johnson: Jahrestage. suhrkamp taschenbuch, Berlin 2013. S. 438. Scheinbar ganz plötzlich da: Gesines unbekannter, unheimlicher Bauch. Artikel können Atmosphäre wecken, den Grad der Zugehörigkeit, den Zeitverlauf zeigen.

Was für Möglichkeiten beim Übersetzen. Auch in einem artikellosen Original können Nomen definiten oder indefiniten Charakter haben, aber meist gibt es viel Spielraum. Die Wahl der Artikelart kann Sätze länger oder kürzer machen (diese schrecklichen zwei zusätzlichen Silben einen oder einem, zum Beispiel in einer Gedichtzeile!), schwerfälliger oder leichtfüßiger, schroffer oder sanfter. Rhythmen lassen sich kreieren und variieren, Dinge nahebringen und in die Ferne rücken.

Ich bin überzeugt, dass der Gebrauch der Artikelart bei Spracharbeiter·innen historische, poetologische und individuelle Aspekte hat. Auch mit Skepsis, mit Temperament zu tun hat, über den Zugang zur Welt etwas verrät. Sehr subjektive Stichproben – Schiller: Der Handschuh, Die Bürgschaft, Das Glück. Goethe: Willkommen und Abschied, Erlkönig, Nähe des Geliebten. Lasker-Schüler: Weltende, Gebet, Abschied. Brecht: An die Nachgeborenen, Der Radwechsel, Vom armen B.B. Monika Rinck: teich, KANINCHEN, HIMMELSHÄRTE.

Stichwort historischer Aspekt – sind es Moden, Vorlieben, oder sagen sie mehr aus, Swetlana Geiers neue Dostojewski-Titel, die Verschiebung von Die Dämonen zu Böse Geister, von Der Jüngling zu Ein grüner Junge? Wird der bestimmte Artikel mittlerweile seltener benutzt? Der Zauberberg, Die Blendung, Der Mann ohne Eigenschaften, Die Verwandlung. Mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Romane der letzten Jahre: Echtzeitalter, Blutbuch, Blaue Frau, Herkunft. Der bestimmte Artikel benennt: Bekanntes bzw. Konkretes, das einzige Exemplar von etwas, Vertreter einer Gattung oder Klasse. Aber kaum noch jemand würde sagen Die Sprache verbindet die Menschen, denn: welche Sprache, welche Menschen? Und bedeutet das jetzt mehr oder weniger Freiheit?

Artikel haben eine große Wirkmacht. In Ernst Jandls Gedicht[05]ernst jandl: selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr. gedichte, sammlung luchterhand, mai 1986, S. 7 stiften sie die Subjekt-Objekt-Beziehung der Nomen und verweisen so auf die fehlenden Verben, die sich zwischen den Zeilen tummeln. Damit setzen sie die gesamte Dynamik des Gedichts in Gang. Nein, beileibe keine Krücke – eher ein Sprungbrett.

schritte

der nebel
den berg

der berg
den baum

der baum
das blatt

das blatt
den Käfer

der Käfer
mich


References
01 Uwe Johnson: Jahrestage. suhrkamp taschenbuch, Berlin 2013. S. 411
02 https://weiterschreiben.jetzt/texte/abdalrahman-alqalaq-heimatkomplex-der-heimat/
03 Der Duden in 10 Bänden, Hg. Günther Drosdowski, Bd. 4, Die Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, Mannheim, Wien, Zürich 1984, S. 214
04 Uwe Johnson: Jahrestage. suhrkamp taschenbuch, Berlin 2013. S. 438
05 ernst jandl: selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr. gedichte, sammlung luchterhand, mai 1986, S. 7