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Veröffentlicht am 25.12.21

Buchtitel

Buchtitel – von den üppigen »Küchenzetteln« (Lessing) des Barocks wie Der Abentheurliche||SIMPLICISSIMUS||Teutſch / ||Das iſt:||Die Beſchreibung deß Lebens eines||ſeltzamen Vaganten/genant Melchior||Sternfels von Fuchshaim/wo und welcher||geſtalt Er nemlich in dieſe Welt kommen/was||er darinn geſehen/gelernet/erfahren und auß=||geſtanden/auch warumb er ſolche wieder||freywillig quittirt.||Überauß luſtig/und maenniglich||nutzlich zu leſen.||An Tag geben||Von German Schleifheim||von Sulsfort (Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, 1668) über oft sentimentale Satztitel wie Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung (Eric Malpass, 1967) bis hin zu lakonischen Ein-Wort-Titeln wie Liebe (Molly McCloskey, 2011) – sind kein bloßer Zierrat, sondern als Para- und Metatexte untrennbarer Bestandteil des gedruckten und veröffentlichten Werkes, auf dessen Schutzumschlag, Buchrücken, Schmutz- und Haupttitelblatt sie stehen. Sie stellen das zentrale Eingangsportal zum nachfolgenden Ko-Text dar und müssen, »so wie unser Gesicht, Ausdruck des Innern seyn« (Herder).

Fasst man den Buchtitel als sprachliches Zeichen auf und zieht zu seinem Verständnis das Organon-Modell Karl Bühlers (1934) heran, so erfüllt er eine Darstellungs-, eine Appell- und eine Ausdrucksfunktion, ist »Symbol«, »Signal« und »Symptom« in einem. Zu diesen »referentiellen«, »konativen« und »emotiven« Aufgaben treten gemäß dem erweiterten Kommunikationsmodell von Roman Jakobson (1960) die poetische, die phatische und die metalinguale Funktion des Titels: stilistisch-rhetorische Mittel, »Kontaktangebot« und mögliche Selbstreflexivität.

Infolge dieses Spannungsgefüges kann es, je nach Gewichtung, im Wechselspiel der am Entstehen des Buches beteiligten Instanzen Autor, Lektorat und Verlagsvertreter zu Gegensätzen kommen, etwa zwischen ästhetischen und kommerziellen Interessen, Ausdrucksintensität und Werbewirksamkeit, Autorenintention und Kauf- bzw. Leseanreiz. Unter Darstellungsfunktion ist nicht unbedingt eine konkrete Mitteilung oder Information im Sinne eines »Monogramms des Inhalts« (Schopenhauer) zu verstehen, sondern eher das Spiel mit dem Weltwissen und dem Erwartungshorizont der Rezipienten.

Bei der Titelfindung für übersetzte Bücher gelten die nämlichen Kriterien. Aufgrund der sprachlichen Differenz und der kulturellen Distanz wird der innere Zusammenhang zwischen Titel und Text indes doppelt komplex. Auch der übersetzte Titel sollte einprägsam, unterscheidbar und identifizierbar sein (dies seine distinktive oder Namensfunktion) – bis hin zu dem in Deutschland gesetzlich garantierten Titelschutz, der Verwechslungen vermeiden soll. Jedoch muss sich die Titelübersetzung »einerseits an den Titelkonventionen der Zielkultur und den Erwartungen der Zielempfänger, andererseits am Prinzip der Loyalität gegenüber dem Titelautor und seiner Intention« (Christiane Nord, 1993) orientieren, womit Konflikte zwischen Funktionsgerechtigkeit und der Verpflichtung gegenüber dem Original vorprogrammiert sind. Da nicht alle im Originaltitel realisierten Funktionen gleichermaßen berücksichtigt werden können, erst recht nicht beim Vorkommen fremder Kultursignale und Realia, werden Buchtitel vielfach nicht übersetzt (wörtliche Übersetzung, Expansion, Reduktion, Modulation, Paraphrase), sondern ersetzt (freie Neuformulierung) oder, zumindest im Falle des Englischen, als reine Reiztitel in der Originalsprache belassen. Die Titelfindung ist explizit nicht Aufgabe des Übersetzers; vielmehr behält sich der Verlag die Wahl des Titels meist vertraglich vor. Aufgrund seiner intimeren Kenntnis des Werkes kann jener als der »Andere« des Autors allerdings Vorschläge unterbreiten und Anregungen geben.

Literatur:
– Adorno, Theodor W.: Titel. Paraphrasen zu Lessing. In: ders.: Noten zur Literatur III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965. S. 7-18.
– Barton, Walter: Denn sie wollen gelesen sein. Kleine Stilfibel des deutschen Buchtitels. Hamburg: Furche Verlag, 1968. (Furche-Bücherei 301).
– Barton, Walter: Der Zweck zeitigt die Titel. Kleine Kulturkunde der deutschen Buchtitel. Siegen: Universität-Gesamthochschule Siegen, 1984. (Veröffentlichungen des Forschungsschwerpunkts Massenmedien und Kommunikation an der Universität-Gesamthochschule Siegen 26).
– Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Übersetzt von Dieter Hornig. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Frankfurt am Main/New York: Campus, 1989.
– Hellwig, Peter: Titulus oder Über den Zusammenhang von Titeln und Texten. Titel sind ein Schlüssel zur Textkonstitution. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 12 (1984) 1. S. 1-20.
– Holder, Friedemann / Staiger, Michael: Der Buchtitel als Nebentext. Titelgebung zwischen Autorenintention und Marketing-Strategie. In: Praxis Deutsch 269 (2018) . S. 58-59.
– Mecker, Jochen / Heiler, Susanne (Hrsg.): Titel – Text – Kontext: Randbezirke des Textes. Festschrift für Arnold Rothe zum 65. Geburtstag. Glienicke, Berlin / Cambridge, MA: Galda + Wilch, 2000.
– Mieder, Wolfgang: »Des vielen Büchermachens ist kein Ende«. Traditionelle und manipulierte Sprachformeln als Buchtitel. In: Der Sprachdienst 35.4 (1991). S. 105-114.
– Nord, Christiane: Äpfel und Birnen? Überlegungen zur Methode eines funktionalen Textsortenvergleichs am Beispiel spanischer, französischer und deutscher Buchtitel. In: Giovanni Rovere / Gerd Wotjak (Hrsg.): Studien zum romanisch-deutschen Sprachvergleich. Tübingen: Niemeyer, 1993. S. 141-148. (Linguistische Arbeiten 297).
– Nord, Christiane: Buchtitel und Überschriften. In: Mary Snell-Hornby u. a. (Hrsg.): Handbuch Translation. Tübingen: Stauffenburg, 1998. S. 292-294.
– Nord, Christiane: Der Buchtitel in der interkulturellen Kommunikation. Ein Paradigma funktionaler Translation. In: Sonja Tirkkonen-Condit (Hrsg.): Empirical Research in Intercultural and Translation Studies. Selected Papers of the TRANSIF Seminar, Savonlinna 1988. Tübingen: Narr, 1991. S. 121-130.
– Nord, Christiane: Der Titel – ein Mittel zum Text? Überlegungen zu Status und Funktionen des Titels. In: Norbert Reiter (Hrsg.): Sprechen und Hören. Akten des 23. Linguistischen Kolloquiums in Berlin. Tübingen: Niemeyer, 1989. S. 519-528.
– Nord, Christiane: Die Übersetzung von Titeln, Kapiteln und Überschriften in literarischen Texten. In: Harald Kittel u. a. (Hrsg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 1. Teilband. Berlin: de Gruyter, 2004. S. 908-914. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26/1).
– Nord, Christiane: Die Übersetzung von Überschriften und Titeln in sprachwissenschaftlicher Sicht. In: Harald Kittel u. a. (Hrsg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, 1. Teilband. Berlin / New York, NY: de Gruyter, 2004. S. 573-579. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 26/1).
– Nord, Christiane: Einführung in das funktionale Übersetzen. Am Beispiel von Titeln und Überschriften. Tübingen / Basel: Francke, 1993. (UTB 1734).
– Nord, Christiane: Funktionsgerechtigkeit und Loyalität. Überlegungen zum Übersetzungsproblem ›Titel und Überschriften‹. In Bernd Spillner (Hrsg.): Sprache und Politik, Kongreßbeiträge zur 19. Jahrestagung der GAL. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang, 1990, S. 138-139.
– Nord, Christiane: Text-Functions in Translation. Titles and Headings as a Case in Point. In: Target 7.2 (1995). S. 261-284.
– Nord, Christiane: Textfunktion und Übersetzen am Beispiel von Titeln und Überschriften. In: dies. (Hrsg.): Funktionsgerechtigkeit und Loyalität. Theorie, Methode und Didaktik des funktionalen Übersetzens. Berlin: Frank & Timme, 2011. S. 47-70.
– Rothe, Arnold: Der literarische Titel. Funktionen, Formen, Geschichte. Frankfurt am Main: Klostermann, 1986. (Das Abendland Neue Folge 16).
– Rothe, Arnold: Der Doppeltitel. Zu Form und Geschichte einer literarischen Konvention. Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 1970. (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 10/1969).
– Schmalzriedt, Egidius: PERI PHYSEOS. Zur Frühgeschichte der Buchtitel. München: Wilhelm Fink, 1970.
– Tanış Polat, Nilgin: Zur Übersetzung literarischer Titel. Titelübersetzungen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive. In: Saniye Uysal Ünalan / Nilgin Tanış Polat / Mehmet Tahir Öncü (Hrsg.): Von Generation zu Generation. Germanistik. Festschrift für Kasım Eğit zum 65. Geburtstag. Ege Üniversitesi Basımevi, İzmir, 2013. S. 289-298.
– Tanış Polat, Nilgin: Zwischen Original und Zielrezipientenangemessenheit bei der Titelübersetzung von Kinder- und Jugendliteratur. In: Ege Forschungen zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft 9 (2007). S. 15-34.