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Veröffentlicht am 26.12.21

Dialekt

Dialektpassagen im Original bilden eines der größten Probleme beim Übersetzen von Literatur. Denn Dialekte sind das schlechthin Besondere im Sprachsystem, und wer einen Dialekt übersetzen muss, findet wie unter einem Brennglas alle Herausforderungen an die Übersetzung versammelt.

Jede Sprache ist eine Lebensform, umso mehr gilt das für den Dialekt. In ihm sind alle besonderen Eigenschaften einer Region Sprache geworden: ihre Geschichte, ihre Traditionen, Trachten und Speisen, Landschaft und Wetter, die Mentalität der Bewohner, ihr Humor.

Diese Besonderheiten schlagen sich in Wörtern und Redewendungen nieder, im Satzbau und der Morphologie, vor allem aber in phonetischen Eigenheiten, also in einer bestimmten Tonlage und in der Prosodie, der Satzmelodie. Dialekte sind die Musik gesprochener Sprache. Der Begriff „Mundart“ deutet darauf hin, dass es sich beim Dialekt zumeist um gesprochene Sprache, um Mündlichkeit handelt. Im Original, das wir übersetzen müssen, begegnet uns der Dialekt jedoch in schriftlicher Form. Für die Verschriftlichung einer Mundart gibt es aber keine grammatischen und phonetischen Normen. Dialekt wird nach dem subjektiven Höreindruck schriftlich fixiert, ist also niemals ein getreues Abbild des authentischen Originaltons. Literarische Texte, die aus dem Dialekt eine Kunstsprache machen, tragen diesem Problem Rechnung. In der Literatur ist Dialekt immer ein Stilmittel und kann ganz unterschiedliche Funktionen haben. Dialektale Einsprengsel sollen Lokalkolorit schaffen, einen bestimmten Klang und Rhythmus erzeugen, verfremdend wirken oder Figuren charakterisieren. Manche Autor:innen betreiben philologische Studien eines Dialekts, um ihn möglichst glaubwürdig einzusetzen, andere, wie Andrea Camilleri, erfinden einen Kunstdialekt, ein „Camilleri-Sizilianisch“, das den Rang des Sizilianischen als eigener Sprache hervorhebt und deutlich macht, dass Dialekt nicht nur von Ungebildeten gesprochen wird, nicht immer Umgangssprache ist.[01]So etwa im Roman „Die Sekte der Engel“ (übersetzt von Annette Kopetzki. Nagel Kimche 2013). Nicht nur in der Literatur erfährt Dialekt seit Längerem eine Aufwertung, er gilt als identitätsstiftend, als Zeichen kultureller Eigenständigkeit. Wie also Dialekt übersetzen?

„Dialekt mit Dialekt zu übersetzen, ist tabu. Dialekt mit Umgangssprache zu übersetzen, ist feige.“ Diese Regel ist bewusst pointiert formuliert, doch den ersten Satz beherzigen mittlerweile fast alle, die übersetzen. Faulkners Figuren sollten nicht schwäbeln, Mafiosi aus Palermo nicht berlinern. Stattdessen wird behutsam mit kleinen Dialektmarkierungen gearbeitet, die möglichst nicht regional klingen sollen. Denn die Lautung, die phonetischen Eigenheiten, führen fast immer in eine bestimmte Region. Es gibt jedoch allgemeine Merkmale der Umgangssprache, die auch auf viele Dialekte zutreffen, z.B. eine Häufung von Modalpartikeln, vorwiegend Präsens, Wegfall des Konjunktivs und der Nebensatzinversion, Dativ statt Genitiv, außerdem kraftvolle Flüche und Redewendungen. Ein anderes Verfahren basiert darauf, die mundartliche Flexion, Syntax und Lexik der Ausdrücke für Speisen, Wetter, Kleidung usw. nach nördlichen und südlichen Regionen und Landschaftstypen Deutschlands zu gruppieren und entsprechend für die Dialektübersetzung zu nutzen.

Doch diese naturalistischen Übersetzungsstrategien suggerieren, deutsche dialektale oder umgangssprachliche Markierungen könnten einen fremdsprachigen Dialekt abbilden. Der Besonderheit eines Dialekts wird man meiner Meinung nach besser gerecht, wenn man die Fremdartigkeit und den Kunstcharakter der originalen Dialektpassagen in der Übersetzung erhält. Dialekt durch Verfremdung zu markieren, erfordert allerdings Mut und Experimentierfreude. Mut, das regelkonforme Deutsch aufzubrechen und in Bewegung zu versetzen, syntaktisch wie lexikalisch. Mut, neue Wörter zu erfinden, idiomatische Wendungen abzuwandeln. Kleine syntaktische Verschiebungen sind oft wirkungsvolle Lösungen. Immer häufiger nehmen Übersetzungen auch Wörter und Sätze aus dem Original in den deutschen Text hinein. Besonders Interjektionen eignen sich dafür.[02]So benutzen die pubertierenden Jungen im ersten Roman von Roberto Saviano über die Baby-Gangs der neapolitanischen Camorra den Schwur „Adda … Fußnote lesen Man kann die Übersetzung auch durch einzelne Elemente aus dem Kiez-Deutsch verfremden, das ja fremdsprachliche Bestandteile und eine eigenwillige Grammatik hat. Generell müssen wir genau hinsehen, welche Funktion Dialektpassagen im Original haben, um geeignete Übersetzungslösungen zu finden. Und das gilt nicht nur für den Dialekt, sondern für alle stilistischen Besonderheiten des Textes, den wir übersetzen. Denn jeder literarische Text stellt seine ganz eigenen Aufgaben, die so untrennbar mit seiner sprachlichen Gestalt verbunden sind, wie Dialektwörter mit der Region, in der sie entstanden.

References
01 So etwa im Roman „Die Sekte der Engel“ (übersetzt von Annette Kopetzki. Nagel Kimche 2013).
02 So benutzen die pubertierenden Jungen im ersten Roman von Roberto Saviano über die Baby-Gangs der neapolitanischen Camorra den Schwur „Adda murì mamma“ (etwa: „meine Mutter soll tot umfallen, wenn …“). Dort, wo der Spruch zum ersten Mal auftaucht, wird er in der Übersetzung erklärt:
„Ernste Sache … ich schwör!“
„Kein Scheiß …?“ fragte Nicolas.
„Ja!“ Und damit es keinen Zweifel gab, fügte er hinzu, wenn das gelogen sei, solle seine Mutter tot umfallen: „Adda murì mammà!“
Danach taucht dieser Schwur noch oft auf, er muss aber nicht mehr übersetzt werden. Vgl. Roberto Saviano, Der Clan der Kinder, C. Hanser Verlag 2018.