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Veröffentlicht am 26.12.21

Etymologie

„Jedes Wort ist eine kleine Fabel.“
Giambattista Vico (1744)

Wer übersetzt, sieht sich bei fast jedem Wort einer Fülle von Möglichkeiten gegenüber. ‚Wortgleichungen’ wie in den Vokabelheften der Schulzeit gibt es kaum, weil die Wörter der einen Sprache sich nur partiell mit denen der anderen decken. Wer beim Schreiben ‚le mot juste’ gefunden hat, sieht beim Übersetzen eben dieses in Frage gestellt. Wer am Bedeutungswörterbuch verzweifelt, hofft vielleicht im Synonymenlexikon fündig zu werden, doch streng genommen gibt es keine Synonymie, weil jedes Wort in seinem Nuancenreichtum einzigartig ist.

Alle diese Suchbewegungen oder Annäherungen finden auf der horizontalen Ebene statt. Die Etymologie dagegen (von griech. étymos, étymon: wahr, wirklich) soll die Wurzel oder Grundbedeutung eines Wortes angeben, listet aber in der Regel die Herkunft, auch die Sprachverwandtschaften, auf, bis sie sich im Nebel der Vor- und Frühgeschichte der erschlossenen, mit Sternchen ausgezeichneten Formen des Sanskrit, des Urgermanischen oder Ur-Indoeuropäischen verliert. (Wovon engl. soul kommt, ist bis heute nicht bekannt; deutsch Seele soll mit See zusammenhängen, weil der ‚Sitz’ der Seele das Wasser ist; aber bei engl. soul, das mit Seele stammverwandt ist, findet sich diese Hypothese nicht.) Dennoch: In den tiefen Schacht der Wörter hinabzusteigen, ist ein Abenteuer („…aventüre wird zunächst gebraucht von etwas Merkwürdigem, was dem Ritter unvermutet unterwegs begegnet, meist gefährlicher Art.“[01]Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 5., völlig neubearb. u. erw. Aufl. v. Werner Betz, Max Niemeyer, Tübingen 1966.), das den, der es unternimmt, oft zum Staunen (= „starr vor sich hinsehen“, ibid.) bringt. Dieses Graben in der Tiefe kann eine Quelle der Inspiration sein.

James Joyce schreibt von seinem jugendlichen Helden Stephen Daedalus: „He read Skeat by the hour.“ Das heißt er las stundenlang im „Etymological Dictionary of the English Language“ von W.W. Skeat, dessen erste Auflage im Geburtsjahr von Joyce (1882) erschien. Für den Dichter ist ein Lexikon nicht nur zum Nachschlagen da, sondern auch zum Schmökern und zum Entdecken von Wörtern, die er nicht gesucht hat. So werden die vielen seltenen oder obsoleten Wörter in sein Werk gewandert sein, wie cerements oder cereclothes (von lat. cera, Wachs) für ‚Leichentuch’, wofür der Übersetzer sich etwas einfallen lassen muss, auch um die Wiederholung von ‚linnen of the grave’ zu vermeiden (z.B. das altertümliche ‚Bahrtuch’). Bei einem scheinbaren Allerweltswort wie gas für eine im 18. Jahrhundert neue Lichtquelle zeigt sich, dass es die Ableitung von chaos sein soll, und auf der gegenüberliegenden Seite (234) stieß Joyce zufällig auf das seltene garish, das sich als garish gas („grelles Gas“) im Portrait of the Artist findet. Ein anderes Allerweltswort, nice, das im ersten Kapitel des Portrait achtzehnmal motivisch verwendet ist, durchläuft alle Stadien seines Gebrauchs zurück bis zum Altfranzösischen und zum Latein (nescius). Für Joyce mag die Etymologie auch ein Anstoß für Finnegans Wake gewesen sein als deren Parodie. In diesem Werk begegnen sich zwei Dutzend Sprachen wie der träumende Zettelkasten eines komparatistischen Etymologen. („Joyce hat die Sprache schlafen gelegt“, schrieb der junge Beckett.) Und der Forscher erscheint hier als „adamologist“, der „adamelegy“ betreibt.

Wenn das etymologische Senkblei tief genug vordringt, kann sich zeigen, daß am Grund der Stammsilbe etwas ganz Konkretes, ein ‚fundamentum in re’, sichtbar wird. Herder spricht angesichts der dreibuchstabigen Wurzel der hebräischen Wörter von „Wurzelsinn“, den Franz Rosenzweig zu „Wurzelsinnlichkeit“ erweiterte. Tatsächlich ist das Hebräische der Bibel ganz konkret und erst durch die Übersetzungen immer abstrakter geworden. Auch Namen bedeuten etwas, meist etwas Konkretes, und die Erklärung wird oft mitgegeben. („Er nannte ihn Adam, weil er aus Erde – adama – gemacht war.“) Manchmal ist aber auch in den Übersetzungen über die Jahrhunderte die Konkretion verschwunden. Nach der Schöpfung von Himmel und Erde heißt es bei Luther: „Der Geist Gottes schwebte über den Wassern“. Im Lateinischen ist von spiritus dei die Rede und im Griechischen von pneuma theou. Alle diese Begriffe – Geist, spiritus, pneuma – bedeuteten einmal etwas ganz Konkretes, so etwas wie Luft, Hauch, Atem, wie das hebräische ruach elohim, aber wir hören es diesen Wörtern nicht mehr an, weil der Atem sich theologisch oder philosophisch verflüchtigt hat. Erst Buber und Rosenzweig kommen der Wurzelsinnlichkeit wieder nah, wenn sie Braus Gottes schreiben, und der algerische Jude André Chouraqui sagt ihnen folgend le souffle d’Elohîm. Alles das sind Möglichkeiten, die im Wortfeld von ruach bleiben. Etwas anderes ist es, wenn im eigentlichen Sinn Etymologie getrieben wird. Im 1./2. Jahrhundert hat ein gewisser Aquila die Tora ins Griechische übersetzt, um sie näher zum Original zu bringen, als die schon kanonische Septuaginta es war. Im ersten Wort der Genesis (bereshit, Im Anfang) hört er das Wort rosh (Kopf) heraus und übersetzt es mit enkephalaío, „im Kopf schuf Gott Himmel und Erde. Chouraqui ist ihm darin gefolgt: ENTÊTE Elohîm créait les ciels et la terre.

Bei meiner Übersetzung des Hohenliedes (1998), dieses durch und durch erotischen Gedichts, stieß ich auf einen Vers, der bei Luther hieß: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt.“ Das passte nicht in den Kontext des Begehrens. Natürlich, in den Lexika ist für nephesh ‚Seele’ angegeben, aber die Grundbedeutung, auch in anderen semitischen Sprachen, ist ‚Kehle’ und ‚Atem’. So liegt mein Mädchen auf dem Bett und sucht den Liebsten mit beschleunigtem Atem. ‚Atem’ kommt von dem altindischen atmán, Hauch, Atem, Seele. So schließt sich der Kreis.

Auswahl etymologischer Wörterbücher:
– Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 5., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage von Werner Betz, Max Niemeyer, Tübingen 1966.
– Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Elfte Auflage, bearbeitet von Alfred Götze, Walter de Gruyter, Berlin und Leipzig 1934.
– Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 1. Auflage Berlin (DDR) 1986, 5. Auflage (Taschenbuch) 2000.
– Émile Littré, Dictionnaire de la langue francaise, contenant la nomenclature la plus étendue … et l’étymologie comparée, 4 Bände, 1863-72.
– Dizionario Etimologico della Lingua Italiana di Manlio Cortelazza e Paola Zolli, Zanichelli editore, Bologna 1999.

References
01 Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 5., völlig neubearb. u. erw. Aufl. v. Werner Betz, Max Niemeyer, Tübingen 1966.