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Veröffentlicht am 13.04.22

Fußnote

„Bei der Verwirrung zu Babel hat Gott sich verrechnet. Sie sprechen alle dieselbe Technik.“

–          Elias Canetti (aus: Die Fliegenpein)     

Friederike Mayröckers ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nichtgeschriebenen Werk besteht in seiner Gänze aus 243 Fußnoten. Sie sind eigenständige Texte und lassen den „nichtgeschriebenen“ Haupttext erst allmählich in den Köpfen der Leser entstehen. Wahrscheinlich ist es in diesem Genre bisher das einzige Werk. Sein erstes Wort greift die Schlusszeile ihres Vogel Greif-Gedichtbandes auf: „Bekenntnisse“. Der erste Satz lautet: „Bekenntnisse haben nichts mit der Wahrheit zu tun“. Damit bezieht sie sich auf den Gedanken des Philosophen Jacques Derrida, der sagte, dass er sich immer selbst ein Geheimnis war. Derrida hat Mayröcker mit seinen Büchern wie dem Briefroman Postkarte, Glas und Jacques Derrida. Ein Portrait sehr beeinflusst. In einem 2004 verfassten Text mit dem Titel J.D. heißt es: „Wollte ihn sehen wollte mit ihm sprechen vor allem über seine Fußnoten Bekenntnisse die Zeile an Zeile (= Wange an Wange) mit den Fußnoten des Aurelius Augustinus standen in dem Buch ‚Jacques Derrida‘ 1 Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida“. In diesem Portrait führt Bennington in Derridas Werk ein, Derrida selbst kommentiert den Text in Fußnoten. Mayröcker lässt dagegen in ihrem Buch den Haupttext weg. Die vorletzte Fußnote lautet: „ich bin die geprügelte Seele eines Hundes, sage ich zu IHM, die Stunden die Wochen die Jahre seien so rasch vergangen als säsze man im Zug und die Landschaft flöge vorbei und das Ende der Reise sei nahe“. Wer ist nun mit „IHM“ gemeint? Die letzte Fußnote enthält kein Wort, sondern nur Pünktchen, als wäre sie Derridas „l’avenir“, die unvorhersehbare Zukunft im Zentrum von allem. Man kann argumentieren, dass die Philosophie eine Reihe von Fußnoten sei. Aber es zeigt sich deutlich: Sollte man solche literarischen Texte mit zahlreichen Namen und Namenskürzeln und Zitaten und Bezügen übersetzen, müsste man zu den Fußnoten wiederum eigene Fußnoten setzen, zum Beispiel eine zur Person in diesem Eintrag: „Die Liebe zu Tieren die Liebe zu Kindern überschneiden sie sich? sagt Brigitte Stefanek am Telefon, am INDIA SHOP vorüber, rieche im Vorübergehen die indische Seide. Ich frage mich, welche Lebensphase war die unsterblichste, wann hatte ich am deutlichsten gelebt, frage ich mich“. Warum stehen hier bestimmte Wörter in Kursivschrift? Es wäre zu viel verlangt, wenn ein Leser dies alles wissen sollte. Selbst Google weiß nicht alles.

Bei manchen Werken kann sich kein Übersetzer vorstellen, diese ohne Fußnoten bzw. Anmerkungen den Lesern zu vermitteln, etwa The Waste Land (T. S. Eliot), Cantos (Ezra Pound), Ullysses und Finnegans Wake (James Joyce), Ficciones (Jorge Luis Borges), Jonas und sein Veteran (Max Frisch), Die Hamletmaschine (Heiner Müller) und Glas (Jacques Derrida). Eliot fügte in The Waste Land selber Fußnoten ein, versorgte seine Übersetzung von Saint-John Perses Anabase ins Englische aber nicht damit. Er liefert zu seinem Gedicht unter anderem für das in der Schlusszeile dreimal stehende Wort „Shantih“ aus dem Upanischad auf Sanskrit eine ausreichende Fußnote, aber keine ausführliche für die schon in der vorherigen Zeile auftauchenden drei Wörter „Datta. Dayadhvam. Damyata“, die auch kein Inder ohne gute Sanskritkenntnisse und Hintergrundwissen ganz nachvollziehen könnte (bei Eliot heißt es in der Fußnote hierzu lediglich: „Give. Sympathise. Control.“ The fable of the meaning of the Thunder is found in the Brihadaranyaka – Upanishad, 5.1. A translation is found in Deussen`s Sechzig Upanishads des Veda, p. 489.). Die weitere Aufgabe bleibt also dem Übersetzer überlassen. Möchte jemand das erste Gedicht mit dem Titel Sanskrit aus Graphit von Marcel Beyer in eine der indischen Sprachen übersetzen, bräuchte es unbedingt für „Radebeul“ und „Ernstthal“ eine Fußnote. Bei meiner Übersetzung ins Bengalische verwende ich diese Technik, beispielsweise für das lateinische Wort „Raptus“ bei „Raptus-Szene“ und für „FARNKRAUT AUGEN“ sowie für „Breton“ in der Schlusszeile „mit FARNKRAUT AUGEN, Breton“ (dabei bezieht es sich auf den Roman Nadja von André Breton) im Mayröcker-Gedicht Proëm auf den Änderungsschneider Aslan Gültekin aus Notizen auf einem Kamel. Oder für „Margarete“ und „Sulamith“ im Gedicht Todesfuge von Paul Celan, einem der meistübersetzten Gedichte deutscher Sprache. Oder für mehrere Personen- und Ortsnamen, Titel und Zitate im Erzählband Goethe Schtirbt von Thomas Bernhard. Ich sorge dafür, dass der übersetzte Text alles Fremdartige beibehält. Die Fußnoten liefern den kulturhistorischen Kontext. Dabei soll in der Fußnote bloß nichts stehen, was wichtiger als der Text wäre. 

Die Texte in jedem Genre – sei es Prosa, Lyrik, Erzählungen, Romane, Stücke oder Essays – der (Post)Moderne und der Gegenwart verfügen häufig über Namen, Begriffe, Fakten, Zitate in derselben oder einer fremden Sprache, Zeilen aus vielen Quellen, zerstückelte Phrasenteile, mythische sowie reale Figuren, Wortschöpfungen, Anspielungen, kleine kulturhistorische Fragmente und intertextuelle Bezüge. Hier dienen die Fußnoten den präzisen Erklärungen, der Lesehilfe, der Einordnung in einen intertextuellen sowie kulturhistorischen Zusammenhang, und der Erläuterung bildlicher Ausdrücke wie des in spitze Klammern gesetzten Teils im Satz „Verlegen/ verbarg sich das Wort Nostalgie/ im Lexikon: >>Mitterwurzer bis Ohmgeld<<“ aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht Früher. Zu diesem Ausdruck fragte ich Enzensberger, ob ich dafür eine Fußnote setzen solle. Er schrieb: „Bei uns steht auf dem Rücken der großen Enzyklopädien oft der abgekürzte Inhalt des Bandes. Am einfachsten A-Astrologe, Astronom-Burns, Burnus-Czech, und so weiter. Gibt es Ähnliches bei Ihren Lexika?“ Eine Note am Fuß ist ein Muss, besonders wenn eine Entsprechung in der Zielsprache fehlt. Manchmal verfasst der Autor selber die Anmerkungen, wie Volker Braun im Gedichtband Handbibliothek der Unbehausten und Herta Müller im Essayband Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel. Manchmal käme der Übersetzer gar nicht auf die Idee, für eine simple Stelle wie „So kommt es, dass er erst im Abgang klarsieht, /Am Ende des Prozesses. />Wie ein Hund.<“ aus Durs Grünbeins Gedicht Portrait des Künstlers als junger Grenzhund eine Fußnote zu setzen. Dabei bezieht sich der Autor hier auf den letzten Satz aus dem Roman Der Prozess von Franz Kafka. Trotzdem will nicht jeder Schriftsteller Fußnoten vom Übersetzer, selbst wenn er ihm auf seine Fragen hin viel erklären muss. Die generelle Kritik, auch vom Autor, an der Fußnote ist, dass Erläuterungen und Anmerkungen eine flüssige und kontinuierliche Lektüre verhindern und literarische Zauberhaftigkeit stören. Ich kenne das aus meiner Erfahrung und erinnere mich, was Canetti nach der gemeinsamen Arbeit mit Veronica Wedgwood an der Übersetzung seines Romans Die Blendung ins Englische schrieb: „Am Übersetzen ist nur interessant, was verlorengeht; um dieses zu finden sollte man manchmal übersetzen“. Fußnoten können Dinge vor manchem Verlorengehen retten.

Die Tradition der Anmerkungen ist so alt wie die Entstehung von Versen, Legenden und Epen. Seit man schreibt und übersetzt, kommentiert man. Als Karl Graul 1856 etwa 1500 Jahre alte indische Verse aus dem tamilischen Werk Tirukkural des Autors Tiruvalluvar ins Deutsche übersetzte (eine Übersetzung, aus der Leo Tolstoy gern zitierte), war es nicht anders. Seine den Brückenschlag schaffende Gedichtsammlung West-östlicher Divan verfasste Goethe von 1814 bis 1819 mit eigenen Noten und Abhandlungen, nachdem er durch seine Lektüre des 1812 von Joseph von Hammer-Purgstall ins Deutsche übersetzen Werkes Diwan des persischen Dichters Hafis inspiriert wurde. Für Übersetzungen zwischen indischen Sprachen sind Noten wegen der intrakulturellen Verschiedenheiten selbstverständlich. Selbst die bisher vollkommen unbekannte andere Version des bekanntesten indischen Epos Mahabharata in der Gesangsform der mündlichen Sprache Bhilali des Stammesvolkes Dungri Bhil wurde erst 1984 vom Volkskundler Bhagwandas Patel entdeckt, nach und nach zusammengestellt, in der Devanagari-Schrift dokumentiert und ab 1997 in Hindi, Bengalisch und Englisch mit den nötigen Anmerkungen übertragen. Die aus Kolkata stammende Literaturwissen-schaftlerin und Übersetzerin Gayatri Chakravorty Spivak, die 1976 Derridas De la grammatologie ins Englische übersetzte, geht mit den Noten bei ihrer Übersetzung bengalischer Texte anders vor. Beispielsweise verfasste sie zu den Kurzgeschichten aus der Sammlung Breast Stories der Schriftstellerin Mahashweta Devi die Vorworte und die Noten separat. Die postkolonial-englischen Wörter der bengalischen Originaltexte bleiben in ihrer Übersetzung postkolonial-englisch und stehen in Kursivschrift. Genauso stehen auch manche indigene und bengalische Ausdrücke in englischer Schrift. So versteht die indigene Protagonistin einer Geschichte zwar kein Englisch, benutzt jedoch das Wort ‚kounter‘ (das ‚n‘ ist hier nicht mehr als eine Nasalierung des Zwielautes ‚ou‘). Chakravorty Spivak übersetzt an dieser Stelle: „They will kounter me. Let them. (…) That boy did it. They kountered him. When they kounter you, your hands are tied behind you. All your bones are crushed, your sex is a terrible wound. Killed by police in an encounter … unknown male … age 22 …“  und stellt im Vorwort die Frage: Was heißt es, eine Sprache ‚korrekt‘ zu ‚benutzen‘, ohne sie zu ‚kennen‘?

Andererseits enthalten (indisch-)englische fiktionale Texte häufig Wörter in den indischen Sprachen, wie die des aus Mumbai stammenden Autors Salman Rushdie Wörter auf Hindi, Urdu, Marathi und Gujarati. Der tansanische englischschreibende Autor Abdulrazak Gurnah, der 2021 den Literaturnobelpreis erhielt, benutzt ebenfalls in seinen postkolonialen Erzählungen viele Ausdrücke in seiner Muttersprache Swahili, in Arabisch und in indischen Sprachen. Im Roman Paradise (Das verlorene Paradies) und in Afterlives, in denen es um Ostafrika unter deutscher Kolonialherrschaft geht, benutzt er ebenso deutsche Wörter. Die britischen und amerikanischen Verlage verlangten, dass der Autor fremde Wörter entweder durch Kursivschrift hervorhebt oder in einem Glossar erklärt. Gurnah kritisiert diese Praxis der Fremdbezeichnung und lehnt sie ab. In einem aktuellen Interview erklärt er, dass Wörter wie „Mdachi“, „askari“, „schutztruppe“, „garhi“, „shabash“ etc. Teil des multilingualen Alltags in Tansania und Ostafrika sind und daher um der Geschichten und der Vermischung willen in seinem englischen Text stehen sollen. Der Ansicht bin ich auch, und ich denke, dass der Übersetzer von Fall zu Fall entscheiden sollte, denn „jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“. Hierzu gehört nur noch eine kleine (Fuß)Note von mir: Titel eines Essays von Herta Müller.