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Veröffentlicht am 26.12.21

Gewebe

I. Texte sind Wortgebilde. Sie entstehen im Kopf. Um sie zu sprechen, braucht man Mundwerkzeuge, um sie zu schreiben, die Hände und ein Schreibwerkzeug. Wer professionell Texte verfassen oder übersetzen will, muss das »Handwerk« lernen. Und wer Texte beschreibt, entlehnt gern Vokabular aus tatsächlichem Handwerk. Man spricht vom Bau der Texte, sie werden gezimmert, gewirkt und gestrickt, man sucht »die Schönheit des Klangs mit der Schönheit von Gormans politischer und gesellschaftlicher Vision zu verweben« (Hadija Haruna-Oelker, hr2 Kultur, 30.3.21), oder »Werte … einzuweben in eine sehr schöne Sprache« (Kübra Gümüşay, DLF Kompressor, 29.3.21).
Einen Text als Gewebe zu betrachten, aus den Fäden Inhalt und Form, hilft ihn sinnlich zu erfassen. Beim Übersetzen kann es die Fragen an den Text schärfen. Was habe ich zu weben, und wie? Das Original ist schon da, es gibt den Rahmen vor, den ich bespanne, und zeigt mir, wie das Gewebe am Ende beschaffen sein soll. (Das Wort Stoff, das sich hier für Gewebe anböte, vermeide ich, weil die übertragene Bedeutung »thematische Grundlage für eine künstlerische Gestaltung« in die falsche Richtung führt.)
Wie gebe ich der Sache Halt? Dazu muss ich wissen, was das Original eigentlich zusammenhält. Es ist, je feiner das Gewebe ist, nicht ohne weiteres zu sehen und trägt das Ganze unsichtbar wie die Kettfäden, die unter Wolle oder Seide verschwinden. Diese also muss ich so spannen, dass sie alle Fäden aufnehmen und verbinden können, und von daher möglichst genau wissen, welche Lasten sie aufzunehmen haben werden. Zu entscheiden ist zum Beispiel gleich, ob das Produkt eher klassisch den Rahmen füllen oder eine freie Form bekommen soll, denn ich kann ja am Ende alles so abketten, wie ich will. Was verlangt das Original? Was für eine Textur hat es? Dichte, Spannung, Zugkraft, Durchlässigkeit wollen bedacht sein. Ist es spröde oder geschmeidig, grob- oder engmaschig? Wie fein will/muss ich weben können? Die genaue Durchleuchtung des Originals wird es mir sagen.
Je sicherer ich den inneren Halt erkunde und zur Grundlage meiner Übersetzung mache, desto klarer erkenne ich bei der Arbeit »intuitiv«, was geht: was an welcher Stelle passt, wo ich mir Freiheiten leisten kann/muss und welche meiner wunderbaren Darlings leider gekillt werden müssen. Auch die Phantasie treibt auf sicherem Nährboden schönere Blüten, als wenn sie ihre Energie freischwebend verschießt. Aber kehren wir zum Gewebe zurück: Der gut bespannte Rahmen ermöglicht es mir, die gewünschten Fäden zu einem strapazierfähigen Ganzen zu fügen, sei es schillernd oder flauschig, weich oder hart. Ich kann es so elastisch, so steif, so locker, so fest, so durchscheinend und zart gestalten, wie ich will. Übergänge, Brüche, Löcher, Schlingen, Farbwechsel, alles geht. Wie die Finger bei geübten Handlungen, webt die Ideenmaschinerie im Kopf fast von selbst, solange die Verbindung hält. Aufregend bleibt dabei immer: Kann ich es schaffen? Dass es zu schaffen ist, hat der oder die Autor:in schon gezeigt. Das Originalgewebe ist schon da.

II. Den Text als natürliches Gewebe zu sehen, scheint fürs Übersetzen weniger nahezuliegen. Im Duden wird es als »Verband von Zellen annähernd gleicher Bauart und gleicher Funktion« definiert. Vielleicht passt es eher aufs Schreiben? Solange ein Organismus lebt, entwickelt sich das Gewebe, selbsttätig seinem Zweck entsprechend, beim Schreiben nicht als Muskel-, Stütz- oder Fett-, sondern als Sinngewebe, gebunden durch die annähernd gleiche Funktion. Wie selbsttätig kann Schreiben sein? Und was ist gewebeverträglich, macht es straff statt schlaff und führt nicht zu Wucherungen, Verkrampfungen, Knoten und Klumpen? Auch in diesem Bild wird sich Freiheit um Notwendigkeit fädeln, wie beim handwerklichen Weben.

III. Der Eintrag zu Gewebe im »Grimm«, dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, ist sieben eng bedruckte Seiten lang, mit vielen schönen Zitaten zu »Lügengewebe«. Die können Übersetzer:innen getrost überspringen, denn wer würde beim Übersetzen schon lügen wollen?