G
Veröffentlicht am 02.03.22

Gewinn

Das russische Wort für „Gewinn“, das Femininum прибыль (pribyl’), und die Verbform прибыл (pribyl), „er (bzw. etwas maskulinen Geschlechts) kam an“, fließen für Lernende leicht ineinander. Optisch unterscheiden sie sich nur in einem Buchstaben, dem Weichheitszeichen ‚ь‘. Und sie hören sich ähnlich an: Das eine Wort wird auf der ersten Silbe betont, das andere auf der zweiten, das eine auslautende ‚l‘ klingt irgendwie ‚weich‘, das andere nicht. Das ist alles.

Und schon gleicht alles, was ankommt, einem Gewinn. Diese Näherelation ist charmant, erzeugt Abenteuerlust, Größe, und mit ihr setzt das Russische ein gutes Vorzeichen vor die Betrachtung von Übersetzungen: Der neu in einer Sprache eingetroffene Text mag etwas zerzaust sein, vielleicht hat er auf seinem Weg das eine oder andere gehen lassen müssen, hat hier ein Schmuckstück gegen einen neuen Handschuh eingetauscht, sich da eine ihm bis dahin unbekannte Pflanze ins Knopfloch gesteckt – aber jetzt ist er hier, voll mit Erlebtem, bereit beizutragen. Er ist eine Erweiterung. Ein Plus.

Zuwachs! Und wie eigenartig, dass eine von Wachstum besessene Gesellschaft wie die unsrige das literarische Übersetzen – das Ressourcen nicht nur schont, sondern erschafft – bevorzugt unter dem Stichwort ‚Verlust‘ verhandelt. Nur was kann ein Text schon groß verlieren, wenn er sich verdoppelt und nunmehr sich an zwei Orten gleichzeitig aufhalten kann, in seiner Herkunftssprache wie in seiner neuen? Vielleicht speist sich die laute Besorgnis um etwaige Übersetzungseinbußen ja aus einer anderen Frage: „Was hat der hier verloren?“ Hier, wo vielleicht einige seiner besonders faszinierenden Besonderheiten transformiert sind, den anderen sprachlichen Bedingungen entsprechend. Wo mit den gelockerten Verbindungen zum Entstehungskontext auch manche Resonanzbeziehungen ausgedünnt sind – und wo sich unter seiner Einwirkung auf die neuen Kontexte neue bilden werden, womöglich unter Unruhe. Zumal, wenn der Auftritt des Texts nicht ausschließlich unter dem Stichwort ‚gewinnend‘ subsumierbar ist, sondern herausfordert; wenn sein Plus also auch den Puls betrifft. Und wo er den Distinktionsgewinn derjenigen reduziert, die seine Herkunftssprache zusätzlich zur ‚hier‘ dominanten beherrschen. Denn was wäre das schon für ein Gewinn, den ‚alle hier‘ teilen können, den alle sich mitteilen können, der sich im Prinzip bei allen zur gleichen Zeit aufhalten kann? Ein geradezu märchenhaft Wirklicher?

‚Eintreffen‘, ‚eintauschen‘, ‚gehen lassen‘, ‚sich an zwei Orten gleichzeitig aufhalten‘ – die russische Überblendung von ankommen und Gewinn ermuntert dazu, den übersetzten Text als Akteur zu entwerfen. Mir sind dabei diejenigen, die all die genannten Bewegungen überhaupt erst in Gang bringen, aus dem Bild gerutscht: die Übersetzer:innen. Sie beginnen ihre Tätigkeit dann – so will ich es mir wenigstens vorstellen –, wenn sie vermuten, dass der zu transportierende Text ein gewinnbringender Begleiter sein wird. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass die verschiedenen Gewinntypen sich an diesem Punkt nur selten überlagern: Entweder der Gewinn für die Übersetzer:in ist gedanklich (im weitesten Sinn), dann kommt er oft ohne materielles Äquivalent. Oder es ist umgekehrt, und dem materiellen Gewinn entspricht kein gedanklicher. Letzteres wirkt, in seinem vergleichsweise armen Verständnis von Gewinn, wie ein Sonderfall, den das Begriffspaar ‚übersetzen‘ und ‚Gewinn‘ nur am Rande streift. Mit der vom Russischen angestoßenen Belebtheitsmetapher nämlich lassen sich Texte, die keinen gedanklichen Gewinn erzeugen – also weder gedankliches Eigenleben mitbringen, noch bei Kontakt gedankliche Bewegung vermitteln – als eigentlich tote Texte begreifen. Als ‚tote Seelen‘ vielleicht, im Gogol’schen Sinn. Während das Kerngeschäft des Übersetzens sichtbar wird als diffiziler Lebendtransport: den Ausgangstext auf seinen besonderen Elan hin abhorchen, das Eigenleben der Übersetzer:in begleitend fortsetzen, im Ankunftstext vergleichbare Vitalität anzetteln. Eins aus dem Blick verloren, schon verschwinden alle Gewinnchancen, die der Rede wert wären.