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Veröffentlicht am 26.12.21

Kinderbuch

Übersetzen hat für mich vor allem mit Einfühlung zu tun, ohne sie hilft mir Sprachkompetenz wenig, und auch als Motor ist das Einfühlenwollen wichtig für mich: Es ist die Energie, die mich beim Übersetzen vorantreibt und mir hilft, passende Worte und Wortkombinationen und stimmige Satzbauten und Rhythmen zu finden. Dem Ausgangstext liegt als Glutkern ja eine menschliche Erfahrung zugrunde, die ich nachempfinden können muss, will ich meiner Aufgabe gerecht werden. Und beim Anwerfen meines „Einfühlungsmotors“ schätze ich es, wenn ich in vielfältige Erfahrungen und unterschiedliche Sprachrollen schlüpfen darf: An finnischen Kinder- und Jugendbüchern mag ich die Unmittelbarkeit und den Mut zu Anarchischem und Phantastischem.

Als ich mein erstes Buch für jüngere Leser übersetzte, war ich aufgeregt. Würde ich die Welt von Sechzehnjährigen wiedergeben können? Um mich an diese spezielle Kombination aus Sensibilität und Aufbruchssehnsucht zurückzuerinnern, habe ich alte Tagebücher gelesen. Auch wenn die Teenager im Buch in einem anderen Jahrzehnt leben – jung sein, wenig zu wissen, aber viel zu wollen und zu fühlen hat etwas Universelles. Ich erwarte von mir, dass ich es ehrlich meine und nicht auf Routinen zurückgreife – gerade auch bei Kinder- und Jugendbüchern. Wenn ich die Unmittelbarkeit des Textes nicht wiedergebe, bin ich womöglich schuld, wenn ein Kind, das es doch mal mit einem Buch probiert, nach drei Seiten wieder aussteigt. Vielleicht überschätze ich unsere Rolle, aber so ganz dann hoffentlich doch nicht: Kinder- und Jugendbücher stiften die ersten Leseerlebnisse, wenn diese nicht zünden, wird auch im späteren Leben wenig gelesen. Gerade bei Kinderbilderbüchern mit nur zwei Sätzen pro Seite lese ich mir diese oft vor, damit ich sicher sein kann, dass sie gut im Mund sitzen und schön klingen. Denn sie werden ja auch von den Eltern laut vorgelesen. Das ist ein bisschen wie Musik, die melodisch sein soll.

Beim Punkt Vokabular bin ich gegen ein Angenehmmachen: Kinder wollen und sollen Neues lernen und ihren Wortschatz erweitern; oft schnappen sie ungewohnte Ausdrücke begeistert auf und verwenden diese dann selbst. Außerdem ist es schön, wenn das Vorlesepersonal freundlich innehält und fragt: „Was wohl dieses Wort bedeutet, was meinst du?“ und man sich zusammen zur Lösung hindenkt. Auch ich bin beim Vokabular manchmal gefordert, mich zur Lösung hinzudenken: Kinderbücher halten immer wieder erfundene Wörter bereit. Wenn ich diese Stellen mit frischem Geist angehe, macht es riesigen Spaß und ist wie das I-Tüpfelchen, oder mehr noch: einmal Sprachgöttin spielen!

Bei Realia helfe ich in der Kinderliteratur tendenziell mehr als bei Erwachsenen; ich will nicht, dass die jungen Leser:innen an Stellen ins Schwimmen geraten, an denen finnische Kinder alles verstehen. Witze muss ich manchmal anders aufzäumen, damit Lachpotential auch an deutschen Bettkanten gegeben ist. Und Namen, die hierzulande nichtintendierte alberne Assoziationen wecken, können in Rücksprache mit der Autorin geändert werden.

Dass der tolle Deutschunterricht mit dem Erkunden von Jambus, Trochäus und Daktylus sowie rhythmusschulendes Chorsingen mir zugutekommen, wurde mir erst kürzlich bewusst: Ich muss auch immer wieder reimen. Zugegeben, das Internet mit seinen Reimdatenbanken hilft mitunter beim letzten Wort im Vers, aber die Kontrolle über einen flüssigen Gesamtablauf von Hebungen und Senkungen kann das Netz mir zum Glück nicht abnehmen.

Wer also denkt, man übersetzt Kinderbücher ratzfatz runter, täuscht sich. Auch bei der Recherche kann es aufwändiger werden. Ich habe mich schon mit Kriminalpolizisten getroffen, um bei einem Jugendkrimi keinen Quatsch zu schreiben, und für ein witziges Berufe-Kinderbuch mit Schreinern telefoniert, um die Bezeichnung bestimmter Lineale und Sägen zu erfahren, und Kataloge für Bäckereimaschinen durchstöbert. Von meinem aufregenden Besuch auf der Kreuzberger Feuerwache und der Führung durch den Feuerwehrwagen werde ich sicher noch im Ruhestand erzählen.

Kinderliteratur zu übersetzen gibt mir viel zurück. Und es nährt die Feinfühligkeit und Lebendigkeit.

Viel Spaß also allen, die sich dieser befriedigenden Aufgabe annehmen!