Kongenialität
Genial? Kongenial!
Jede Lektüre bietet die Möglichkeit, entweder dem Text gerecht werden zu wollen (zu versuchen, seine spezifischen Strukturen, Stilentscheidungen zu verstehen und der inneren Dynamik zu folgen) – oder den je eigenen Assoziationen nachzugehen (sich inspirieren zu lassen, persönliche und aktuelle Bezüge herzustellen, dasjenige herauszuziehen, mit dem man im doppelten Sinn „etwas anfangen kann“ etc.).
Textgerechtigkeit beharrt darauf, dass die (guten) Texte uns etwas zu sagen haben, etwas vermitteln können und mehr sind als Projektionsflächen. Die freie Auslegung, ein aneignungsorientiertes Lesen wiederum verweist darauf, dass ohne die LeserInnen der Text gar nicht „realisiert“, ja, gar nicht existieren würde. Ossip Mandelstam hat einmal zugespitzt formuliert, dass die großen Dichter der Antike wie Ovid erst noch geschrieben werden müssten. Das Literaturverständnis, das solch einer Forderung zugrunde liegt, will keine platte Modernisierung der Klassiker, gibt aber einer Vergegenwärtigung, einem „Akut“ den Vorrang gegenüber historisch korrekten Lesarten, die ja doch immer den Makel zeitgenössischer Projektion trügen. Aus dem einfachen Grund, dass Sprache implikationsreich ist und an jeder Ecke Tausende von Abzweigungen warten, schreiben sich Texte immerzu in neuen Texten und Übersetzungen fort.
Textauslegung ist die Basis jeden Übersetzens, sie grundiert alle Spielarten der Übersetzungstheorie und -praxis. Ob sich die Übersetzung am Leser und der Leserin oder an einer „historischen Wahrheit“ des Textes zu orientieren habe, ist dabei Thema vieler Erörterungen, wenn auch die Begriffe variieren und sich ähnelnde Dichothomien in diversen Variationen wiederkehren. Obwohl in den letzten Jahrzehnten alle möglichen Aneignungspoetiken des Übersetzens im Schwange waren (von Peter Waterhouse bis Ulrike Draesner) und die eigenwillige Übersetzung fast schon Standard geworden ist, bleibt der Rechtfertigungsdruck, die Differenz zum Original zu begründen, beim Übersetzen doch besonders groß.
Freie Übersetzungen wurden dabei lange Zeit durch den ominösen „Geist“ oder die vermeintliche Intention des Autors begründet. Inzwischen verweist man nicht mehr auf irgendeine „Essenz“ des Ursprungstextes, sondern tritt die Flucht nach vorn an und verteidigt gleich grundsätzlich alle auftretenden „Missverständnisse“, Vieldeutigkeiten und lässt im Anschluss an die „Dekonstruktion“ (wie wir sie bei z.B. bei Derrida finden) verborgene Kontexte und „Spuren“ in der Übersetzung hervortreten.
Natürlich gibt es auch (noch und wieder) Übersetzungen, die eine große Nähe zum Original suchen und diese meist über eine Wörtlichkeit herzustellen suchen, ein Begriff, an dem sich einige Debatten entzündeten. Diese Übersetzungen bleiben, bei allen Konjunkturen, denen sie unterliegen, eine Konstante in der Übersetzungsgeschichte.
Eine wie auch immer geartete Wörtlichkeit und eine freie Auslegung sind allerdings dialektisch aufeinander angewiesen. So wie keine Textgerechtigkeit ohne einen belebenden, erneuernden Impuls sein kann, muss sich jede künstlerische Freiheit der Übersetzung zuletzt auf das Magnet-Monument „Original“ rückbeziehen lassen.
Dem schönen Wörtchen kongenial sind diese begrifflichen Verwicklungen eingeschrieben.
Genialität verstand sich immer als ursprünglich, wie aus dem Nichts kommend, nicht ganz frei von Einfluss, aber doch beseelt vom göttlichen, unvorhergesehenen Einfall. Die kleine Vorsilbe „kon“ im Wort „kongenial“ nobilitiert Mimesis an ein solches „Originalgenie“. „Kongenial“ scheint sagen zu wollen, dass man es zwar mit viel Anstrengung in die eigentlich unerreichbaren Sphären des Originaltextes schaffen kann, aber immer in seinem Schatten stehen wird. Im postmodernen Kontext der Kritik des Ursprungsdenkens und der Erkenntnis, dass Textverstehen immerzu Differenz zeitigt (ganz abgesehen davon, dass die Rede vom Genie womöglich einem sehr pathetisch aufgeladenen, „männlichen“ Ideal frönt), ist es an der Zeit, diese Hierarchie aufzulösen und dem Kongenialen (Übersetzen) einen lebendigen und gleichberechtigten Austausch mit dem sogenannten Original zu ermöglichen.
Kongenial übersetzen hieße dann, nicht nur je „nachahmend“ oder „abweichend“ den Demiurgen zu mimen, sondern auch aufzunehmen, aufzusaugen, ja sich im Anderen zu verlieren, um aus ihm über ihn hinaus aufzusteigen. So verstanden würde der Begriff „kongenial“ neue Kraft gewinnen und in ihm träte eine adäquatere, heutige Haltung zutage: ein „bipolares“ Sprechen, das ein Sich-Auflösen befeuerte, in dem Textgerechtigkeit und Aneignung eine Synthese bilden. Das Fremde wird inkorporiert, beseelt und treibt Neues aus uns heraus, wirbelt Blätter und Buchstaben hoch hinauf in ungeahnte Höhen.