Kontrastivik
„Bin ich zu frei?“, heißt eine der klassischen Fragen, die man sich, vor allem am Anfang, beim Literaturübersetzen immer wieder stellt – und schon bekommt die gute Idee, die uns die Intuition für eine Textstelle gerade geliefert hat, einen Knacks. Was, wenn wir argumentieren könnten, uns selbst gegenüber genauso wie der Lektorin, dass unsere Ausgangssprache an der Stelle nun mal anders tickt als die deutsche, und es die freiere Formulierung deshalb braucht?
Die spinnen, die Römer! Nicht auszudenken, wenn Gudrun Penndorf uns mit einem Die sind verrückt, diese Römer oder Ähnlichem für Ils sont fous, ces romains! abgespeist hätte. Obelix wäre nicht halb so lustig, seine verwundert- kopfschüttelnde Haltung käme nicht so herrlich zum Tragen, die pointierte stilistische Wirkung des Originals wäre verschenkt.
Im Französischen wie auch im Englischen (und sicher vielen anderen Sprachen – ich kenne mich nur mit der englischen aus) wird das Prädikat oft aus einem Leerverb (ist, hat) oder relativ fablosen Verb (macht, gibt, tut) und einem Substantiv oder Adjektiv gebildet, und während wir das auf Deutsch durchaus genauso tun können, so tun wir es doch seltener, weil wir einfach sehr viel mehr aussagekräftige Vollverben haben! Das hat hochinteressante sprachgeschichtliche Gründe: Da im Englischen die alten Wortbildungselemente abgestorben sind, werden dort seit ca. 1000 Jahren neue Wörter hauptsächlich als Wortverband gebildet, bei den Verben z.B. nach dem Muster give a look, go crazy, do in, die deutsche Literatursprache dagegen lebt, malt, befeuert, wirkt geradezu über anschauliche Verben:
I said nothing.
Ich schwieg.
Kenny is a bit odd with me on the phone.
Als ich Kenny anrufe, druckst er herum. (Moran/Rawlinson)
A parent is always scared of being an imposition, to say nothing of a bore.
Eltern haben immer Angst, sich aufzudrängen oder, noch schlimmer, als Langweiler dazustehen. (Aciman/Brovot)
Auch für die wirkungsäquivalente Wiedergabe einer ironischen Haltung taugen auf Deutsch oft besonders die Verben:
There was, admittedly, a mild sensation of being a bystander to life. But it was America. Everybody was a bystander.
Manchmal wehte ihn, das musste er zugeben, der Hauch des Gefühls an, im Leben nur ein Zuschauer zu sein. Aber in Amerika – da war jeder ein Zuschauer. (Ford/Heibert)
Zwischen dem englischen und dem deutschen Sprachsystem gibt es eine Handvoll für uns relevanter Unterschiede, aus denen oft unmittelbar Verfahren folgen, wie man potenziell auf eine gute Lösung kommt. Wenn man sich kontrastive Analysen mit Beispielsammlungen anschaut, schult sich das Sprachgefühl für beide Sprachen, man bekommt immer mehr ein kontrastives Sprachgefühl, man lernt die Ausgangssprache besser einzuschätzen („Ist das ein Stilmittel oder einfach eine typisch englische Struktur?“) und bekommt so auch ein besseres Stilgefühl für sie.
In einer Übersetzung dann „typisch Deutsch“ zu formulieren, heißt übrigens keineswegs, „konventionell“ zu formulieren. Kontrastive Kompetenz heißt vielmehr zu erkennen, wie konventionell, originell oder experimentell der Ausgangstext an jeder Stelle genau ist und welche Mittel die deutsche Sprache hat, um entsprechend konventionell, originell oder experimentell nachzuschreiben – frei, aber nicht unmotiviert frei.
Kontrastive Literaturtipps:
– Lisa Mensing, Lut Missine: Wege nach Transatlantis. Leitfaden für Übersetzer: Niederländisch-Deutsch, Münster 2020.
– Holger Siever: Übersetzen Spanisch-Deutsch, Tübingen 2013.
– Judith Macheiner: Übersetzen. Ein Vademecum, München 2004 (TB).
– Karin Königs: Übersetzen Englisch-Deutsch, Tübingen 2021 (4. überarbeitete Auflage).
– Michael Schreiber: Grundlagen der Übersetzungswissenschaft. Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 2006.