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Veröffentlicht am 26.12.21

Lesen & Lesung

Wenn ich als kleiner Junge von Tanten oder Onkeln gefragt wurde, was ich denn einmal werden wolle, habe ich nie mit der Antwort gezögert, krähte selbstgewiss „Leser!“ und wunderte mich nur über das oft ein wenig nachsichtige Lächeln der Erwachsenen. Wäre doch erst die lästige Schule für immer vorbei, dann wollte ich mich von morgens bis abends in fremden Welten verlieren. Dabei hat mich nie interessiert, warum irgendwer dafür aufkommen sollte, dass ich mit Winnetou über die Prärien ritt oder mich als Sechster den Fünf Freunden anschloss. Ich wusste nur, das war mein größter Wunsch, und einsehen zu müssen, dass es keinen Beruf gab, der ihm vollends entsprach, bedeutete eine bis heute nicht gänzlich überwundene Enttäuschung. Mönch zu werden schien mir später eine akzeptable Alternative zu sein. Waren die Jesuiten nicht für ihre Belesenheit berühmt? Also malte ich mir aus, Tag für Tag in einer Bibliothek zu leben, bis mit zunehmendem Alter erste Zweifel aufkamen und neue Wünsche sich meldeten. Dass ich schließlich Übersetzer wurde, ist das Resultat vieler Entscheidungen, aber nicht erst seit dem Tag, an dem ich, die Hoffnungen meiner Eltern enttäuschend, nicht Zahnmedizin, sondern Germanistik studierte, habe ich an allen Kreuzungen stets den Weg gewählt, der in Richtung Bücher führte. Wohl kein anderer Beruf entspricht so sehr meinem kindlichen Wunsch, denn Übersetzer sind vor allem Leser, präzise, übergenaue Leser. Sie lassen die Welt des Originals in ihrem Kopf entstehen und schaffen in ihrer Sprache ein Duplikat, einen originalgetreuen Nachbau. Sie lesen überdies auch ständig im ursprünglichen Sinne des Zusammentragens, des Sammelns und Sortierens, sie mehren und verfeinern ihre Wortwahl mit jeder Lektüre, unablässig verlockt von der Sehnsucht, das ursprüngliche Leseerlebnis wiederzubeleben und ins heißohrige Versunkensein zurückzufinden.

Spätestens seit der Pubertät muss die Einsamkeit der Lektüre für mich um die Nähe des oder der Anderen ergänzt werden, eine Ergänzung, die mir einige Jahre lang die Politik zu versprechen schien. Ich wurde Mitherausgeber einer Zeitung, später sogar Bürgermeister, eines Abends dann, bei einer nicht-öffentlichen Sitzung – sagen wir, zur Straßenausbaubeitragssatzung – habe ich mich gefragt, ob sich das Verlangen nach Geselligkeit nicht mit Themen befriedigen ließe, die mir näher lagen. Und so fand sich zum Standbein des Übersetzens das Spielbein des Moderierens. Seither wird die monatelange, eremitenhafte Arbeit an einem Buch in unregelmäßigen Abständen von öffentlichen Lesungen unterbrochen. Lesen und Lesungen sind für mich eine lebensnotwendige Symbiose eingegangen. Nach langer Einsamkeit am Schreibtisch freue ich mich auf die öffentliche Lesung, auf Gespräche mit Autoren, auf Abende im Kreis lesehungriger Gleichgesinnter, doch oft sehne ich mich schon auf der Bühne wieder nach der solitären Ruhe am Schreibtisch, danach, wieder zu übersetzen, zu lesen.