Mehrsprachigkeit
M wie Mehrsprachigkeit, Mediterran, Mut und Wurzeln
Wenn ich über Mehrsprachigkeit nachdenke, denkt mein Körper an das Meer, an den Mediterran, genauer gesagt. Die Grenzen des Mediterrans (das Wort ist mir lieber als Mittelmeer) lassen sich weder räumlich noch zeitlich festlegen, so schreibt es Predrag Matvejević in seinem Mediteranski brevijar (1987; dt. Der Mediterran. Raum und Zeit des Mittelmeerraums, 1993), in dem er eindrücklich die sprachliche und kulturelle Vielfalt der mediterranen Welt schildert. Eine Vielfalt, die Kontakt, Austausch, Verwirrung und Konflikt bedeutet. Oft ist das alles an einem und demselben Ort zu spüren. In meiner Herkunftsstadt zum Beispiel, die ich mal Rijeka mal Fiume nennen kann und in der Wörter mal slavisch, mal italienisch, mal deutsch, ungarisch oder türkisch klingen. Oder im Kochbuch meiner Mutter, in dem sich Deutsch, Italienisch und Serbokroatisch miteinander vermischen, manchmal mehr manchmal weniger schaumig. Sprachzutaten der Urgroßmutter, der Großmutter und der Mutter. Translanguaging in kleinem Format.
Für meinen Vater, der mich gelehrt hat, dass Wurzeln mehrsprachig sind, so lautet die Widmung, mit der Zafer Şenocak seinen tiefgreifenden Essay Deutschsein (2011), in dem er über Zugehörigkeit und Identitätskonzepte nachdenkt, eröffnet. Die Widmung hat mich sehr berührt, als ich sie zum ersten Mal gelesen habe, erst mit der Zeit und auch durch das Übersetzen dieses Buches ins Italienische (2017) habe ich den Grund für die Rührung besser begreifen können. Das Bewusstsein, dass Wurzeln mehrsprachig sind, verdanke ich meiner Familie, dem Mediterran und der Übersetzung.
Mehrsprachigkeit, verstanden als Zusammenspiel von mehreren Sprachen und Sprachvarietäten, ist in den letzten Jahrzehnten als Forschungsgegenstand in aller Munde. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird dabei das „Paradigma der Einsprachigkeit“ (Yildiz 2012) kritisch hinterfragt; die Begriffe von Mutter- und Fremdsprache sowie sprachliche Hierarchien und Kompetenzstufen werden in Frage gestellt. Jacques Derrida hat mit seinen sprachphilosophischen Überlegungen zur Ein- bzw. Mehrsprachigkeit einen besonders fruchtbaren Boden dafür geschaffen (vgl. Derrida 1996). Für den in Frankreich lebenden und auf Französisch schreibenden Intellektuellen, der in Algerien als Kind arabisch-jüdischer Eltern geboren worden war, wurzelt(e) das Leben nur in Mehrsprachigkeit.
Inwieweit betrifft Mehrsprachigkeit die Literaturübersetzerwelt? Wann ist Literatur mehrsprachig? Oder müsste man die Frage doch anders stellen: Kann sie überhaupt einsprachig sein? Interessanterweise wird literarische Mehrsprachigkeit vor allem dann zum Thema, wenn sie Texte betrifft, die von mehrsprachigen Autor·innen stammen, die nicht (oder nicht nur) in ihrer erst erworbenen Sprache schreiben. Vielleicht sagt uns das doch einiges über unsere Wahrnehmung von sprachlicher Zugehörigkeit und über unseren Umgang mit Grenzen zwischen Sprachen.
Die Übersetzenden stellt literarische Mehrsprachigkeit vor alte Fragestellungen und neue Herausforderungen. Die alte Frage ist die nach dem Grad der Fremdheit, den man im übersetzten Text zulässt. Die Antwort ist auch bzw. vor allem Ausdruck bestimmter kultureller Traditionen und Übersetzungskulturen, zu denen auch Übersetzende sowie Verlagslektor·innen gehören, und die gerade im Umgang mit textueller Mehrsprachigkeit besonders stark sein mögen. Neulich erinnerte mich in einem Seminar zu Mehrsprachigkeit und Übersetzung eine Teilnehmerin daran, dass es sprachpolitische Räume gibt, in denen eine Fremdsprache, die Sprache des Anderen, gar nicht vorkommen darf.
Die übersetzerischen Entscheidungen hängen sehr davon ab, welche Formen die Sprachmischung innerhalb des literarischen Textes einnimmt und welche Funktionen sie hat. Es sind vor allem die nicht offensichtlichen oder gar versteckten Formen von Mehrsprachigkeit, die Spielräume für Übersetzende eröffnen. Zafer Şenocak beschreibt im erwähnten Buch die Ankunft in Deutschland und in der deutschen Sprache aus der Sicht eines Kindes, das zum ersten Mal das Wort Nachtruhe hört und erst mit der Zeit versteht, dass es alles andere bedeutet, als dass die Nacht ruhig sei. Ein deutsches Wort wird in einem deutschsprachigen Text zugleich zu einem Fremdwort und zu einem fremden Wort, das auf türkisch nur paraphrasiert werden kann „Geceye benzemek, gece gürültü yapmamak […] Der Nacht ähnlich werden. So ruhig wie die Nacht sein.“ (S. 11). So finden Übersetzungsprozesse bereits im Text statt, die dann, auf dem Weg zu einer anderen Sprache, fortgesetzt werden: „Essere simili alla notte. Silenziosi come la notte.“ (S. 4) Die Sprachen öffnen sich und kommen miteinander ins Gespräch.
Um dieses Gespräch übersetzend zuzulassen, bedarf es manchmal auch neuer Spielregeln. Von Spielregeln ist viel die Rede im neulich erschienen, von McMurtry, Siller und Vlasta kurierten Sammelband Mehrsprachigkeit in der Literatur: Das probeweise Einführen neuer Spielregeln (2023), der sich mehrsprachigen Phänomenen in der moderneren deutschsprachigen Literatur widmet. „Durch ihr teils radikal experimentelles Umgehen mit Sprachregeln und -konventionen kritisieren multilinguale Texte bestehende Formen und fordern das Hinterfragen von Formen heraus.“, heißt es in der Einleitung (S.13). Umso mehr gilt das für deren Übersetzung, insbesondere dann, wenn in eine Sprache übersetzt wird, die bereits an der Sprachvermischung des Ausgangstextes teilnimmt. Neue Spielregeln braucht man dazu, und manchmal auch Mut.
Mir fällt kein besseres Beispiel für einen radikalen und mutigen Umgang mit Mehrsprachigkeit ein als Tomer Gardis Roman Broken German (2016), in dem Grenzen in der Sprache und zwischen Sprachen sowie zwischen fiktionalen Ebenen aufgehoben werden und miteinander verschmelzen. „Meine Muttersprache ist nicht die Muttersprache meiner Mutter. Die Muttersprache meiner Mutter ist nicht die Muttersprache ihre Mutter. Die Muttersprache ihre Mutter ist nicht die Muttersprache und so weiter. Und so viel viel weiter. Wir sind babylonisch.“ (S. 91), heißt es an einer Stelle des Romans, die einer Ausgrabungs-Szenarie ähnelt, auf der vergeblichen Suche nach einsprachigen Wurzeln. Und in der Tat spielt das Ausgraben eine Rolle im Text, da der Erzähler (oder einer der) im Unterirdischen den Ton sucht. Im Unterirdischen vermischen sich nämlich die Töne, Klänge der Sprachen und der Erde: „Ich schreibe die Töne und lasse sie frei in dem Raum. Deutschsprachige. Ein offentliche Raum ist die Sprache. Und ich lasse die Töne frei in den Raum und höre die wieder und weiss wo ich bin und wo kann ich dann hingehen.“ (S. 109). „Der Turmbau zu Babel war ein Ablenkungsmanöver.” (S. 92)
Broken German hat es schwer in anderen Sprachen publiziert zu werden, was sehr wahrscheinlich an der vermeintlichen Unübersetzbarkeit seiner Mehrsprachigkeit liegt. Und dabei ruft das Buch gerade dazu auf, übersetzt zu werden und die Geste des Brechens auch in anderen Sprachen fortzusetzen. Ich hatte neulich das Glück und die Ehre, den Entstehungsprozess der italienischen Fassung zu begleiten. Angefertigt wurde sie von Daniele Vernillo, einem sehr mutigen jungen Übersetzenden, der sich den Spielregeln des Textes ausgesetzt hat und sie im Italienischen weiterführt, indem er sich auf „an existential and bodily encounter with text […] the materiality of language, or rather of language-making“ einlässt: So würde das Clive Scott (2012, xi) ausdrücken, der in seinen übersetzungstheoretischen Reflexionen das literarische Übersetzen „as a multilingual and multi-sensory translation rather than a bilingual and linguistic one“ auffasst (Scott 2012: 20). Die italienische Übersetzung von Broken German ist noch nicht erschienen, aber wir sind auf der Suche nach einem Verlag. Kein leichtes Unterfangen. Auch Tomer Gardi hat es nicht leicht gehabt, einen Raum für sein Broken German zu finden. Mehrsprachige Texte brauchen mutige Verlage. „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ wird gesellschaftlich oft nur teilweise oder kaum erkannt, so wie das Olga Grjasnowa im gleichnamigen Essay beschreibt (2021).
Auch die individuelle Mehrsprachigkeit von Übersetzenden ist übrigens ein sehr spannendes Thema: Aus welcher Sprache/welchen Sprachen in welche Sprache/n übersetzen sie? Wie erfolgt diese Entscheidung? Ist es eine bewusste Entscheidung? Gönnt man den literarischen Übersetzer·innen die „andere Richtung“, die aus der vermeintlichen Erstsprache in eine andere später oder anders erworbene Sprache? Auch dazu gibt es Studien, die vor allem auf die Qualität der übersetzten Texte fokussieren. Als müsste man diese Übersetzenden quasi bei einem Interferenzfehler ertappen, der doch die sichere Grundlage einer vermeintlich einzigen Muttersprache beweist. Was wissen wir aber über ihre Sprachbiographien, über ihre Töne?
Mehrsprachige Wurzeln brauchen Weite. Wie die des Mediterrans. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Buchstabe M auf den Kopf gestellt zu W wird, und andersrum.
Lesehinweise
Derrida, Jacques (1996): Le monolinguisme de l’autre, Paris, Éditions Galilée (dt. Ausgabe: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. Aus dem Französischen von Michael Wetzel, München, Fink).
Gardi, Tomer (2016): Broken German. Graz, Droschl 2016.
Grjasnowa, Olga (2021): Die Macht der Mehrsprachigkeit. Über Herkunft und Vielfalt. Berlin, Dudenverlag.
Matvejević, Predrag (1987): Mediteranski brevijar. Zagreb, V.B.Z. (dt. Ausgabe: Der Mediterran. Raum und Zeit des Mittelmeerraums. Aus dem Kroatischen von Katja Sturm-Schnabl. Zürich, Ammann 1993).
McMurtry, Aine/ Siller, Barbara/ Vlasta, Sandra (Hrsg.) (2023): Mehrsprachigkeit in der Literatur: Das probeweise Einführen neuer Spielregeln. Tübingen, Narr Francke Attempto Verlag.
Scott, Clive (2012): Translating the Perception of Text: Literary Translation and Phenomenology. London, Routledge.
Şenocak, Zafer (2011): Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Hamburg, edition Körber-Stiftung 2011 (it. Ausgabe: Essere tedeschi. Qualche pensiero chiarificatore. Trad. di Barbara Ivančić, Sestri Levante, Oltre 2017).
Yildiz, Yasemin (2012): Beyond the Mother Tongue: The postmonolingual Condition. New York, Fordham University Press.