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Veröffentlicht am 07.01.22

Metrik

„Sleep is a station / Life is a train“, heißt es in einem Song der britischen Band The Waterboys, neun Silben, mit denen die bis ins frühe Mittelalter zurückreichende englische Versmaßüberlieferung fortgeführt wird. Die Poesie der Erde ist nie tot. Für diese alle Zeit durchklingende Musik fand Keats in einer Sonnet Competition mit Shelley eine bleibende Zeile, zehnsilbig, einen jambischen Pentameter: „The poetry of earth is never dead“.

Im Textfeld des Gedichts erhält und bewahrt jedes eingesetzte Element Bedeutung, Semantisches ebenso wie Klangliches, Grafisches genauso wie Zeichensetzung und Rechtschreibung. Dasselbe gilt für die drei sprachmusikalischen Ordnungsfaktoren Rhythmus, Reim, Metrum – wobei Silbenassonanz und Versmaß im zeitgenössischen Gedicht nur mehr latente Klangprinzipien darstellen, erklärte doch die Revolution des vers libre den syntaktischen Rhythmus zum vorherrschenden lyrischen Ausdrucksmittel. Die Wucht des Bruchs mit der Jahrtausende alten Konvention, metrisch und gereimt zu dichten, zumindest aber in Jamben, Alexandrinern, Hexametern, verdeutlichen u. a. die Dichtungen Whitmans, Rimbauds und Trakls. Dickinson zergliedert das Metrum durch Gedankenstriche, Lasker-Schüler führt es ad absurdum. Dagegen versucht Rilke wie später Pound gerade in klassischen, antiken Formen das Verlorengeglaubte zu restituieren.

Die metrischen Fundamente des Gedichts zerbröckelten über viele Jahrhunderte hinweg. Klopstock und Hölderlin verwendeten noch hochkomplexe griechische Versfüße, die einem heutigen Ohr verborgen bleiben und nur rätselhaft klingen. Goethe, Schiller, selbst Novalis – metrische Banausen. Wer schriebe heute noch Daktylen oder Anapäste, und wozu? Auch der wundersame Spondeus, den zwei unbetonte Silben ergeben und der somit eine Art Klangschatten, ein Innehalten, eine Ruhezone im Gerenne von Jamben und Trochäen bildet, ist nur mehr für die Verslehrefibel von Belang, unterhaltsam höchstens für Adepten der Literaturhistorie.

Ein Weg entsteht, wenn man ihn geht. You cannot have your cake and eat it, too. Sprichwörter sind in vielen Sprachen zumeist metrisch. Der Jambus prägt ein, ist Klangbild vom Herzschlag, Schrittrhythmus, Ticktack der verstreichenden Sekunden. Was wirklich verloren ging, sind nicht die Unterschiede und Takte der Metren, sondern ihre Bedeutungen, ihr Widerspiegeln des Alltags zu dieser oder jener Zeit, ihre Möglichkeiten zur poetischen Darstellung und Überlieferung exemplarischer Erlebnisse.

Jambus und Trochäus verklanglichen das Yin und Yang vom Werden und Vergehen. Jambisch: Ich werde. Trochäisch: Ich muss sterben. Steigen und Fallen, verdichtet zum Pulsen. Am Schluss von „King Lear“ verdeutlicht Shakespeare auch durch die Umkehr des Metrums – „Never, never, never, never, never!“ stellt einen fünfhebigen Trochäus am Ende eines strikt jambischen Versgefüges dar –, wie tödlich getroffen Lear vom Mord an seiner Tochter Cordelia ist: „Was hat der Hund, das Pferd, die Ratte Leben / Und du nicht einen Hauch? Du kommst nie wieder, / Niemals, niemals, niemals, niemals, niemals!“

Keats’ „immortal bird“ aus der „Ode to a Nightingale“ setzt sich aus zwei Jamben zusammen – wobei dem abschließenden die Ausklangsilbe fehlt. Im Deutschen wäre dieser „unsterbliche Vogel“ ein metrisches Ungetüm, zumal ein sprechender Reim („bird“ / „heard“) auf „Vogel“ nicht existiert. „Thou wast not born for death, immortal bird!“ – wie leicht, wie tief das klingt, ein dem Vogel, der Welt abgelauschter Singsang. Übersetzung wird hier zur Nachdichtung und erweist sich einmal mehr als eigene Kunst.

„Schlaf ist ein Bahnhof / Leben ein Zug“ – die Zeilen der Waterboys lassen sich jambisch oder daktylisch lesen. Die Lesart der Partitur hängt vom Dargestellten ab. Ohne metrische Parameter meidet ein Gedicht zwar Silbenstruktur und Versmaß, setzt jedoch auf eine Anti-Metrik und fordert dazu auf, den freien Vers abzugleichen mit dem antizipierten in metrischer Form. Der Vers ist Versmaß, frei ist nur der Satz.