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Veröffentlicht am 26.12.21

Palimpsest

Randnotizen zum Palimpsest

Es ist wie mit den frühen christlichen Kirchenbauten: Wo eine antike Kultstätte war, musste das Christentum seine Kreuze aufstellen, um die oftmals unter Terror bekehrten Schäfchen möglichst unter einem Dach und in einem Raum versammeln zu können, die davor anderen Kulthandlungen gedient hatten.

Die Mönche des Mittelalters kratzten und schabten die Schrift von den antiken Pergamenten, um ihre Gesänge und Heiligenlegenden darauf niederzuschreiben. Was sie damit tilgten, waren oftmals Texte, deren wissenschaftlicher Gehalt im „Christlichen Abendland“ erst nach fast zweitausend Jahren wieder eingeholt werden konnte. Einer von vielen Skandalen in der Kulturgeschichte der Menschheit, bei denen unsere scheinheiligen Bischöfe und Kardinäle und Päpste ihre Finger mit im Spiel hatten.

Was aber heißt dies heute für das Übersetzen, nachdem eine schier überwältigende literarische, philosophische und psychologische Theorienflut sich an dieser Praxis des Abschabens, Überschreibens, Tilgens und Hervorhebens aus der Versunkenheit abgearbeitet und mit Bildern und Metaphern ausstaffiert hat? Ist das Palimpsest zum zeitgeistigen Modeaccessoire der Intellektuellen, oder jener Hochstapler geworden, die gerne für Intellektuelle gehalten werden möchten? Noch hat sich kein Minister mit Plagiator-Vergangenheit und keine des geistigen Diebstahls überführte Bürgermeisterin darauf berufen, Palimpseste angefertigt zu haben. Sie hatten nur das selbständige Denken unterlassen und sich über die Form, in der sie das Fremdgedachte zu Papier brachten, nicht weiter gekümmert. Gestikulationen unbesonnener Macht. Wo aber beim Übersetzen Macht ins Spiel kommt, sind Blamage und Lächerlichkeit nicht weit entfernt.

Als Übersetzer könnte ich es auf den Textoberflächen und in den Untiefen der Texte mit den weiter oben benannten Palimpsest-Theorien zu tun bekommen, wenn ich bei der konkreten Arbeit (Text in Sprache A muss Text in Sprache B werden) mich ablenken ließe, mir einen Stapel Karteikarten neben das Notebook legen oder darauf eine Datei einrichten würde, worauf und worin ich unter dem Stichwort Palimpsest notieren könnte, was mir gerade an dieser Textstelle zwischen den Sprachen –ich bin nicht mehr bei der Ausgangssprache und bin auch noch nicht in der Zielsprache – alles einfällt. Was vielleicht nur mir einfallen kann, weil ich diese Biographie habe mit all ihren speziellen Auskragungen, Idiosynkrasien, Vorlieben und dem verkauderwelschten Pallawatsch meiner Dialekte.

Wie viele Vorgänge, die sich mühelos unter das Stichwort Palimpsest einordnen lassen, kann eine normale Biographie fassen? Wäre nicht als größtmöglicher Gewinn die Tatsache zu verzeichnen, dass jede sich schreibend äußernde Person sich ihrer eigenen Sprache bediente, die selbstverständlich auf ganz individuelle Weise geprägt ist von all den vorhandenen und getilgten Formen (und Formeln) früheren Sprechens und Denkens, von den durch freudige oder schreckliche Erlebnisse geprägten Wörtern des eigenen In-der-Welt-Seins, von den Melodien der Hoffnung und Verzweiflung, dem Durcheinander der eigen- und anderssprachigen Stimmen, die zu diesem einzigartigen Leben gehören? Und ist damit Sprache und also auch ihre Herkunft aus Überlagerung, Überschreibung, Tilgung und Hervorhebung, Bewerbung und Bebilderung nicht in jedem Fall ein allumfassender Organismus und gleichzeitig eine Instanz der absoluten Privatheit, die Münze, die den allgemeinen Verkehr ermöglicht und der Ort, an dem ich mir nur allein, wirklich allein begegne?

Bin ich nicht selbst das Palimpsest meines Geworden-Seins? Und wenn ich dies bin, hätte ich eine Wahl gehabt, es nicht zu sein? Und sähe jene Authentizität, die dem Palimpsest-Sein entgegensteht, nicht sehr komisch aus?

Ist Überschreibung nicht ein anderes Wort für Weiterleben? Im tätigen Leben darf man doch wohl die Überwindung von Widerständen, die mit dem Leben auftreten und in dessen Verlauf zunehmen in einen ursächlichen Zusammenhang mit gelingender Fortdauer bringen. Dann muss doch für das geistige oder intellektuelle Leben Ähnliches gelten: Tilgung der negativen oder lediglich hinderlichen Aspekte und Stärkung, Beförderung und Pflege all dessen, was einen Gedankenschritt weiter hilft, einen noch so kleinen Lichtstrahl ins Dunkel in unserem Inneren wirft, den Verkehr mit den Anderen erleichtert und uns trotzdem zuverlässig darin bestärkt, dass wir einzigartig sind. Wir wissen es, wenn wir wissen, was alles wir nicht sind, was wir ausgeschlossen, zurückgelassen, getilgt und überschrieben haben.

Beim Übersetzen tun wir dies ununterbrochen, denn es gibt keine einzige vollständige Entsprechung zwischen den Sprachen, es gibt nur Annäherungswerte, Grade des Gelingens und Misslingens. Auch wenn das Wort Tisch in der Sprache A durch ein Tisch-Wort der Sprache B „ersetzt“ werden kann, ist Tisch A nicht Tisch B. Denn in der einen Kultur ist an diesem Tisch eine Summe von Handlungen und Ereignissen möglich, die in der anderen Kultur und Sprache so nicht oder lediglich in geänderten Mengen- und Mischungsverhältnissen möglich sind. Also tilge ich Tisch A oder erhebliche Teile dessen, was ihn ausmacht, indem ich Tisch B sage. Und wenn wir uns jedes Wort der Sprache A ebenso angeschaut haben, bevor wir es in die Sprache B herüberholen, sind wir am Ende dessen angelangt, was uns das Palimpsest lehren will.