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Veröffentlicht am 26.12.21

Pfingsten

Eines schönen Morgens, Mitte der 90er-Jahre in Berlin-Tempelhof, erwachte der Freund meiner Schwester und bemerkte zu seinem allergrößten Erstaunen, dass er urplötzlich fließend Spanisch sprechen konnte. Auch mir, der ich damals im selben Haus wohnte, wurde eine Kostprobe dieser überraschend erworbenen Fähigkeit zuteil, bevor nach zwei Stunden der ganze Zauber vorüber und er wieder der Alte war. Interessanterweise konnte er sein Spanisch nach eigener Aussage nur sprechen, aber selbst nicht verstehen. Das Ganze ist jedenfalls als „Valladolid-Erlebnis“ in die deutsche Geistes- und Ideengeschichte eingegangen.

Diese Episode, die sich – ich schwöre es! – genau so abgespielt hat, führt direkt hinüber zum  Dilemma, welches das Pfingstfest gerade für Übersetzer und Übersetzerinnen darstellt. Das zweite Kapitel der Apostelgeschichte beginnt nämlich so:

Und als der Tag der Pfingsten erfüllt war, waren sie alle einmütig beieinander. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und sie wurden alle voll des Heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nach dem der Geist ihnen gab auszusprechen. [Luther 1912]

Was hier beschrieben wird, ist ja nun gerade kein Verstehenswunder, sondern die tradierte urchristliche Schilderung einer allgemeinen Glossolalie, des spontanen Auftretens von Zungenrede und Sprachekstase, gleichermaßen unverständlich für Sprecher und Hörer. Erst die kirchliche Indienstnahme, die die Lukas-Erzählung darstellt, leistet die Umdeutung der pfingstlichen Ereignisse, weg vom vollständigen Kannitverstan, hin zur Überwindung aller Verständnisschwierigkeiten:

Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darin wir geboren sind? Parther und Meder und Elamiter, und die wir wohnen in Mesopotamien und in Judäa und Kappadozien, Pontus und Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und an den Enden von Lybien bei Kyrene und Ausländer von Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie mit unsern Zungen die großen Taten Gottes reden. [Luther 1912] 

Das Problem für alle ÜbersetzerInnen besteht nun aber, wenn ich es richtig sehe, darin, dass sie sowohl in Fall 1: niemand versteht den anderen, man versteht sich nicht einmal selbst, wie auch in Fall 2: jede/r spricht und versteht alles – tatsächlich überflüssig sind. Im ersten Fall können sie nichts ausrichten, im zweiten Fall müssen sie es nicht. So wäre es vielleicht eher die Komplementärerzählung vom Turmbau zu Babel, die als Geburtslegende des Übersetzergewerbes gelten mag:

Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der HERR von dort alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der HERR daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder. [Luther 1912]

Tiefe Spuren haben die pfingstlichen Ereignisse allerdings in der Literatur, namentlich in der Lyrik hinterlassen, und dort bezeichnenderweise eher in der experimentellen, als in der  konventionellen Ausrichtung.

Zu Beginn der 40er-Jahre etwa erblickte eine junge Frau in einem Wiener Hinterhof, natürlich an einem Pfingsttag, einen Strauch, der sich selbst entzündete. „Ich wanderte dann umher, kauerte nieder und schrieb im Anblick des brennenden Busches mein erstes Gedicht.“ So beschreibt Friederike Mayröcker die Umstände ihrer lyrischen Berufung. Oskar Pastior wurde nicht müde zu betonen, dass sein höchster Feiertag schon immer Pfingsten gewesen sei. Und die legendären Lesungen des Colloquiums Neue Poesie, die über fünfundzwanzig Jahre lang vor mehreren hundert Zuhörern im Bielefelder Rathaussaal stattfanden und an denen sowohl Friederike Mayröcker als auch Oskar Pastior regelmäßig teilnahmen, wurden aufgrund ihrer Vielsprachig- und Vielzüngigkeit immer wieder als das „Bielefelder Pfingstwunder“ bezeichnet, bei dem der Begriff der Verständlichkeit glücklich suspendiert worden war, zumindest für vier oder fünf Stunden.

Man müßte nun, gerade in diesem Kontext, wahrscheinlich unterscheiden, inwieweit in solchen „nicht-linearen“ Texten oder Repräsentationen das Pfingstgeschehen selbst zum Thema wird, etwa – um den Begriff der Avantgarde so weit wie möglich zu öffnen – in Friedrich Hölderlins späten hymnischen Entwürfen, zum Beispiel dem unglaublichen Vatikan-Fragment („Oft aber wie ein Brand / Entstehet Sprachverwirrung“), Ernst Jandls „wien : heldenplatz“ („und den weibern ward so pfingstig ums heil“) und Ferdinand Schmatz‘ buchlangem Versuch zum Thema, dem Band „das große babel,n“, oder inwieweit die Texte selbst beginnen, in Zungen zu reden und Sprachen auszubilden, so wie in Velimir Chlebnikovs ZAUM-Gedichten und deren Sternensprache oder in Oskar Pastiors Spezialidiom Krimgotisch. Die Eingangsfrage nach dem Nutzen einer Übersetzung solcher Rede hat sich nur ein wenig verschoben, das Problem bleibt dasselbe: Wie ließe sich sinnvollerweise ein krimgotisches Gedicht übertragen? Und vor allem: in welche Sprache?           

Thomas Pynchon, legitimer Erbe des Evangelisten Lukas, lässt seine Apostelgeschichte „Die Enden der Parabel“ so beginnen:

Ein Heulen kommt über den Himmel. Das ist früher schon geschehen, mit diesem aber lässt sich nichts vergleichen.

Und wenn dann, nach fast 1200 Seiten auf einmal und ganz unvermittelt drogeninduzierte Zungenrede einsetzt, dann haben Pynchons geniale Übersetzer Elfriede Jelinek und Thomas Piltz  überhaupt keine Probleme, sie in ein zustandsgebundenes Deutsch zu bringen:

Durch Übel und Adler blondet sich das Klima seine Bahn, denn sie sind keine Macht unter dem derben Krieg. Nein, nicht um Büberei, bis Wächter dort sich in den blaschen Schichten Erde zu paaren beginnen und singen Medoshnicka bleelar Medoometnozz in Bergamott und ungeahnte Spieler unter Thron und Nase des allerwenigst gnädigen Königs …

Womit hinter das zuvor von mir Behauptete ganz offensichtlich ein dickes Fragezeichen zu setzen wäre.