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Veröffentlicht am 22.01.25

Rhythmus

Rhythmus. —◡. Ein zweisilbiges Wort. Trochäisch. Schon sind wir mittendrin. Bewusst oder nicht: Wir sprechen in Hebungen und Senkungen, setzen Akzente in Wörtern und Sätzen, bleiben im Takt oder fallen (vorsätzlich?) raus. Der Rhythmus spielt nicht nur in Lyrik und Liedern eine Rolle, er ist auch Prosatexten immanent, vielleicht nicht ganz so augenfällig. Wir können ihn für die Textgeschwindigkeit nutzen – Langsamkeit zeichnen, im Affenzahn jagen oder Ereignisse heiter dahinplätschern lassen. Auch Brüche und Wendungen einer Geschichte spiegeln sich oft im Rhythmus. Der Rhythmus stützt, was wir erzählen wollen.

Prosarhythmus ist mehr als nur das natürliche Auf und Ab des Sprechens, als Prosodie. Grammatische und syntaktische Elemente kommen ins Spiel und können eine Textaussage verstärken. Stilfiguren wie Assonanzen, Wortwiederholungen oder Reihungen (etwa von Verben) können das Geschehen klanglich abbilden, verdichten, rhythmisieren, den Lesenden geradezu bedrängen. Kommata helfen, Atem zu holen, Pausen zu denken, Wirkung zu schaffen. So gliedern wir den Fluss des Texts, denn Prosa eilt ins Offene und will getragen sein, sinnstiftend gestaltet, damit wir Erzähltes erfassen. Dieser Impuls stammt aus der Rhetorik. Schon Aristoteles unterschied zwischen dem metrisch abgeschlossenen Vers mit seiner zyklischen Rückwendung (versura) und der nach vorn (pro vorsa), ins Unabgeschlossene organisierten Prosa, die es zu strukturieren gelte, denn: „Was ohne Rhythmus ist, ist endlos“.[01]Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, S. 167f.

Zu den strukturbildenden Elementen gehört auch das Silbenmaß. Als ein die Wörter (und schließlich die Sätze) akzentuierendes Prinzip ordnet es intonierend. „Welchen Takt hat eine gute Seite?“ fragte MDR-Literaturkritikerin Katrin Schumacher einmal ihren Podiumsgast Lutz Seiler im Literaturhaus Halle. Seiler: „Ich glaube, es gibt Rhythmen, die dem Körper eingeschrieben sind, auf die man beim Schreiben immer wieder hinauswill. Das lässt sich gar nicht so leicht definieren, aber ich habe einen Rhythmus, nach dem ich die Syntax baue, und dann hänge ich die Wörter nur ran wie Blätter. […] Und dann muss ich das vor mich hin sprechen, hören, ob der Rhythmus stimmt, und dann bin ich auch inhaltlich an dem Punkt, an den ich wollte.“

Auch in der Prosa ist jedes Wort gesetzt. Schauen wir einmal genauer auf metrische Strukturen und andere rhythmusbildende Elemente. Was bewirken sie? Bis wohin tragen sie? Wann wird abgewichen? Was passiert dort inhaltlich? Einige Beispiele aus der Literatur verdeutlichen das Wechselspiel:

„Gelegentlich kichere ich in mich rein“[02]Ann Cotten, Lyophilia, Suhrkamp, Berlin 2019, S. 45., schreibt Ann Cotten in Lyophilia. Herrlich, wie nicht nur die vielen ch in den vielen ich der wenigen Wörter lautlich wiedergeben, was da steht: sie kichern. Rhythmisch wird das Kichern durch eine Kette fröhlicher Daktylen verstärkt; es walzert fast, das Kichern. Der Auftakt nimmt den Aufprall weg. Ein Kichern eben, kein schallendes Lachen: samtig, schalkig, nach innen gerichtet. Es verebbt – entsprechend verlegen – mit dem schlussbetonten „rein“.

Arno Geigers Satz: „Ich komme nicht wegen der Aussicht hierher, ich bin hier aufgewachsen“[03]Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, dtv, München 2013, S. 74. schwingt taktgleich wie Cotten zunächst, doch nach dem Komma: Jamben. Sie verankern, akzentuieren die Stabilität. Zum wiederkehrenden „ich“ gesellt sich ein „bin“ und ein fest verortetes „hier“, gefolgt vom taktgleich fortsetzenden „aufgewachsen“. Da ist nichts Flüchtiges mehr drin, da wurzelt einer.

Steven Uhlys einprägsamer erster Satz in Glückskind heißt: „Wieder so ein Scheißtag.“[04]Steven Uhly, Glückskind, Secession, Zürich 2012, S. 7. Schnörkelloser lässt sich trüber Alltag kaum beschreiben: kurz und knallhart trochäisch, als meißelte Uhly das Ausweglose direkt in die Silben. Das „wieder“ erlaubt kein Entrinnen.

Komplexer wird’s in diesen vier Sätzen aus Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfuss: „Die Zeit ist eine Linie. Sie bewegt sich wie eine Linie. Nein, nicht auf oder entlang einer Linie. Nicht linear.“[05]Tomer Dotan-Dreyfuss, Birobidschan, Voland & Quist, Berlin/Dresden 2024, S. 11 Zunächst ist alles klar: Der erste Satz gibt verhalten jambisch wieder, wie wir uns Zeit vorstellen: als kontinuierlich fortlaufend. Im zweiten findet diese Bewegung nicht nur ins Verb, sondern auch in den Rhythmus. Hoppla! – doch standsichere Landung auf Linie. Im dritten wäre das Ebenmaß fast ganz passé, fänden wir nicht nach dem verneinten „auf oder entlang“ abermals zurück zur vertrauten, Halt gebenden „Linie“ (dritte Wiederholung). Der vierte kippt das Flusskonzept, auch rhythmisch. Aus „Linie“ wird das endbetonte „(nicht) linear“. Ein kleiner Geniestreich, wie Dotan-Dreyfuss hier nicht nur mit wenigen Sätzen auf das von Kant (und Bergson) diskutierte Zeit-Paradox verweist, sondern auch prosarhythmisch inszeniert, dass Zeit kein homogenes Fließen ist.

Und schließlich Judith Hermann, über deren hochgradig rhythmische Prosa es ganze Abhandlungen gibt. Sie selbst sagte einmal: „Inhaltlich korrigiere ich wenig, aber um eine Geschwindigkeit, einen Rhythmus zu erreichen, streiche ich viel.“[06]So zitiert in Daniel Schnorbusch: Rhythmus in der Prosa; Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006), S. 122. In der Erzählung „Rote Korallen“ aus ihrem Debütband Sommerhaus, später heißt es: „Das Wasser der Weltmeere wogte in einer großen, grünen Welle über den Schreibtisch des Therapeuten und riß ihn vom Stuhl, es stieg schnell höher und trug den Schreibtisch empor, aus seinen Wellenkämmen stieg noch einmal das Therapeutengesicht auf, dann verschwand es, das Wasser rauschte, brandete, sang und stieg und schwemmte die Geschichten mit sich fort, die Stille und die Korallen, schwemmte sie zurück in die Tangwälder, in die Muschelbänke, an den Meeresgrund. Ich holte Luft.“[07]Judith Hermann, „Rote Korallen“ in Sommerhaus, später, Fischer, Frankfurt am Main 2023 (22. Auflage), S. 28f. Ein alliterierendes Wogen zunächst, das uns mit schnell / höher / empor räumlich mitreißt; die im Präteritum einsilbigen Verben treiben das Rauschen voran: riss / stieg / trug / stieg – mit „verschwand es“ halten wir inne – um dann nach brodelnd brechenden Wellen – rauschte / brandete – umso kraftvoller abzuheben zu sang und stieg und schwemmte die Geschichten mit sich fort (treibend trochäisch) / schwemmte zurück. Welch ein Sog! Tangwälder / Muschelbänke / Meeresgrund folgen; wir sinken langsam, verfangen uns im Tang und laufen inhaltlich wie rhythmisch auf Grund. Gewollt. Das jambische ich holte Luft ist auch klanglich eine Rettung.

Wir sehen: Prosarhythmus ist ein komplexes, polyphones Gefüge aus Prosodie, Syntax, Grammatik, Takt und Stilelementen, je nach Genre und Idee zuweilen auch von typographischen und buchgestalterischen Elementen flankiert. Er ist ein Mittel, um – mal mehr, mal weniger nah an einem als „normal“, „natürlich“, „idiomatisch“ oder „genuin“ erwarteten Sprachfluss – Erzähltes zu intonieren, zu illustrieren. In Judith Hermanns durchkomponierter, feinsinnig austarierter Kunstprosa könnte man jetzt genüsslich versinken. Den Rahmen dieses Babelwerk-Eintrags würde das jedoch – hier erwarten wir „sprengen“, das ist mir rhythmisch zu flach – zertreiben.


Zur Vertiefung empfohlen sei folgende erhellende Lektüre:
Michael Gamper, „Rhythmus als eine Organisationsform der Prosa“, in: Svetlana Efimova und Michael Gamper (Hrsg.): Prosa. Geschichte, Poetik, Theorie, Band 20 der Reihe WeltLiteraturen/World Literatures, S. 35-49; https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110729085/html

References
01 Aristoteles, Rhetorik, übersetzt und hrsg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, S. 167f.
02 Ann Cotten, Lyophilia, Suhrkamp, Berlin 2019, S. 45.
03 Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil, dtv, München 2013, S. 74.
04 Steven Uhly, Glückskind, Secession, Zürich 2012, S. 7.
05 Tomer Dotan-Dreyfuss, Birobidschan, Voland & Quist, Berlin/Dresden 2024, S. 11
06 So zitiert in Daniel Schnorbusch: Rhythmus in der Prosa; Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006), S. 122.
07 Judith Hermann, „Rote Korallen“ in Sommerhaus, später, Fischer, Frankfurt am Main 2023 (22. Auflage), S. 28f.