Utopie
Was hat Utopie mit Übersetzen zu tun? Die Budapester Philosophin Ágnes Heller unterscheidet zwischen zwei Arten von Utopien. Der Utopie der Wünsche stehe die Utopie der Gerechtigkeit gegenüber. Utopien betreffen jedoch nicht nur Gesellschaft und Politik. Auch das Übersetzen sei eine Utopie, wie Rosemarie Tietze im Titel ihrer Antrittsvorlesung als Gastprofessorin für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin 2012 signalisiert.
Dabei geht es nicht nur um die wahrlich utopisch anmutenden Überlebenskünste der allermeisten Übersetzer*innen, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden und für ihren Arbeitsaufwand unangemessen honoriert werden, sondern auch um das utopische Streben nach der „richtigen“ Übersetzung.
Jekatherina Lebedewa schreibt in ihrem Beitrag Die vollkommene Übersetzung bleibt Utopie, dass es „unter den literarischen Übersetzern sowohl Anhänger der Verfremdung als auch Anhänger der Einbürgerung“ gebe. Sie skizziert, wie sich jede Übersetzung zwischen diesen beiden (utopischen) Polen bewegt und keinem von beiden gerecht wird. Mehr noch: nie gerecht werden kann. Ist das nicht ein frustrierendes Bild der Arbeit der Übersetzer·innen: den Ansprüchen nie gerecht werden zu können?
Lebedewa nennt zunächst Martin Luther als Urvater der Einbürgerungsstrategie. In seinem Sendbrief vom Dolmetschen hat er sein Anliegen mit dem Fokus auf Zielsprache und Zielkultur klar formuliert. Wörtlich heißt es dort, man müsse „dem gemeinen Mann aufs Maul sehen“ und sich beim Übersetzen daran orientieren.
In der entgegengesetzten Tradition steht z. B. Wilhelm von Humboldt mit seiner Unterscheidung zwischen der Fremdheit und der Fremde. Eine gute Übersetzung zeichne sich dadurch aus, dass sie das Fremde erfahrbar mache, ohne Fremdheit zu erzeugen. Durch Verfremdung werde man dem Geist der Ausgangssprache gerecht.
Und hier wären wir wieder bei Heller: Die Utopie der Gerechtigkeit ist ein Zustand, in dem alle Bürger·innen eines Staates die Dinge so, wie sie sind, als gerecht empfinden. Die Utopie der Wünsche dagegen ist ein Zustand, in dem menschliche Bedürfnisse nachhaltig befriedigt sind. Das heißt konkret, der Alltag der Bürger·innen orientiert sich an ihren Wünschen.
Heller stand beiden Formen der Utopie skeptisch gegenüber. Und genau an dieser Skepsis setzt die Eutopie an. Doch was ist Eutopie?
Eutopia ist das griechische Wort für einen guten Ort. Das Wort ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Denn Utopie, in welcher Form auch immer, vereint heute zwei unterschiedliche Bedeutungen. Zum einen geht der Begriff Utopie auf die altgriechische Wortkombination οὐ-τόπος / ou-tópos zurück: Nicht-Ort. Utopie wäre demnach eine Fiktion, ein Ort, den es nicht gibt und nicht geben kann. Utopie beschreibt aber oft auch eine bessere Zukunft. In diesem Sinne geht sie auf Thomas Morus zurück εὖ -τόπος / eu-tópos: guter Ort. Utopie steht also für zwei eigentlich sehr unterschiedliche Bedeutungen: Utopie als Nicht-Ort und Eutopie als guter Ort.
Diese Art der Vereinnahmung von „Eutopie“ durch „Utopie“ ist nicht nur sprachlich verengend. Sie fördert Skepsis und wirft damit einen dunklen Schatten auf menschliches Handeln: Sie nimmt unseren Träumen und Hoffnungen die motivierende Kraft.
Eutopie steht für die Wiedergewinnung dieser Kraft. Eutopie ist also eine Form des Denkens und Handelns, die uns ermutigt, unseren Handlungshorizont an unseren Träumen auszurichten und ihn praxisorientiert auszuformulieren. Gleichzeitig nährt sie aber auch die Hoffnung, dass eine gute Zukunft nicht nur eine Fiktion bleiben muss.
In der Übersetzungsarbeit wirkt der eutopische Ansatz dem zuweilen lähmenden Gefühl der ewigen Unvollkommenheit dieser Arbeit entgegen. Die Eutopie fördert das professionelle Gut-Genug jenseits aller Perfektion.
Wer gute Politik, aber auch gute Übersetzungen machen will, sollte sich nicht von vornherein davon entmutigen lassen, dass ein Scheitern an der einen oder anderen Utopie unvermeidlich ist. Vielmehr kann man das Ganze eutopisch denken: als gute Praxis, die sich an unseren gegenwärtigen Wünschen orientiert. Jenseits von Utopien und Vollkommenheiten.