Wiederholung
„Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte. Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht.“
Georg Christoph Tobler: Die Natur (oft fälschlich Goethe zugeschrieben)
Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen! Dieser Reim aus Kindertagen hallt mit seiner höhnisch intonierten Moral in meiner Erinnerung bis heute fort und taucht alles, was mit Wiederholung zu tun hat, in ein zweideutiges Licht. Das fängt schon damit an, dass man ihn laut singen oder sagen muss, um zu wissen, von welcher Art die gemeinte Wiederholung ist, handelt es sich hier doch um einen „Wort-Doppelgänger“. Ältere Wörterbücher der deutschen Sprache verzeichnen eine seit dem fünfzehnten Jahrhundert belegte semantische Bifurkation des Verbs, die seiner infiniten Grundform nicht anzusehen ist. Adelung etwa behalf sich in seinem Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit einem im Deutschen sonst ungebräuchlichen Betonungszeichen zur differenzierenden Begriffsklärung: „1. Wíederhohlen, der Ton auf dem Adverbio, folglich im Participio wiedergehohlt, zurück hohlen, an den vorigen Ort hohlen […] 2. Wiederhóhlen, der Ton auf dem Verbo, folglich im Participio wiederhohlt, von neuem sagen oder thun“.[01]Johann Christoph Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801, Band 4, Spalte … Fußnote lesen Mit dem nämlichen Notbehelf unterscheiden Jacob und Wilhelm Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch „in trennbarer komposition wíederholen i.s.v. zurückholen (unter A)“ von „in fester komposition wiederhólen mit der bedeutung »noch einmal sagen oder tun« (unter B)“[02]Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Band 29, Spalte 1046.. Zum weiteren Begriffsverständnis sei Kierkegaards dialektische Bestimmung der unter „B“ gefassten Wiederholung angeführt: „Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen.“[03]Sören Kierkegaard, Die Wiederholung (1843), deutsche Übersetzung: Lieselotte Richter, Frankfurt (Syndikat/EVA) 1984, S. 23. Betrachtet man die Wiederholung in Hinblick auf das, was sie für das Übersetzen begrifflich zu leisten vermag, stellen wir interessanterweise fest, dass die geschiedenen Aspekte der Wiederholung in ihr wieder zusammenfinden; Kierkegaards Definition ließe sich nämlich leicht verändert auf die unter „A“ gefasste Wiederholung übertragen: Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn das, was wiedergeholt wird, ist da gewesen, sonst könnte es nicht wiedergeholt werden, aber gerade dies, dass es da gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem nie da Gewesenen.
Aber beginnen wir noch einmal von vorn, bei uns selbst. Nichts bestimmt unser Leben so sehr wie die Wiederholung; es nimmt in ihm den größten Raum ein, mit nichts verbringen wir mehr Zeit; man könnte auch sagen, unsere individuelle Existenz stehe im Zeichen der Wiederholung. Und das bereits, bevor von „unserem“ Leben überhaupt die Rede sein könnte: Im Jahr 1866 formulierte Ernst Heckel seine berühmte Biogenetische Grundregel, wonach unsere „Keimesentwicklung eine gedrängte und verkürzte Wiederholung der Stammesentwicklung“ ist.[04]Vgl. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. 2 Bde. Berlin (Georg Reimer) 1866. Wir erfahren die Evolution unserer Menschwerdung am eigenen Leib, rekapitulieren sie in mimetischer Metamorphose, und stehen so unmittelbar mit dem unvordenklich fernen Ursprung des Lebens auf unserem Planeten in Verbindung. Dieser Ursprung ist, wenn wir ihm entspringen, sein Geschenk an uns, das Geschenk des Lebens. Gleichzeitig aber ist die Nabelschnur der Wiederholung, die uns an den Ursprung bindet, gewissermaßen auch ein Schuldzusammenhang: Wir empfangen unser Leben als ein Geschenk, unverdient, und eben dadurch schulden wir es ein Leben lang – den Eltern, einem Schöpfergott oder einfach dem Ursprung, und dass wir ihm entspringen konnten. Wir treten ins Leben, und alles beginnt von vorn. Im „Leier-Lied“ der Tiere in Nietzsches Also sprach Zarathustra klingt das so: „Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. […] In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“[05]Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883-85). Dritter Theil: „Der Genesende“. Nun finden sich solche zyklischen Kosmologien, wie Mircea Eliade gezeigt hat,[06]Vgl. Mircea Eliade, Le Mythe de l’éternel retour: Archétypes et répétition. Paris (Gallimard) 1949. in nahezu allen mythologischen Traditionen. Und sie sind ebenso oft mit Erlösungsmythen verbunden, die davon handeln, wie diese Schuld zu sühnen ist. Im Christentum etwa durch das Opfer Jesu Christi, der die dort als „Erbsünde“ definierte Schuld auf sich nimmt und mit dem Tod abbezahlt. Im Buddhismus und in Teilströmungen des Hinduismus durch das Ausbrechen aus dem leidhaften Wiedergeburtenkreislauf Samsara und das Erreichen des Nirvana (Moksha im Hinduismus). Neu und revolutionär ist Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkunft verkürzt gesagt aber dadurch, dass er den mit ihr im christlichen Kontext verbundenen Schuldzusammenhang radikal aufkündigt. Ein weites Feld, auf das ich mich nur bis zu dem Punkt vorwage, wo Pierre Klossowski die ewige Wiederkunft bei Nietzsche als eine Lehre deutete, die die Ich-Identität aufhebt, indem sie gewissermaßen das Subjekt unendlich viele unterschiedliche Identitäten durchlaufen lässt.[07]Vgl. Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. Deutsche Übersetzung Ronald Vouillé, München (Matthes & Seitz) 1986. Ein Gedanke, der unmittelbar an Novalis Rede von der „Selbstfremdmachung“[08]Novalis, „Aus dem Allgemeinen Brouillon 1798-1799“, Nr. 115; vgl. ebd.: „“Alles kann ich sein und ist Ich oder soll Ich sein.“ In: Novalis. … Fußnote lesen anzuknüpfen scheint und den Schlussstein zu meiner Begriffsbestimmung der Wiederholung beisteuert.
Ich fasse zusammen: Den Ursprung gibt es nur an sich. Er lässt sich rekonstruieren – theoretisch, psychoanalytisch, künstlerisch –, aber niemals vergegenwärtigen, nie als solchen erinnern. Für uns gibt es ihn nur in der gedanklichen und tätlichen Wiederholung; in der menschlichen Sphäre ist sie das Ursprüngliche. Beziehen wir nun das Gesagte auf die Übersetzung literarischer Werke, dann können wir jetzt genauer ein- und abgrenzen, was mit ihr auf dem Spiel steht: Wenn wir ein literarisches „Original“ so, wie es uns in seiner Fremdsprachigkeit gegenübertritt, und sei es auch in all seinen mitschwingenden Bedeutungsvalenzen, der allgemeinen Ordnung der Ähnlichkeiten und Äquivalenzen entsprechend übersetzten, würden wir doch bestenfalls eine sehr gute Kopie anfertigen, es aber nicht wiederholen, wie es der Anspruch des literarischen Übersetzens sein muss. Umberto Ecos Diktum vom „Übersetzen als Tauschhandel“[09]Vgl. Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. Deutsche Übersetzung von Burkhart Kroeber. München (Hanser) 2006. bezeichnet hier nur eine verfahrenstechnische Seite des Übersetzens. Ihr Wesen, ihre Seele, ist jedoch die Wiederholung, von der Deleuze uns überzeugt, dass sie „eine notwendige und begründete Verhaltensweise nur im Verhältnis zum Unersetzbaren ergibt. Als Verhaltensweise und als Gesichtspunkt betrifft die Wiederholung eine untauschbare, unersetzbare Singularität. Die Spiegelungen, Echos, Doppelgänger, Seelen gehören nicht zum Bereich der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz“[10]Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, Deutsche Übersetzung Joseph Vogl, München (Wilhelm Fink) 1992, S. 15.. Eine solche unersetzbare Singularität ist aber der Gegenstand der Übersetzung, das literarische Werk. Daraus folgt: Was ich wiederholen will und soll, ist nicht eigentlich das Original, sondern seine Ursprünglichkeit, indem ich im Zuge meiner „Selbstfremdmachung“ gewissermaßen seine verkürzt rekapitulierte Phylogenese durchlaufe. Etwas in der Art könnte Walter Benjamin gemeint haben, als er der Aufgabe des Übersetzers attestierte, sie bestehe darin, „diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus in ihr das Echo des Originals erweckt wird.“[11]Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 16. und damit schließt sich der Kreis: „Ist der Tausch das Kriterium der Allgemeinheit, so sind Diebstahl und Gabe Kriterien der Wiederholung“[12]Ebenda., schreibt Deleuze. Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen.
↑01 | Johann Christoph Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Ausgabe letzter Hand, Leipzig 1793–1801, Band 4, Spalte 1534. |
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↑02 | Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Band 29, Spalte 1046. |
↑03 | Sören Kierkegaard, Die Wiederholung (1843), deutsche Übersetzung: Lieselotte Richter, Frankfurt (Syndikat/EVA) 1984, S. 23. |
↑04 | Vgl. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. 2 Bde. Berlin (Georg Reimer) 1866. |
↑05 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883-85). Dritter Theil: „Der Genesende“. |
↑06 | Vgl. Mircea Eliade, Le Mythe de l’éternel retour: Archétypes et répétition. Paris (Gallimard) 1949. |
↑07 | Vgl. Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. Deutsche Übersetzung Ronald Vouillé, München (Matthes & Seitz) 1986. |
↑08 | Novalis, „Aus dem Allgemeinen Brouillon 1798-1799“, Nr. 115; vgl. ebd.: „“Alles kann ich sein und ist Ich oder soll Ich sein.“ In: Novalis. Studienausgabe, München (C.H.Beck) 1969, S. 490. |
↑09 | Vgl. Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. Deutsche Übersetzung von Burkhart Kroeber. München (Hanser) 2006. |
↑10 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, Deutsche Übersetzung Joseph Vogl, München (Wilhelm Fink) 1992, S. 15. |
↑11 | Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt (Suhrkamp) 1991, S. 16. |
↑12 | Ebenda. |