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Veröffentlicht am 16.08.24

Xenophilie

Xenophilie, sollte man meinen, ist die Grundlage allen Übersetzens. Nicht Eros (Verführung), nicht Agape (Hingabe), sondern Philia – ein Miteinander eben. Aber mit wem? Das griechische Präfix Xeno- hat im Deutschen eine zweifache Bedeutung; Xenophilie wäre also Gast- wie Fremdfreundschaft. Die Freundschaft gegenüber einem oder etwas, der / das aus der Fremde kommt. Wobei Fremdheit ein relationaler Begriff ist. Was ist schließlich fremd? Anders gesagt: Wer und was ist wem auf welche Weise fremd?

In der Biologie sind Xenophile, so las ich es kürzlich, „Pflanzenfresser“, die sich durch eine besondere Form der Nahrungsspezialisierung auszeichnen, insofern sie sich lieber von fremden Wirtspflanzen nähren als von einheimischen derselben Gattung oder Familie. Xenophilie, heißt es einmal, könne eine individuelle, aber auch eine kollektive Vorliebe sein.

Pflanzenfresser, Wirtspflanzen, Spezialisierung? – Als Fachfremde habe ich eine Weile gebraucht, bis ich mir diese Information zur „Nahrungsspezialisierung“ überhaupt übersetzen konnte. Ich selbst denke bei „Pflanzenfressern“ spontan an Weidetiere, also an Kühe oder Schafarten, die eben xenophil sind, wenn sie statt einheimischer Gräser und Gestrüppe Einwanderer aus fernen Gebieten oder Kontinenten bevorzugen. Doch natürlich gibt es noch ganz andere Arten der Pflanzenfresser, darunter Fruchtfresser, Samenfresser, Holzfresser und Säftesauger. Insofern sind neben Buchfinken, Bibern und Auerhühnern vor allem Holzwürmer und Blattläuse gemeint. Denn die biologische Forschung konzentriert sich hinsichtlich der Xenophilie im Wesentlichen auf Parasiten, wie der Terminus „Wirtsvolk“ nahelegt.  

Auch wenn es immer gerne angenommen wird: Das Gegenteil von xenophil ist nicht xenophob. Schließlich ist das Gegenteil von bibliophil nicht bibliophob. Bei Phob schwingt immer auch „Angst“ als Bedeutungsraum mit.

Leider findet sich spontan kein Hinweis zu meiner Frage, wie die Forschung eigentlich überhaupt auf die Übersetzung dieser sozialen Kategorien auf die Tierwelt gekommen ist. Welchen Anlass sollten Tiere haben können, exklusiv einheimische Varianten einer Blattpflanze zu konsumieren und andere sogar recht nah verwandte eingewanderte Arten als Nahrung zu meiden? Als sei es „natürlich“, phob zu sein. Als sei nicht jeder irgendwo fremd und aus Fremde gemacht.

Naheliegenderweise frage ich mich, wie gesagt, ob die Kategorie der „Xenophilie“ überhaupt hilfreich wäre beim Nachdenken übers Übersetzen. Während ich mir xenophobe und xenophile Kühe kaum vorstellen kann, ist es mit den Bienen einfacher. Hier in Deutschland befliegen xenophile Bienenarten, so meine Phantasie, besonders gerne englische Edelrosen wie die Princesse Charlène de Monaco, während xenophobe Bienenarten wohl die edle Augusta Luise bevorzugen würden.

Wie dem auch sei: In der Dichtung von Emily Dickinson stehen Bienen auf Klee. Egal auf welchen, wie es scheint. Eine fruchtbare Vorliebe jedenfalls.

To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.

Welche Biene und welcher Klee bleibt offen. Wie aber übersetze ich das Gedicht? Gibt es xenophiles oder xenophobes Übersetzen?

Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen[01]Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,  / Je eins von ihnen,  / Und Träumerei. /
Die Träumerei tut’s auch allein, / Bei wenig Bienen.

übersetzt Gunhild Kübler die ersten zwei Zeilen. Und in der Übersetzung von Lola Grünthal beginnt das Gedicht so:

Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene,
ein Klee und eine Biene[02]Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene, / Ein Klee und eine Biene / Und Phantasie. /Die Phantasie tut’s auch allein, / Sollten Bienen … Fußnote lesen

Beim Vergleich von Prärie und Wiese könnte man spontan meinen, die Entscheidung für „Wiese“ folge einer xenophoben Übersetzerhaltung, während Prärie ein Beweis für Xenophilie sei. Schließlich, so lautet das fremdophile Argument, hat Dickinson – niemand lebt im Überall – in den USA gelebt, und eben beim Niederschreiben dieser Zeilen gerade von Prärie und nicht von Wiese (meadow) gesprochen. Dabei ist – etymologisch gesehen – das Wort Prärie eine in die USA ausgewanderte französische Wiese, denn Prärie dürfte von lateinisch „prater“, französisch „pré“ abstammen. Und dennoch: Wenn ich das Wort Prärie höre, denke ich nie an Frankreich und nicht an das Alte Rom, dafür unmittelbar an die weite Landschaft der USA, wo die „Prärie“ als Bezeichnung längst eingeheimst ist. Eingelehnt. In „revery“ hingegen, gleichfalls aus dem Französischen übers Meer geweht, hat sich der Flair der fremden Ferne erhalten.

Bei „clover“, dem alt-Germanischen „Klafard“ verwandt, sieht Dickinson wahrscheinlich, was wir nicht sehen; denn wo wir mit Klee meist den heimischen weißen Wiesenklee assoziieren, tragen in den USA mehrere der Kleesorten die Prärie im Namen (White Prairie Clover, Purple Prairie Clover), wodurch sich prairie und clover zu einem sehr spezifischen (us-amerikanischen?) Bild verdichten. Eine weite Landschaft mit wild wuchernden Klee-Sorten eben.

Doch Dickinsons fünf kurze Zeilen erzeugen die Intensität des Bildes aus purem Klang: Prärie und Reverie säuseln, von „bee“s begleitet, durch die Verse; sie schwingen so sanft dahin wie der Wind: äriii…. iii  .. äriii ii ..  uuu – fiuuu. Der Tagtraum überträgt sich und wir sehen, ja spüren förmlich, wie bei Dickinson die Prärie, allen Naturgesetzen widersprechend, aus nichts als Phantasie – Einbildungskraft – erschaffen werden kann. Im Grunde also müssen wir beim Übertragen des Gedichtes, Xenophilie hin oder her, in erster Linie den Klang der englischen Reverie ins Deutsche übertragen. Das genau ist das eigentlich Schön-schwere am Nachdichten.

Sprache ist xenophil. Aus sich heraus. Denn Sprache beruht auf Gegenseitigkeit, ist aus Hören und Sprechen und Sprechen und Hören gemacht. Da mögen manche Menschen noch so oft von Nationalsprache reden – Sprache ist Begegnung. Dabei treffen verschiedene Sprechende mit ihren je unterschiedenen Sprachen aufeinander, und während, das wusste schon Kierkegaard, die sozialen, kollektiven Sprachen auf einen vereinheitlichenden Gebrauch schielen, sind die individuellen Sprachweisen immer verschieden. Noch in den einzelnen Begegnungen begegnen sich mit den Worten immer je spezifische Erfahrungen, sie wandern hin und her, und eben wenn alles besonders gut geht, wandern sie ein in die Sprache des/der Anderen. Nicht nur Liebende können ein Lied davon singen.

Glaubt man der Grenzgängerin und Dichterin Yoko Tawada, die, in Japan geboren, schon viele Jahre meist in Hamburg lebt, dann gewinnt man gerade durch die Begegnung mit der Fremde erst Einsichten ins Eigene. Sie, die in beiden Sprachen schreibt, erzählt von frühen Begegnungen mit der deutschen Sprache:

Die meisten Wörter, die aus meinem Mund herauskamen, entsprachen nicht meinem Gefühl. Dabei stellte ich fest, daß es auch in meiner Muttersprache kein Wort gab, das meinem Gefühl entsprach. Ich hatte das nur nicht so empfunden, bis ich in einer fremden Sprache zu leben anfing. Ich ekelte mich oft vor den Menschen, die fließend ihre Muttersprache sprachen. Sie machten den Eindruck, dass sie nichts anderes denken und spüren konnten, als das, was ihre Sprache ihnen so schnell und bereitwillig anbietet. (S. 15)

Hierzulande werden Wörter, die aus fremden Ländern irgendwann bei uns angelandet sind, je nach rohem oder gekochtem Zustand, als Fremdwörter oder Lehnwörter bezeichnet. Ein xenophiler Geist könnte im Thomas Kling‘schen Sinne von „Botenstoffen“ sprechen, denn all diese Worte sind Boten von realen wie erlesenen Begegnungen mit anderen Zeiten, Landschaften, Ländern, Kulturen oder Ideen.

Nicht alle Wörter, die einmal als Botenstoffe aus der Fremde eingewandert sind, empfinden oder erkennen wir heute noch als „Lehnwörter“; Boten sind sie allemal. Worte wie Seide oder Taifun kamen einst aus China. Essig, Eimer, Ufer, aber auch Anker, Alge, Pfeil und Dose sind aus dem Lateinischen weitergewandert. Descartes brachte uns die Realität als verschieden von der Wirklichkeit, und der Merve-Verlag importierte ab den 1970er Jahren mit den Theorien Baudrillards französischen Theoriejargon ins Deutsche. Längst wissen wir nicht mehr genau, was der Unterschied ist zwischen „das macht Sinn“ und „das klingt logisch“, und immer mal wieder wundern wir uns, dass die Engländer die Kühe auf der Weide als „cow“ bezeichnen, egal ob das Tier einheimische oder ausheimische Gräser wiederkäut, während dasselbe Tier, kaum dass es tot ist, plötzlich „beef“ genannt wird. So ist das mit den Unterscheidungen. Beim Übersetzen werden verschiedene Geschmacksrichtungen einer Sprache wachgeküsst. Es gibt viele verschiedene Vorlieben, und vielleicht ist Xenophilie tatsächlich eine von ihnen.

(Ich danke Prof. Jens Reich für zahlreiche Hinweise.)

References
01 Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,  / Je eins von ihnen,  / Und Träumerei. /
Die Träumerei tut’s auch allein, / Bei wenig Bienen.
02 Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene, / Ein Klee und eine Biene / Und Phantasie. /
Die Phantasie tut’s auch allein, / Sollten Bienen selten sein.