Das Imperium mit dessen eigenen Waffen zurückschlagen – Weltliteratur im postkolonialen Kontext

Dekolonisierung durch den Einsatz der Sprache, der Sprachen - das leistet die afrikanische und afro-diasporische Gegenwartsliteratur auf eindrucksvolle Weise. Was bedeutet das für die Übersetzung in einen Sprachraum, in dem man gerade erst anfängt, die eigene koloniale Vergangenheit zu hinterfragen?

Der kongolesische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila, seit Längerem in Graz beheimatet, antwortete auf eine (mutmaßliche) Frage des österreichischen Künstlers Franz Yang-Močnik: „Meiner Ansicht nach gibt es keinen afrikanischen Roman, der allein die Literatur des ganzen Kontinents repräsentieren könnte. Das Mosaik aus Sprachen, Geschichte, Kulturen, religiösen Überzeugungen, klimatischen und geografischen Gegebenheiten gebiert einen einzigartigen und äußerst vielfältigen literarischen Korpus. Es gibt Werke in den alten Kolonialsprachen wie Portugiesisch oder Englisch, Texte aus afrikanischen Sprachen und mündliche Überlieferungen. Es ist, als würde ich dich bitten, mir ein einziges Buch oder einen einzigen Schriftsteller für ganz Europa zu nennen. Wen würdest du wählen? Und aus welcher Sprache, aus welchem Land, aus welcher Epoche? Heinrich von Kleist, Ingeborg Bachmann, Marguerite Duras, Dante, János Pilinszky?“[01]Was heißt es, in Europa über Afrika zu sprechen? Ein Brief von Fiston Mwanza Mujila. Aus dem Französischen übersetzt von Katharina Meyer. In: … Fußnote lesen

Damit benennt Mujila, der selbst auf Französisch schreibt, ein globales Phänomen: So wie asiatische Autor:innen oft sehr viel mehr Ahnung von europäischer Kultur und Literatur haben als umgekehrt, so kennen auch afrikanische Schriftsteller:innen aus allen erdenklichen Ländern und aus der Diaspora unseren Kanon, oft kennen sie ihn besser als wir, die wir mehrheitlich noch vagen Klischeevorstellungen von „Oralität“ anhängen und meist gar nicht wissen, wo wir Autorinnen wie Taiye Selasi oder Chimamanda Ngozi Adichie verorten sollen, obwohl oder gerade weil sie international erfolgreich sind.

Natürlich hängt das mit der kolonialen Vergangenheit zusammen, die nicht zuletzt durch diese zählebige, wenngleich zunehmend ins Wanken geratende kulturelle Hegemonie des abendländischen Kanons bis in unsere Gegenwart hineinwirkt. Eine Spur führt direkt nach Berlin zurück, wo bei der berüchtigten Kongokonferenz 1884/85 der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck etliche europäische Mächte zusammen mit Vertretern der USA, Russlands und des Osmanischen Reiches zusammenrief, um sich über allgemeine Handelsfreiheit auf dem Kontinent zu einigen. Vertreter der afrikanischen Völker, um deren Territorien es ging, waren nicht eingeladen, und so konnten die Kolonisatoren, allen voran Belgien, England, Frankreich, aber auch Deutschland weiterhin ganz ungestört Gebiete beanspruchen und brutal ausbeuten.

Und das ist auch ein Grund, warum wir afrikanische Literatur fast ausschließlich aus dem Englischen und Französischen übersetzen. Und die Originale überwiegend in französischen, englischen oder amerikanischen Verlagen erscheinen.[02]Das könnte sich mittelfristig ändern, unter anderem dank der Initiative von Wissenschaftlerinnen und Literarurvermittlern wie  Ainehi Edoro, … Fußnote lesen Im Vergleich dazu kommen weniger Titel aus dem Afrikaansen, Portugiesischen oder Arabischen, geschweige denn aus einer der über 2000 afrikanischen Sprachen.[03]Auch hier gerät einiges in Bewegung, beispielsweise dank der britisch-kenianischen Schriftstellerin, Übersetzerin und politisch aktiven … Fußnote lesen Selbst die Romane des großen kenianischen Autors Ngũgĩ wa Thiong’o, der seit 1977 auf Kikuyu, seiner Erstsprache, schreibt, und zwar als bewusster Akt der Dekolonisierung, werden aus dem Englischen übersetzt. In seinem vieldiskutierten, bis heute einflussreichen Werk Decolonising the Mind. The Politics of Language in African Literature, 1986 in London erschienen, schreibt er:

„I believe that my writing in Gikuyu language, a Kenyan language, an African language, is part and parcel of the anti-imperialist struggles of Kenyan and African peoples. In schools and universities our Kenyan languages – that is the languages of the many nationalities which make up Kenya – were associated with negative qualities of backwardness, underdevelopment, humiliation and punishment. We who went through that school system were meant to graduate with a hatred of the people and the culture and the values of the language of our daily humilation and punishment. I do not want to see Kenyan children growing up in that imperialist-imposed tradition of contempt for the tools of communication developed by their communities and their history. I want them to transcend colonial alienation.“ (S. 32)

Die Erfahrung, dass Sprache und Kultur des jeweiligen Imperiums als das Höherwertige, Erstrebenswerte gelten, während die Sprachen und Kulturen der Kolonisierten systematisch herabgewürdigt, wenn nicht gar fast ausgelöscht werden, kann als exemplarisch gelten, über Länder- und Generationengrenzen hinweg, und das noch lange nach dem gewonnenen Kampf um Unabhängigkeit. So beschreibt die 33 Jahre jüngere Petina Gappah aus dem heutigen Simbabwe, dass ihre Eltern sie selbstverständlich auf eine englische Schule geschickt hätten, um ihr bessere Karrierechancen einzuräumen. Diese Hoffnung wurde erfüllt, Petina Gappah studierte Jura in Cambridge, promovierte in Graz und arbeitete als Anwältin für internationales Handelsrecht in Genf, bevor sie sich ganz dem literarischen Schreiben widmete, auf Englisch – denn Shona, ihre Muttersprache, beherrschte sie schriftlich lange Zeit nur auf Grundschulniveau. Was sie jedoch nie davon abgehalten hat, die ganz selbstverständliche Mehrsprachigkeit der simbabwischen Gesellschaft in ihren Dialogen abzubilden, die viele Shona-Einsprengsel enthalten, auch wenn die Erzählsprache Englisch ist – und nur ein winziger Teil von Petina Gappahs globaler Leserschaft in der Lage ist, diese Einsprensel zu verstehen, egal ob in Großbritannien, den USA oder im deutschsprachigen Raum. Wobei wir – Arche als der erste deutsche Verlag dieser Autorin und ich als ihre erste deutsche Übersetzerin – erlebt haben, dass das Publikum hierzulande manchmal sehr mit diesem Merkmal der Mehrsprachigkeit haderte, im Gegensatz zu Gappahs englischsprachiger Leserschaft. Das mag daran liegen, dass koloniale und postkoloniale Fragen erst seit Kurzem in Deutschland breit diskutiert werden, und so müssen wir beim Übersetzen auch immer den Rezeptionskontext berücksichtigen – der ja stets im Wandel begriffen ist, sodass bestimmte Probleme von Werk zu Werk jeweils anders zu lösen sind. Je mehr aus den afrikanischen Literaturen übersetzt wird, desto mehr „Fremdheit“ können wir wagen, bis uns die ugandische, kongolesische oder südafrikanische Alltagskultur so vertraut ist wie die amerikanische.

„die Kolonisatoren mit deren Waffe schlagen und die unterdrückte, verfälschte, fast ausgelöschte Geschichte schreibend zurückerobern“

Auf Englisch – Französisch, Portugiesisch, Afrikaans – zu schreiben, ist aber so oder so keine Absage an die Dekolonisierung, ganz im Gegenteil. Neben Ngũgĩ wa Thiong’os Ansatz, konsequent die eigene Sprache zu verwenden, gibt es das Konzept des „Writing back“, die Kolonisatoren also mit deren Waffe zu schlagen und die unterdrückte, verfälschte, fast ausgelöschte Geschichte schreibend zurückzuerobern.

Wie hitzig und produktiv beide Konzepte, die sich nach den Unabhängigkeitsprozessen in den 1950er und -60er Jahren herausbildeten, bis heute diskutiert werden, durfte ich 2018 beim ersten African Book Festival in Berlin erleben. Nachdem am Anfang häufiger zu hören war, dass westliche Sprachen die Begrifflichkeit, die Wirklichkeit afrikanischer Kulturen nicht angemessen wiedergeben können und sie in die eigenen Denkmuster zwängen, gab es bei einem der Schlusspanels auf die Frage „Ist es Verrat, in der Sprache der ehemaligen Kolonialherren zu schreiben?“ viele Antworten, unter anderem die des Autors JJ Bola – in Kinshasa/Kongo geboren, mit Lingála, Englisch, Französisch aufgewachsen und mit sechs nach England gekommen, wo er bis heute lebt: Ihm sei diese Frage zu ideologisch, es gehe doch darum, in welcher Sprache man das, was man erzählen und ausdrücken möchte, am besten ausdrücken kann. Er war der Meinung, man gebe dem Kolonialismus mit dieser Frage zu viel Gewicht, und zitierte einige seiner Lieblingsbücher, darunter Two Thousand Seasons des ghanaischen Autors Ayi Kwei Armah (Erstausgabe1973), um zu veranschaulichen, dass es sich jeweils um ein ganz individuelles Englisch, eine ganz eigene Erzählweise handelt. Helon Habila hingegen, kein Kind der Diaspora, sondern in Nigeria erst mit Tangale, dann mit Hausa und ab der Schulzeit mit Englisch aufgewachsen, meinte, wenn er auf Hausa schriebe, müsste er sich voll und ganz auf die Tradition und Ästhetik der Literatur in Hausa einlassen (die er als meisterlich rühmte). Er erinnerte daran, dass die Schriftsteller der Vorgängergenerationen, die auf Englisch schrieben, es taten, um sich mit den Kolonialherrschern auseinanderzusetzen – die Werke seien teils für diese bestimmt gewesen, um sie zu konfrontieren (eben „writing back, fighting the colonizer“, „taking power: transforming the language“). Er verwies auch auf die Figurenzeichnung seines berühmten Landsmanns Chinua Achebe, die der eigenen literarischen Tradition entspringe und nicht von Dickens & Co. übernommen sei. Und so habe Achebe wiederum eine eigene englischsprachige Schreibtradition begründet. Bernardine Evaristo, als Kind eines Yoruba und einer Britin in England geboren und aufgewachsen, tritt für die Freiheit ein, die englische Sprache aufzumischen, gegen der Strich zu bürsten, um viele Varianten zu erweitern, je nachdem, welche Figuren sie als Schriftstellerin erschafft, welche Themen sie behandelt. Sie wendet sich explizit gegen die „clean prose“ etablierter britischer Schriftsteller:innen und greift das Standard English selbst lustvoll an.

Inzwischen sehen wir, dass das Englische sich allen anhaltenden Kontroversen zum Trotz als Schreibsprache behauptet und bewährt – und diese Sprache selbst zunehmend „von Afrika kolonisiert“ wird, wie die britische Journalistin Afua Hirsch – in Norwegen geboren, teils deutsch-jüdischer, teils akanisch-ghanaischer Abstammung – in einer ihrer Kolumnen im Guardian[04]Zum Artikel geht es hier. schreibt. Zur Veranschaulichung nennt sie so manche Wörter aus Nigeria, Südafrika oder aus Pidginsprachen, die vom Oxford English Dictionary aufgenommen wurden, Tendenz offenbar steigend, weil sie in Großbritannien breite Verwendung finden, mündlich wie schriftlich.

„Zuri of the Sea“, Künstler: Idris Veitch

Zum historischen Verhältnis von Schriftkultur und Mündlichkeit auf dem weitläufigen afrikanischen Kontinent gäbe es einiges zu sagen, hier sei lediglich angemerkt, dass unsere Vorstellung von konstanter, flächendeckender Oralität falsch ist und dass es sich zum Teil um ein bewusst von den Kolonisatoren tradiertes Zerrbild handelt, das die Überlegenheit westlicher Wissensübermittlung untermauern sollte. In vielen afrikanischen Gesellschaften herrschte vor der Kolonialisierung tatsächlich die mündliche Überlieferung vor, in Ostafrika war allerdings die – vom Arabischen beeinflusste – Bantusprache Swahili bereits als Literatursprache verbreitet. In Westafrika gibt es unter anderem die von Helon Habila gelobte Literatur auf Hausa, und zwar seit dem 14. Jahrhundert, ursprünglich in arabischer Schrift. Und der Schriftsteller Patrice Nganang aus dem zentralafrikanischen Kamerun – der wie Mujila auf Französisch schreibt – setzt sich in seinem Essay Nou („Nou“ ist ein sehr präzises, zugleich konnotationsreiches Wort für „Geschichte“ auf Medumba) auf so kritische wie eindrückliche Weise mit einer europäischen Literaturwissenschaft auseinander, die das Bild des westafrikanischen Griots und dessen Form mündlicher Überlieferung auf sämtliche afrikanische Kulturen überträgt und Zeugnisse schriftlicher Überlieferung lange Zeit bewusst ignorierte oder sogar negierte. Nachdem die Geschichte des Kontinents jahrhundertelang unterdrückt und verfälscht wiedergegeben wurde – nämlich aus kolonialer Sicht, die wir in Europa erst jetzt allmählich zu hinterfragen beginnen –, kommt Patrice Nganang zu folgendem Schluss: „Heutzutage ist Demut gefragt, man muss als Afrikaner zuhören, ergründen, recherchieren, freilegen, man muss wie Tolstoi Hunderte Bücher lesen, bevor man einen Roman schreibt, der vom eigenen Land erzählt, man muss weltweit in den Archiven forschen und die Quellen zum Sprechen bringen, man muss den chinesischen, französischen, amerikanischen Wissenschaftlern lauschen, um noch besser über Afrika zu sprechen […] Die wichtigste Herausforderung ist nach wie vor, die Komplexität dieses Kontinents so zu beschreiben, dass Stereotypen überwunden werden […] .“[05]In: Neue Rundschau (129. Jg. 2018), H. 2, S. 140-151 (übersetzt von Patricia Klobusiczky).

Die Geschichte der meisten afrikanischen Länder ist von willkürlichen kolonialen Grenzziehungen geprägt, die historisch gewachsene Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaften auseinandergerissen haben. So leben auf engem Raum viele unterschiedliche Ethnien mit einer Fülle von verschiedenen Sprachen, religiösen Vorstellungen und kulturellen Gepflogenheiten. Andererseits hat die Kolonialherrschaft in vielen Ländern Ähnliches bewirkt: Unterdrückung und Überschreibung der vorhandenen Kulturen durch die Kultur der Beherrscher, Repression und Zerstörung, Segregation, gewaltsame Ablösungsprozesse, eine bis heute problematische Nationenbildung, Armut und Korruption, politische Willkür, Gleichzeitigkeit von modernem Denken und archaischen Vorstellungen, von Christentum und/oder Islam in allen möglichen Ausprägungen sowie Ahnen- beziehungsweise Geisterglauben, gelegentlich auch Aberglauben, in etlichen Fällen der bereits angesprochene Wandel von mündlicher Überlieferung zu Schriftlichkeit. Hinzu kommt die Erfahrung von Globalisierung, Auswanderung und Exil, Identitätsverlust und -neubestimmung.

Oder, wieder mit den Worten von Fiston Mwanza Mujila, der den Blick von der kolonialen Vergangenheit zur durchglobalisierten Gegenwart wendet und eine vielversprechende Zukunft erkennt: „Die Welt hat sich in den letzten 50 Jahren grundlegend verändert. Wie alle Metropolen, so verwandeln sich auch die modernen afrikanischen Städte in einen kulturellen Schmelztiegel. In Dakar, Lagos, Johannesburg oder Kinshasa haben die Jugendlichen die gleichen kulturellen Referenzen wie ihre Altersgenossen in anderen Teilen der Welt. […] Ganz deutlich zeichnet sich eine transnationale, kosmopolitische und pluralistische Urbanität ab, die mit der (post-)kolonialen Ordnung und den überlieferten Werten und dem Wissen der Ahnen konkurriert. […] Diese neue Globalität ist ein Ort ständiger Neugründungen von Religion, Ethnizität, Geschlecht und zudem ein Schmelztiegel von Kunst und Popkultur.“

Aus diesen vergangenen und gegenwärtigen Einflüssen resultiert tatsächlich eine überaus reiche Literatur, in die alle möglichen Verbindungen und Widersprüche eingehen, inhaltlich wie stilistisch. Oft wird die Verwendung des Englischen oder einer anderen Kolonialsprache reflektiert, werden europäische Erzählweisen adaptiert, verfremdet, weiterentwickelt, werden Wörter und Wendungen aus den jeweiligen afrikanischen Sprachen eingestreut, ihre Rhythmen syntaktisch aufgenommen, ihre Klänge eingesetzt, Begriffe und Redewendungen eins zu eins übersetzt: „See Me Time“ für Rendezvous oder „eating hot coals“ für „sehr müde sein“.

„zuhören, ergründen, recherchieren, freilegen, Hunderte Bücher lesen“

Gerade dieser Reichtum fordert uns Übersetzer:innen mit schöner Regelmäßigkeit heraus – wobei manche Fragen sich immer stellen, egal ob aus dem Nachbarland oder von einem fernen Kontinent übertragen wird:

– Aus welcher/n Perspektive/n wird erzählt? Welche politische Haltung steckt dahinter? Wessen literarische Stimme erklingt? Wie wird das Verhältnis von (kolonialer) Vergangenheit zu (unabhängiger) Gegenwart gestaltet?

– Wie gehen wir mit Realien um und mit Bezügen auf hierzulande bislang völlig unbekannte Mythen, Riten, Traditionen?

– Inwiefern gehen Elemente der jeweiligen afrikanischen Sprachen und tradierten literarischen Formen in das englischsprachige Werk ein (gilt auch für Afrikaans, Arabisch, Französisch, Portugiesisch)? Wie erkennen wir transkulturelle Einflüsse?

– Und wie gehen wir damit um: Sollen wir Fremdes fremd belassen? Ein Glossar erstellen, einen Kommentar oder ein Nachwort verfassen? Wie vermeiden wir Bevormundung (und neokolonialistische Besserwisserei), ohne die deutsche Leserschaft zu überfordern – die wir doch gewinnen wollen, und zwar nachhaltig?

– Wie ist unsere eigene Haltung beim Übersetzen? Schließlich sind auch wir noch von einer eurozentrischen Weltsicht geprägt. Gleichzeitig besteht die Gefahr einer political correctness, neuerdings wokeness, gelegentlich auch fanatischen wikeness, die von postkolonialen Diskursen an amerikanischen und europäischen Universitäten befördert wird – man hat Angst, rassistische Vorurteile und Sprechweisen zu reproduzieren, aber genau diese Vorurteile und Sprechweisen werden ja von vielen afrikanischen Autor:innen verhandelt, aus historischer und gegenwärtiger Perspektive, und das zum Teil so bissig wie schonungslos, also ohne Tabus.

Wegen dieser vielen komplexen Fragen müssen auch wir „zuhören, ergründen, recherchieren, freilegen, Hunderte Bücher lesen“, bevor wir einen Roman übersetzen, der von einem fremden Land handelt. Und genau deswegen leisten auch wir – wenn wir uns mit der gebotenen Demut, Neugier, Offenheit, Akribie und Feinfühligkeit ans Werk machen – einen erheblichen Beitrag zur Dekolonisierung.

Auf Grundlage eines Vortrags, der am 14.07.2022 an der Freien Universität Berlin gehalten wurde, im Rahmen der Vorlesungsreihe „Naturalisation of the Foreign? Literary Translation from a Postcolonial Perspective“. Der Vortrag wurde aufgezeichnet. Das Video finden Sie hier.

References
01 Was heißt es, in Europa über Afrika zu sprechen? Ein Brief von Fiston Mwanza Mujila. Aus dem Französischen übersetzt von Katharina Meyer. In: Berliner Tagesspiegel vom 17.06.2022.
02 Das könnte sich mittelfristig ändern, unter anderem dank der Initiative von Wissenschaftlerinnen und Literarurvermittlern wie  Ainehi Edoro, Herausgeberin des Online-Literaturmagazins Brittle Paper oder Lidudumalingani Mqombothi, preisgekrönter Schriftsteller aus Südafrika, der die jüngste Ausgabe des Berliner African Book Festivals kuratiert hat.
03 Auch hier gerät einiges in Bewegung, beispielsweise dank der britisch-kenianischen Schriftstellerin, Übersetzerin und politisch aktiven Literaturwissenschaftlerin  Wangui wa Goro oder des Experten für Swahili-Literatur Rémi Armand Tchokothe, der aus Kamerun stammt und an der Universität Wien Komparatistik mit Schwerpunkt auf Afrikanische Literaturen lehrt. So sprachen beide auf der Translationale Berlin im Oktober 2022 aus afrikanischer Perspektive über Mehrsprachigkeit und Übersetzung.
04 Zum Artikel geht es hier.
05 In: Neue Rundschau (129. Jg. 2018), H. 2, S. 140-151 (übersetzt von Patricia Klobusiczky).