Die Tücken der Diglossie. Das Beispiel Paraguay
In Paraguay existieren Guaraní und Spanisch als Amtssprachen wie im Alltag neben- und miteinander, was sich auch in der Literatur des Landes niederschlägt. Was bedeutet das für das Übersetzen?
Paraguay ist nicht gerade das Land, das uns als Erstes einfällt, wenn wir an lateinamerikanische Literatur denken. Bis in die späten 1980er-Jahre hinein hörte man wenig von jenem Land, das über Jahrzehnte von dem Diktator Alfredo Stroessner regiert wurde. Es war weitgehend isoliert; außerhalb des Landes kannte man kaum einen Roman oder einen Gedichtband von dort.
Das Besondere an Paraguay ist die Tatsache, dass hier zwei Sprachen tatsächlich koexistieren: das Guaraní und das Spanische. Im Alltag wird vielfach auch Jopara gesprochen – eine Mixsprache. Guaraní ist die einzige indigene Sprache, die sich (bereits zu Kolonialzeiten) unter Nicht-Indigenen verbreitete und praktisch von allen im Land gesprochen oder zumindest verstanden wird. Laut Statistiken von 2022 sprechen viereinhalb der rund sieben Millionen Einwohner Guaraní, davon sind noch einmal die Hälfte einsprachig. Dabei leben im Land aber nur 140.000 Personen, die sich als Indigene identifizieren. Zwar gibt es auch andere offiziell mehrsprachige Länder auf dem Kontinent, allen voran Peru und der plurinationale Staat Bolivien, doch dort spricht der sich als „weiß“ oder „mestizisch“ identifizierende Teil der Bevölkerung normalerweise Spanisch und kein Quechua oder Aymará.
Die Zweisprachigkeit ist in Paraguay in der Verfassung von 1992 festgeschrieben. Die Linguistin Gaya Makaran beschreibt die Form der Nutzung beider Sprachen als Diglossie, denn es lassen sich recht klar Kommunikationssituationen abgrenzen, in denen Spanisch gesprochen wird, und andere, in denen das Guaraní bzw. Jopara überwiegt. Zwar gilt Spanisch nach wie vor als die Sprache mit dem höheren Prestige und die Angehörigen der gehobenen Gesellschaftsschichten sprechen praktisch ausschließlich Spanisch, doch sie verstehen Guaraní und viele Menschen scheinen es kaum zu merken, wenn sie im Redefluss von der einen in die andere Sprache wechseln. Oft sind die Übergänge vom paraguayischen Spanisch zum Guaraní auch phonetisch so „weich“, dass ausländische Besucher·innen, die Spanisch sprechen, überrascht und verwirrt sind, wenn sie mitten in einer Konversation plötzlich nichts mehr verstehen.
Die soziale Hierarchie äußert sich bereits im Namen: Auf Guaraní heißt die eigene Sprache „avañe‘ẽ“ („Sprache der Leute“), während Spanisch als „karaiñe‘ẽ“ („Sprache der Herren“) bezeichnet wird. Außerdem existiert ein Stadt-Land-Gefälle – je ländlicher das Umfeld, desto mehr wird Guaraní gesprochen. Die Verfassung und viele der Amtsformulare gibt es tatsächlich in beiden Sprachen, im Privatsektor hingegen spiegelt sich die Situationsgebundenheit der Nutzung beider Sprachen; die Formulare der Itaú-Bank etwa, mit denen man im Internet ein Bankkonto eröffnen kann, existieren ausschließlich auf Spanisch, möglicherweise weil Guaraní-sprechende Menschen für große Geldhäuser keine Zielgruppe darstellen.
Bei Jopara handelt es sich weniger um eine fixierte Misch- oder Kreolsprache. Vielmehr bewegen die unterschiedlichen Varianten des Jopara sich auf einer Art Skala zwischen zwei „Polen“, Spanisch und Guaraní, und nähern sich je nach Sprechenden und Situation einem der beiden an. Alle möglichen Spielarten kommen darin vor, beispielsweise Sätze, in denen einzelne Wörter Spanisch mit anderen auf Guaraní aneinandergereiht werden: „Es tu róga“ – „Das ist dein [Spanisch] Haus [Guaraní], sinngemäß „Fühl dich wie zu Hause“. Ebenso gibt es Satzkonstruktionen mit nach Guaraní-Grammatik konjugierten spanischen Verben: „Che alee“ – „Ich [Guaraní] lese [Spanischer Verbstamm mit Guaraní-Präfix zur Konjunktion]“. „Reines“ Guaraní ist allerdings selten zu hören, am ehesten noch an der 2012 gegründeten staatlichen „Academia de la Lengua Guaraní“ oder in Situationen, in denen Paraguayer·innen in Gegenwart von Ausländer·innen sicherstellen möchten, dass sie nicht verstanden werden. Da die Sprechenden selbst im Alltag meist nicht klar zwischen Jopara und Guaraní unterscheiden, werde auch ich im weiteren Verlauf beide Begriffe mehr oder weniger synonym verwenden.

Straßenszene in Concepción/Nordparaguay. Die Schilder bewerben die „Agroveterinaria Ko’etĩ“ = „Nutztierarztpraxis [Spanisch] Früher Morgen [Guaraní]“ ©Kerstin Teicher
Dass Menschen in Paraguay in Situationen, in denen sie sich von Angehörigen anderer Nationen abgrenzen wollen, Guaraní sprechen, zeigt aber auch, dass die Sprache durchaus als Identitätsmerkmal aufgefasst wird. Auch Mitglieder der gehobenen Gesellschaftsschicht und Städter, die eigentlich nur Spanisch sprechen und sich eindeutig als Weiße, Nicht-Indigene identifizieren, berufen sich auf Guaraní als „ihre“ Sprache, als Merkmal ihrer Kultur und Nationalität. Anders ist es in den Nachbarländern, vor allem Brasilien und Argentinien, wo es ebenfalls Guaraní-Sprechende gibt; hier beschränkt sich die Nutzung des Guaraní auf Indigene (sowie auf Eingewanderte aus Paraguay).
Die Akademie für Guaraní bemüht sich um eine Fixierung der Orthografie und Grammatik, aber ganz abgeschlossen ist diese Arbeit noch nicht, da es z.T. unterschiedliche Schreibweisen für ein und dasselbe Wort gibt. Ohnehin wird selten auf Guaraní oder Jopara geschrieben. In der wörtlichen Rede kommt Jopara aber auch in Romanen vor.
Das Verfassen und Veröffentlichen von Erzählungen, Gedichten und Romanen blieb in lateinamerikanischen Ländern bis dato überwiegend der gebildeten Oberschicht vorbehalten und findet somit in einem spanischsprachigen Umfeld statt. Paraguay sei kein Land der Buchleser, erzählte der Autor Nelson Aguilera mit Bedauern, als ich ihn vor ein paar Jahren in Asunción interviewte. Im Schnitt, so hatte er 2019 aus Statistiken der Nationalbibliothek erfahren, würden ca. 10 Buchseiten pro Jahr gelesen.
Ein anderer Autor, Osvaldo González Real, stellt 2013 in einem Essay ebenfalls pauschal fest: „Es sabido que los paraguayos menosprecian la letra escrita.” Allerdings findet er eine historische Begründung der „Geringschätzung des geschriebenen Worts“ seitens seiner Landsleute: Wie viele Völker Amerikas hatten die Ureinwohner keine Art von Schrift, die ihre Sprache oder ihre Geschichte(n) fixiert hätte. Die mündliche Überlieferung ihrer Mythen und Legenden beschreibt er als „kollektive, tolerante (sic!), flexible Praxis“. Die spanischen Eroberer hingegen beriefen sich auf das geschriebene, fixierte Wort und benutzten es zur Zementierung ihrer Überlegenheit und Unterdrückungspraktiken. Die lokale Bevölkerung, so González Real, entwickelte daher eine Abneigung gegen Schriftliches. Diese Ablehnungshaltung scheint in Paraguay allerdings stärker ausgeprägt als in anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen sich die Geschichte ähnlich abspielte. Gleichzeitig ist das Guaraní bis heute viel präsenter als andere indigene Sprachen in ihrer jeweiligen Region. Gibt es hier vielleicht einen Zusammenhang?
Ab hier wird es spannend für die Übersetzungskunst. Nur sehr wenige paraguayische Autoren sind über die Landesgrenzen hinaus oder gar in Deutschland bekannt, noch weniger wurden übersetzt, darunter vor allem Augusto Roa Bastos (1917-2005), dessen Hauptwerk allerdings im argentinischen und französischen Exil entstanden ist. Aufgrund der Komplexität seines Werkes haben ihn nur wenige gelesen. Autorinnen sind bislang keine ins Deutsche übersetzt worden.
In der Bibliothek des Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts gibt es ein unveröffentlichtes Manuskript von 1980 des Philologen Frank Haller, der darin die Verwendung des Guaraní in Roa Bastos‘ „Hijo de Hombre“ („Menschensohn“) analysiert. Dabei zitiert er Kritiken zum Text, die teils wohlwollend, teils vorwurfsvoll darauf hinweisen, dass das Guaraní von Roa Bastos sich vom alltäglichen Guaraní unterscheidet, was, so die Kritiken, darin begründet sei, dass der Autor zur „guaraní-fernen“ Oberschicht gehöre. Vielleicht, so meine Einschätzung, dachte er aber auch schon an eine nichtparaguayische Leserschaft – er schrieb ja im Exil.
Im Romantext finden sich an vereinzelten Stellen Substantive, Kurzformen von Eigennamen, kurze Redewendungen und Volksliedtexte auf Guaraní, manchmal mit nachgestellter, in den Textfluss integrierter Übersetzung ins Spanische. Curt Meyer-Clason verfährt in der deutschen Übersetzung ebenso, ergänzt jedoch ein zweiseitiges Glossar am Ende des Buches. Leider erwähnt Frank Haller keine Einzelheiten über den Prozess der Übersetzung des Werkes ins Deutsche, obwohl das Buch hier bereits 1962 erschienen ist.
Vor einiger Zeit las ich den 2017 erschienenen Roman „Codicia“ („Gier“) von Maribel Barreto (1936-2022). Die Handlung: Nach dem Ableben ihres Mannes nimmt eine Witwe gemeinsam mit ihren Töchtern die Geschicke der Familie und ihrer Finca in die Hand und verteidigt letztere gegen diverse Interessenten aus dem Umfeld, die ihr nach dem Erbe trachten. Die überwiegend aus der Perspektive einer weiblichen Protagonistin erzählte Geschichte spielt in einem machistischen Umfeld, in dem vordergründig die Männer das Sagen haben, obwohl tatsächlich die Frauen alles selbst regeln. Da ich diese Diskrepanz bei meinem mehrjährigen Aufenthalt in Lateinamerika vielfach beobachtet hatte, spielte ich mit dem Gedanken, das Buch einem deutschsprachigen Verlag zur Übersetzung vorzuschlagen.
Barreto war Mitglied der Academia Paraguaya de la Lengua Española, also der lokalen Dependance der Königlichen Spanischen Akademie (Real Academia Española), und hatte zahlreiche hoch geschätzte Romane veröffentlicht. Dabei war sie sich des Einflusses des Guaraní auf die literarische Produktion ihres Landes sehr bewusst und lieferte in ihren wissenschaftlichen Beiträgen auch konkrete Beispiele bis hin zu zweisprachigen Lyrikproduktionen.
Auch diese Autorin betonte in wissenschaftlichen Beiträgen die literarische Bedeutung der Oralität in ihrem Land, und vielleicht begründet sich darin die formale Besonderheit dieses Romans: „Codicia“ ist als Fließtext geschrieben, aber fast ausschließlich in direkter Rede abgefasst. Die Figuren erzählen die gesamte Handlung selbst, sei es in gesprochener Rede oder als innere Monologe.
Wie ist Barreto mit dem Aspekt der Bilingualität in ihrem Text umgegangen? Anders als Roa Bastos hat sie nicht substantivische Begriffe oder stehende Redewendungen, sondern eher Partikeln oder Adverbien auf Guaraní eingestreut – so wie es in der realen Alltagssprache zu hören ist. Sie nehmen sich aus wie kleine Eisberge im Meer der spanischen Worte – und vermutlich liegen vier Fünftel dessen, was diese kleinen sprachlichen Einwürfe an kultureller Einzigartigkeit in sich tragen, unter der Oberfläche verborgen. Wie aber lässt sich diese Diglossie (Guaraní/Spanisch) ins Deutsche übertragen?
Die folgende kurze Passage soll dazu dienen, mögliche Übersetzungsstrategien zu diskutieren. Es handelt sich um den inneren Monolog eines Dienstmädchens, dem zuvor aufgetragen wurde, der Tochter des Hauses einen Streich zu spielen, indem sie so tut, als ob sie den Geist ihres verstorbenen Vaters sähe:
hace gracia, me voy a divertir esta noche:
Das finde ich lustig, ich werde Spaß haben diese Nacht:
tengo que gritar mucho de susto gua’u y voy a decir que le veo al finado
Ich muss viel schreien vor Schreck gelogen und werde sagen, dass ich den Verstorbenen sehe
en un sillón sentado todo de blanco gua’ú.
auf einem Sessel sitzend ganz in Weiß gelogen
Va a dar gusto ite lo que voy a hacer cuando sirva la cena a Montse.
Das wird sehr gefallen, was ich machen werde, wenn ich Montse das Abendessen serviere
Ahora hína ella está estudiando en el escritorio de su papá.
Jetzt gerade lernt sie am Schreibtisch ihres Vaters.
(S.34; Wörter auf Guaraní sind kursiv hervorgehoben.)
Obwohl der Schauplatz des Romans (eine Ranch im ländlichen Ostparaguay) sowie die soziale Herkunft des Dienstmädchens es plausibel machen würden, dass diese ausschließlich auf Guaraní/Jopara denkt und spricht, enthält der Absatz nur einige Worte auf Guaraní: “ gua’u“ bedeutet so viel wie „Lüge“, die Partikel „ite“ lässt sich in etwa mit „genau“ übersetzen und „hína“ ist ebenfalls eine Partikel zur Hervorhebung oder Verstärkung des Worts, auf das sie sich bezieht, hier in etwa übersetzbar mit „gerade“.
Hier vier mögliche Vorgehensweisen beim Übersetzen:
- Könnte man in dieser Passage einen Beisatz einfügen, in dem auf den Gebrauch des Jopara hingewiesen wird, also eine Erweiterung am Ende des Satzes im Sinne von „sagte das Mädchen teils auf Guaraní“. Doch bei einem inneren Monolog zu erwähnen, in welchen Sprachen die Figur vor sich hindenkt, ist abwegig.
- Könnte man, wie oben bei Roa Bastos, die drei eingestreuten Guaraní-Worte im Deutschen stehen lassen und entweder daselbst oder in einem Glossar erläutern. Dies würde sich besonders bei jenen Begriffen anbieten, die es in der Zielsprache, also im Deutschen, nicht gibt. Diese Lösung findet sich z.B. in der deutschen Übersetzung von „Los ríos profundos/Die tiefen Flüsse“ des peruanischen Autors José María Arguedas (1911-1969), der Lieder, Redewendungen und Gegenstände auf Quechua belässt – auch im Original mit spanischen Parallelübersetzungen und Glossar. Da jedoch im obigen Zitat die eingesetzten Partikeln problemlos übersetzbar sind, muss den Lesenden kein Glossar zugemutet werden.
- Könnte man die betreffenden Wörter in eine Sprache übersetzen, die bezogen auf das Deutsche sozial und kulturell ähnliche Konnotationen hat wie das Guaraní in Paraguay.In der Literatur aus anderen Teilen der Welt kann das funktionieren, zum Beispiel in Indien. Dort, so erklärte mir eine befreundete Hindi-Dozentin, werden viele Übersetzungen von literarischen Werken für den inländischen Markt erstellt, die Übersetzungen erscheinen also im gleichen Land wie das Originalwerk.Ein ursprünglicher Hindi-Text beispielsweise, der bengalische Passagen oder Wörter enthält, wird ins Englische übersetzt und die bengalischen Wörter ins Hindi.Doch da es diese Art der Mehrsprachigkeit im deutschsprachigen Raum nicht gibt, können wir diesen Weg nicht beschreiten.
- Möglich wäre es ferner, an diesen Stellen eine Varietät des Deutschen zu verwenden, die sich in ihrer Syntax, Lexik oder auf phonetischer Ebene vom (hochsprachlichen) Rest des Textes abhebt. Hierfür eine regionale Variante, einen Dialekt, zu wählen, ist aber problematisch. Warum sollte ein paraguayisches Dienstmädchen auf einmal sächsisch sprechen?Außerdem wird Guaraní ja nicht in bestimmten Regionen gesprochen; sein Gebrauch ist vielmehr, siehe oben, an die jeweilige kommunikative Situation und die sozioökonomische Herkunft des Sprechenden gebunden.
Also entscheide ich mich für eine Art Soziolekt. Kurze Sätze, vereinfachte, fast kindliche Syntax, ein übersichtlicher Wortschatz.
Das wird lustig, heute Abend werde ich Spaß haben: Ich soll so tun, als ob ich ganz erschreckt bin und laut schreien, dass ich dort, auf dem Sessel, den Toten sehe und dass der ganz weiß aussieht. Das wird ein Spaß, genau so mach ich das, wenn ich Montse das Abendessen bringe. Jetzt gerade sitzt sie am Schreibtisch von ihrem Vater und lernt.
Doch auch diese Entscheidung überzeugt nicht vollends. Zum einen fehlt die Zweisprachigkeit des Originals im deutschen Text, was ich als Verlust empfinde. Zum anderen denke ich darüber nach, warum Maribel Barreto nur die Rede des Dienstmädchens mit Guaraní-Markern spickt und nicht die der anderen handelnden Personen, obwohl es realistisch wäre, dass diese ebenfalls Guaraní bzw. Jopara sprechen. Je „bildungsferner“ die Figur, desto eher spricht sie Guaraní? Sollte eine versierte Autorin, die sich zudem eingehend mit der Populärkultur Paraguays beschäftigt hat und explizit für Oralität und Mehrsprachigkeit wirbt, einem derart plumpen Sprach-Rassismus verfallen sein? Und wenn dem so ist, will ich sie dann über die Grenzen ihres Landes hinaus bekannt machen?
Barreto ist nicht die einzige Autorin, bei der dieses Phänomen zu beobachten ist. Nelson Aguilera (geb. 1961) verfährt im Roman „Blumen im Feuer“ (den ich übersetzt und 2017 im Selbstverlag veröffentlicht habe) ganz ähnlich und vielleicht noch plumper: Hier wird neben den Redeweisen der einfachen Leute auch die der Kriminellen mit Guaraní-Partikeln markiert. Dennoch bin ich froh, dass es das Buch auf Deutsch gibt, denn nur wenige Intellektuelle Paraguays legen so vehement und mutig den Finger in die Wunde der allgegenwärtigen Korruption im Land wie dieser Jugendbuchautor, der auch Mitglied im paraguayischen PEN-Club ist. Die Guaraní-Partikeln sieht man in der deutschen Übersetzung (leider) nicht.
Recht dünnes Eis, dieses Übersetzen von Diglossien wie der guaraní-spanischen in Paraguay. In den letzten Jahren hat sich eine sehr kritische Sichtweise auf die kolonialen Praktiken der Europäer in verschiedenen Teilen der Welt entwickelt. Sie ist erweiterbar auf die Frage nach kolonialen Sprachstrategien. Doch bei allem guten Willen, die indigene Sprache so weit wie möglich in den spanischen Texten „freizulegen“ und sichtbar zu machen – ist dies von den Autor·innen überhaupt gewünscht, frage ich mich in Hinblick auf Barreto oder Aguilera?
Vielleicht würde hier ein Blick über den Tellerrand helfen. Das Phänomen der Sprachmixtur trägt ja nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in Indien und Afrika je verschiedene Züge. Wie gehen „dort“ die jeweiligen Übersetzer·innen mit der Diglossie um?
Die dritte Frage, die sich aus den Überlegungen hier ergibt, betrifft den Charakter der Oralität der paraguayischen Prosa und Lyrik – was González Real auch als Gattung der „Oratura“ gegenüber der „Literatura“ benennt. Lässt sich mündliche Textkunst übersetzen und dem Publikum zugänglich machen?
Bevor alles zu weit führt, noch der Verweis auf den schriftlichen Bestand: Rund zweihundert Bände Prosa und Lyrik auf Guaraní stehen im Berliner Ibero-Amerikanischen Institut, darunter sehr viele, die in den letzten 15 Jahren publiziert wurden. Einige Werke alternieren zwischen Guaraní/Jopara und Spanisch. Doch es gibt kaum Übersetzer·innen aus dem Guaraní, und noch immer werden diese Werke, wenn überhaupt, dann über den Umweg der „Kolonialsprache“ – des Spanischen – ins Deutsche übertragen. Es ist Zeit, dies zu ändern.
Verwendete Literatur (Auswahl):
– Nelson Aguilera, Blumen im Feuer. Norderstedt: BoD 2017.
– Maribel Barreto, Codicia. Asunción: Servilibro, 2017.
– Maribel Barreto „El Guaraní subyacente en la literatura paraguaya en castellano”, in: Agulha Revista de Cultura, 2021, http://arcagulharevistadecultura.blogspot.com/2021/01/maribel-barreto-el-guarani-subyacente.html (zuletzt aufgerufen am 11.01.2025).
– Osvaldo González Real, „La oralidad en la literatura paraguaya”. In: Portal Guaraní, 2013. https://www.portalguarani.com/441_osvaldo_gonzalez_real/22348_la_oralidad_en_la_literatura_paraguaya__ensayo_de_osvaldo_gonzalez_real.html (zuletzt aufgerufen am 11.01.2025).
– Frank Haller, Die Verwendung des Guaraní in dem Roman „Hijo de Hombre“ von Augusto Roa Bastos. Kaiserslautern (unveröffentlichtes Manuskript), 1980.
– Instituto Nacional de Estadística, Republik Paraguay (2022): Resultados Preliminares – Censo Indígena https://www.ine.gov.py/censo2022/documentos/Revista_Censo_Indigena.pdf, zuletzt aufgerufen am 30.12.2024.
– Wolf Lustig, Kauderwelsch, Guarani für Paraguay Wort für Wort. Bielefeld: Reise Know-How Verlag, 2006.
– Gaya Makaran: „El mito del bilingüismo y la colonización lingüistica del Paraguay”, in: De Raíz Diversa. Revista especializada en Estudios Latinoamericanos. Bd. 1 Nr. 2 (Oktober-Dezember 2014). México D.F.: PPELA – UNAM.
– Augusto Roa Bastos, Menschensohn. Frankfurt a.M. 1994: Fischer.
Gespräche:
– Dr. Monika Freier, Dozentin für Hindi an der Humboldt-Universität zu Berlin, im Oktober 2021.
– Nelson Aguilera, Asunción, im Oktober 2019.