Kleine und starke Sprachen. Philippinische Mehrsprachigkeit übersetzen
Was macht eine Sprache ‚klein‘? Die Frage führt in das Flimmern zwischen unterschiedlichen philippinischen Sprachen, in poetische und institutionelle Gefilde.
Was große und kleine Sprachen sind, ist im Alltag der Buchbranche klar: Wird viel übersetzt oder wenig? Am größten ist die Zahl der Übersetzungen aus dem Englischen, auch eine Handvoll Bücher aus dem philippinischen Englisch haben deutsche Verlage gefunden.[01]So zum Beispiel Miguel Syjuco, Die Erleuchteten, aus dem Englischen übersetzt von Hannes Riffel, Klett-Cotta 2011; Ninotchka Rosca, Maskentanz, aus … Fußnote lesen Ganz anders sieht es für Filipino aus. Eine literarische Übersetzung aus dieser Sprache ist bisher nicht erschienen, sie ist also klein.[02]Ich habe einen Gedichtband von Luna Sicat Cleto (Bago mo ako ipalaot. (Bevor Du mich treiben lässt). UP University Press 2012) ins Deutsche … Fußnote lesen Wobei sie von ziemlich vielen Leuten gesprochen wird. Der Versuch zu bestimmen, wieviele das genau sind, führt in unübersichtliche Verhältnisse:
Auf den Philippinen leben knapp 110 Millionen Menschen, das Land ist ein Archipel aus rund 7.000 Inseln. Im offiziellen Atlas der Sprachen des Landes[03]Komisyon sa Wikang Filipino. Mga Wika ng Filipinas (Die Sprachen der Philippinen), gefunden am 24.2.2022. sind 130 einheimische Sprachen verzeichnet, die meisten gehören zur austronesischen Sprachfamilie, sind also mit Bahasa Indonesia, aber auch mit Malagasy (Madagaskar) und den Sprachen Ozeaniens bis nach Hawaii verwandt. Einige davon sind so klein, dass sie vom Aussterben bedroht sind. In der nationalen Komisyon sa wikang filipino (Kommission für die philippinische Sprache) sind Vertreter:innen von Idiomen vertreten, die als Verkehrssprachen in einzelnen Regionen dienen, zum Beispiel Ilokano, Cebuano oder Ilonggo. Seit der Unabhängigkeit des Landes von den USA (1946) hat sich neben der Kolonialsprache Englisch über die Unterhaltungsindustrie und die Volksschulen eine einheimische Nationalsprache stärker etabliert. Sie beruht auf der Regionalsprache der Hauptstadt Manila, Tagalog, und heißt offiziell Filipino – nur schon die Endung macht deutlich, dass dreihundert Jahre spanische Kolonialherrschaft (1569 – 1898) einen starken Einfluss darauf hatten. Schätzungen darüber, wieviele Leute sich heute in Filipino unterhalten können, reichen bis zu 80 Prozent der Bevölkerung. Das wären über 80 Millionen Menschen, also in etwa die Bevölkerung Deutschlands. Ist das klein?
Zahlenmäßig nicht, mit einer Vision der Gleichwertigkeit aller Sprachen vor Augen schon gar nicht. Ein kritischer Blick auf die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse zwischen Sprachräumen fördert aber noch andere Kriterien dafür zu Tage, was als „klein“ gelten kann. Die Nachwirkungen und Aktualisierungen des Kolonialismus, die Claudia Hamm in diesem Magazin analysiert hat, sind auch für die Philippinen zu konstatieren. Ich möchte hier fragen, welche institutionellen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine Sprache groß wird, das heißt, stark im internationalen Markt. Wobei die Arbeit an konkreten Textstellen auch eine andere Bedeutung des Wortes „stark“ eröffnet.
Menschen und Maschinen
Ganz zu Anfang ihres neuen Buches Traduction et violence[04]Tiphaine Samoyault, Traduction et violence, Seuil. Collection Fiction & Cie 2020. (Übersetzung und Gewalt) zeigt die französische Schriftstellerin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault, wie die Ausbreitung der maschinellen Übersetzung das ungleiche Verhältnis zwischen großen, imperialen und kleinen, minoritären Sprachen verschärft. Übersetzungsprogramme lernen ungeheuer schnell, immer besser zu übersetzen. Damit das machine learning, das Selberlernen der Maschinen, aber funktioniert, müssen die Programme gefüttert werden. Ohne ein Korpus an guten menschlichen Übersetzungen kann sich das Programm schlecht entwickeln. So ist nicht verwunderlich, dass DeepL-Übersetzungen vom Französischen ins Englische ganz akzeptabel sind, aber facebook koreanische Posts in ein groteskes Deutsch übersetzt, die Kombination von Urdu mit einer kongolesischen Regionalsprache kann ich nicht überprüfen. Je mehr eine Sprachkombination gepflegt worden ist, umso besser sind heute die Programme. Wenn bisher praktisch nichts übersetzt wurde, dann greifen sie auf sogenannte Relaissprachen zurück: Englisch, Mandarin, vielleicht noch Spanisch oder Französisch. Filipino wird also zuerst auf Englisch und erst in einem zweiten Schritt auf Deutsch übersetzt. Das erhöht nicht nur die Fehlerquote, in diesem Prozess verstummt die Resonanz eines spezifischen Sprachpaars zugunsten eines neutralisierenden Filters, den dominante Sprachen bilden. Für Tiphaine Samoyault stellt diese Perspektive den gewalttätigen Pol dessen dar, was Übersetzung sein kann: Das Versprechen von totaler Transparenz, von einfacher universeller Verständigung, in der die Eigenheiten der einzelnen Sprachen planiert werden – das Unübersetzbare, das ein Begehren zu übersetzen oft erst entfacht, ist ausgelöscht.[05]Ich fasse hier Gedanken des Buches Traduction et violence sehr grob zusammen. Tiphaine Samoyault schreibt auf S. 10: „La traduction peut devenir … Fußnote lesen
Diese Konstellation ist nicht neu, Samoyault verortet sie in der kolonialen Tradition. Auch beim manuellen Übersetzen muss ich mit Englisch-Filipino-Wörterbüchern arbeiten, weil auf Deutsch nur ein ganz kleiner Diktionär vorliegt.[06]H.P.Kelz und H.F.Samson, unter Mitwirkung von W.Drossard, Wörterbuch Filipino – Deutsch, Deutsch – Filipino, Ferd. Dümmler Verlag 1998. In unglaublichem Tempo entstehen aber neue Englisch-Filipino-Wörterbücher im Internet, oft über Werbung finanziert, so verkommen sie auch schnell wieder. Um eine direkte Verbindung ins Deutsche zu etablieren, habe ich vor sechs Jahren begonnen, ein eigenes Wörterbuch anzulegen. Es ist ein sehr persönliches Arbeitsinstrument, weil es zu einem Wort und seinen Ableitungen markante Leseeindrücke und Erlebnisse festhält. Es speichert also möglichst breit gefächerte Beispielsätze und die Versuche, sie zu übersetzen. Die Arbeit daran mag angesichts der rasanten Entwicklung maschineller Übersetzungshilfen anachronistisch erscheinen, aber beim Übersetzen sind meine Dateien oft hilfreicher als rein maschinell erstellte Listen von Beispielsätzen. Denn hier halte ich Momente aus realen Gesprächen fest und auch Sätze, die mir in der Begegnung mit dem Text einer spezifischen Autorin oder eines Autors besonders sprechend erschienen sind. So wird beim Wiederlesen ein Netz dichter Erinnerungen wachgerufen, damit auch emotionale und imaginäre Schwingungen, die für das Schreiben eines literarischen Textes Voraussetzung sind. Sprache hat sich im persönlichen Wörterbuch nicht in einen subjektlosen Code verwandelt.[07]Als Beispiel für ein maschinengeneriertes Zitate-Verzeichnis kann das Wortschatz-Lexikon der Universität Leipzig dienen, das auf Babelwerk unter … Fußnote lesen
Wie heißt diese Sprache nochmal?
„Ein Konflikt ist fast immer von einem Übersetzungsproblem begleitet“[08] Traduction et violence, S. 61, Übersetzung A.H. Im Original: „Un conflit est presque toujours accompagné d’un problème de traduction.“, schreibt Tiphaine Samoyault. Das bewahrheitet sich schon bei der Frage, wie ich die Sprache nennen soll, aus der ich übersetze. Noch ist nicht entschieden, ob auf dem Gedichtband von Luna Sicat Cleto, der hoffentlich bald erscheinen wird, stehen soll: „übersetzt aus Filipino“, „übersetzt aus Tagalog“ oder „übersetzt aus dem Philippinischen“, vielleicht „aus dem Philippinischen (Tagalog)“. Jede Variante knüpft an eine andere Position im unübersichtlichen Feld der philippinischen Sprachenpolitik an.
Kritik am Begriff Filipino hört man zum Beispiel in regionalen Zentren wie Cebu, er erscheint da als Anmaßung der Hauptstädter:innen. Die Vision, die der erste Präsident des Landes, Manuel Quezon, mit der Nationalsprache verband, ist in der heute gültigen Verfassung von 1987 in folgenden Worten festgehalten: „The national language of the Philippines is Filipino. As it evolves, it shall be further developed and enriched on the basis of existing Philippine and other languages.“[09]Übersetzung A.H.: „Die Nationalsprache der Philippinen ist Filipino. In ihrer Evolution soll sie auf der Grundlage der auf den Philippinen … Fußnote lesen Wie das ganze Rechtssystem und weite Teile des öffentlichen Lebens ist diese Verfassung in Englisch gehalten. Filipino hat sich auch in der höheren Bildung nicht durchgesetzt, trotzdem werden kleinere Regionalsprachen durch Tagalog/Filipino bedrängt. Die wachsende Bedeutung dieser Nationalsprache taucht als Argument im aktuellen Diskurs über das „imperiale Manila“ auf, den der amtierende Präsident Rodrigo Duterte bedient. Wobei Filipino in den Foren seiner patriotischen, anti-elitären Anhänger:innen einen wichtigen Platz einnimmt. Sie verteidigen dort auch den sogenannten „Krieg gegen Drogen“, in dessen Vollzug Polizeikräfte und Vigilante-Gruppen seit Juli 2016 weit über 20.000 Menschen erschossen haben. So hat diese Regierung die Ansätze von Rechtsstaatlichkeit, die seit dem Ende der Marcos-Diktatur 1986 aufgebaut worden sind, weitgehend zerstört. Dutertes Markenzeichen – langes Raunen vor Mikrophonen in einem sehr umgangssprachlichen Filipino, das mit häufigen Invektiven und sexistischen Witzen gespickt ist – kann in einer Art Ekeleffet auch Teile der Mittelschicht bestärken, die Englisch als ihre wichtigste Sprache wählen. Dann begegne ich gerade im künstlerischen Milieu auch Stimmen, die jede Standardisierung von Filipino als Verlust von Authentizität und Lebendigkeit beklagen und deshalb lieber von Tagalog sprechen.
Wie in vielen ehemaligen Kolonien steht hier ein finanziell schwach ausgerüsteter Staat, der sich in einigen Regionen gar nie richtig etabliert hat, vor Herausforderungen, die an Komplexität die historischen Aufgaben der Nationenbildung in Westeuropa übersteigen. So erstaunt es wohl nicht, dass ein richtig gutes, über Jahrzehnte hinaus gepflegtes, mono-linguales Wörterbuch von Filipino weiterhin aussteht.[10]Der Pambansang Diksyonario sa Filipino (Nationaler Diksionär des Philippinischen) setzt zwar in fast schon programmatischer Art und Weise den … Fußnote lesen
Teufel und Diwata
Das Unübersetzbare, das mein persönliches Begehren, philippinische Literatur zu übersetzen, anregt, nährt sich auch aus den unübersichtlichen Verhältnissen. Der vielsprachige Alltag kommt in der Gegenwartsliteratur in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck. Dazu zwei aktuelle Beispiele: Allan N. Derains Aswanglaut[11]Allan N. Derain, Aswanglaut, Ateneo de Manila University Press 2021. ist auf Filipino geschrieben, Caroline Haus Tiempo Muerto[12]Caroline Hau, Tiempo Muerto, Ateneo de Manila University Press 2019. in philippinischem Englisch. Beide Romane verbindet aber die ständige Präsenz anderer Idiome – die Erzählstimmen sind offen für Umleitungen und Überblendungen, die sich durch die alltägliche Kreuzung von Sprachen ergeben.
Der realistisch geschriebene Roman Tiempo Muerto lässt nach einem verheerenden Taifun zwei Frauen auf einer fiktiven Insel zusammentreffen. Racel sucht ihre Mutter, die vermisst wird. Sie trifft auf Lia, Tochter des Großgrundbesitzers, dem die ganze Insel gehört. Auch Lia sucht nach der Mutter von Racel, denn die war einmal ihr Kindermädchen. Die folgende kleine Passage spielt in Singapur, wo Racel jetzt ebenfalls als Hausangestellte arbeitet. Sie ist ursprünglich Lehrerin, verdient aber mit ihrer aktuellen Arbeit deutlich mehr und ist auch froh, von ihrer Herkunftsinsel weggekommen zu sein. Sophie heißt das Mädchen, für das sie verantwortlich ist. Seine Eltern sprechen eine der südchinesischen Sprachen, die in ethnisch chinesischen Familien Südostasiens verbreitet sind, und die Standardsprache Mandarin. Racel, die Erzählerin des Textes, hat ihren Job auch deshalb erhalten, weil sie Sophie ein akzeptables Englisch weitergeben kann. In diesen mehrsprachigen Haushalt dringt die Erstsprache Racels, Ilonggo, insgeheim ein, wenn sie dem Mädchen Geschichten erzählt. Aus einer solchen Szene stammen folgende Sätze:
„Wait! I forgot to ask what happened to Malitong Yawa Sinagmaling Diwata?“ I am tickled by how easily Sophie pronounces the Hiligaynon name as if Ilonggo were her native tongue. „Not sure. The story doesn’t say.“ „Like Helen of Troy“, says Sophie.
„Warte! Ich vergass zu fragen, was mit Malitong Yawa Sinagmaling Diwata weiter geschah?“ Mir schmeichelt die Art, wie Sophie diesen Namen ausspricht, als sei Ilonggo ihre Muttersprache. „Weiss nicht. Dazu sagt die Geschichte nichts.“ „Wie bei Helena in Troia“, sagt Sophie.
Dieser Übersetzungsversuch für den Zweck dieses Essay befriedigt mich noch nicht. Ist es legitim, die Situation auf Deutsch zu vereinfachen, indem ich die Zweit-Bezeichnung der Sprache Ilonggo, Hiligaynon, weglasse? Gäbe es eine Übersetzung für native tongue, die den Begriff „Mutter“ auslässt? Die Figur Racel hat nämlich bei aller Zugewandtheit einen nüchternen Blick auf ihre Arbeit, sie möchte nicht Sophies Mutter sein, das soll die Übersetzung also nicht insinuieren. Für das Verb to tickle habe ich eine unkörperliche Bedeutungsvariante gewählt, vermute aber hinter Caroline Haus Verwendung auch einen Anklang des philippinischen Worts kilig, das in populären Umfragen nach Lieblingsworten oft oben ausschwingt. Gerade weil es als unübersetzbar gilt. Es bezeichnet eine Art inneren Kitzel, der mit großer Wärme des Gefühls und sanfter Erregung verbunden ist. Am schwierigsten ist aber die Frage, wie mit dem langen Namen Malitong Yawa Sinagmaling Diwata umzugehen wäre. Philippinischen Leser:innen ist er aus dem Versepos Hinilawon bekannt, der heute zum Schulstoff zählt. Wer Filipino spricht, erkennt das Wort Diwata als Göttin, wobei die Wesen, auf die sich dieses Wort bezieht, im Deutschen auch so etwas wie Feen sein können. Vorausgesetzt, naturreligiöse Figuren aus Südostasien lassen sich mit Wesen aus dem verschütteten europäischen Animismus vergleichen.
Auch in Allan N. Derains Roman Aswanglaut kommt Nagmalitong Yawa Sinagmaling Diwata vor, denn der Autor schöpft aus der Figurenwelt des Hinilawon-Epos eine fantastische, um nicht zu sagen eine Fantasy-Welt, in der sich ein Mädchen nach der Hinrichtung seiner Mutter in ein magisches Krokodil verwandelt. Gleichzeitig bereitet sich das Dorf, das bereits von einem spanischen Priester missioniert wird, auf den Einfall von Piraten aus einem südlichen Sultanat des Archipels vor. Derain macht deutlich, dass der Erzähler aus einer modernen Großstadt über eine weit vergangene Zeit spricht. Dieser erwähnt mehrmals explizit, dass das Filipino, das er verwendet, nicht die Sprache ist, die in der Geschichte gesprochen wird, und schon gar nicht die Sprache der zahlreichen Geisterwesen und Tiere, die eine Rolle spielen. In einem Exkurs denkt er darüber nach, dass Yawa im Namen der besagten Göttin Teufel bedeutet. Nagmalitong Yawa Sigmaling Diwata ist eine Figur, die als barmherzige Beschützerin, aber auch als todbringende Verführerin auftreten kann. Um Yawa auf Filipino näher zu bezeichnen, verwendet er demonyo, was vom Spanischen her als Dämon übersetzt werden könnte, aber im philippinischen Alltag oft für den christlichen Teufel steht. Dieses Schillern im Gehalt des Wortes ist besonders pikant, wenn man sich an einen der schönsten Texte aus der Zeit der Revolution gegen Spanien erinnert, Isabelo de los Reyes Erzählung El Diablo en Filipinas von 1887.[13]Der Text ist heute erhältlich in einer zweisprachigen Ausgabe mit Reyes’ eigener Version auf Tagalog und einer neuen englischen Übersetzung von … Fußnote lesen Gelangweilt von einer Totenwache zieht sich eine Gruppe von Freunden ins Bibliothekszimmer des Hausherrn zurück und stöbert plaudernd in dessen Sammlung spanischer Chroniken. Sie kommen, in zunehmend betrunkenem Zustand, über zahlreiche laut vorgetragene Textstellen zu dem Schluss, dass die Berichte über den heidnischen Glauben der Einheimischen nicht vor-christlichen Religionen, sondern einer Obsession der spanischen Invasoren entsprangen. Die sahen Teufel, wohin sie nur blickten. Das spricht alles dafür, wie Allan N. Derain dafür zu sorgen, dass die Bezeichnung Yawa, die tatsächlich aus einem vorchristlichen Epos stammt, im Text verbleibt, auch in der Übersetzung. Obwohl es reizvoll wäre, den ganzen Namen der mythologischen Figur zumindest einmal klangvoll auszudeutschen.
„Anak, may mga sumalbahe ba sa iyo?“, fragt im Roman Aswanglaut ein Vater seine Tochter, nachdem sie aus unruhigem Schlaf aufgewacht ist. Er will wissen, ob ihr im Traum ein Leid geschehen ist. Das Verb sumalbahe hat ein Bedeutungsfeld, das von „gewaltsam angreifen“ bis „verspielt und ungezogen sein“ reicht. Es ist aus dem Wort salbahe gebildet, dem Spanischen salvaje für wild. Ich könnte diese Überlagerung von Sprachen im Deutschen nachbilden, indem ich den Satz mit einem neu gebildeten Anglizismus versetze: „Kind, hat Dich jemand bewildert?“ Allerdings setzt sich Allan N. Derains literarische Sprache gerade dadurch von der Alltagssprache ab, dass sie englische Einsprengsel vermeidet. Das Wort „wild“ muss aber unbedingt vorkommen, um die nachfolgende Passage einzuleiten. So wähle ich vorläufig ein Wort, das wild im Deutschen mit Aggression verbindet:
„Kind, hat dich jemand wildwütig gefoppt?“ Wobei unmöglich ist, dass Udoy damals so gefragt hat nach der wilden Wut. Denn in jener Zeit nannte man die Wilden auch Barbaren und sie selbst waren die Wilden, also Barbaren, die gerade erst von den Bergen abgestiegen waren und sich im Flachland alle Mühe gaben, den Anforderungen des Lebens im Pueblo gerecht zu werden. Aber wir wissen ja, was er sagen wollte.
„Anak, may mga sumalbahe ba sa iyo?“ Bagamat imposibleng gano’n nga ang pagkakatanong noon ni Udoy tungkol sa mga salbahe. Dahil sa panahong iyon, „barbaro“ ang ibig sabihin ng salbahe at sila ang mga salbahe dahil sila ang mga barbarong dating mga tagabundok na kailan lang nagsusumikap makibagay sa patag dala ng pangangailangang mabuhay sa pueblo. Pero alam na natin ang ibig niyang sabihin.
Die Fülle an historischen Bezügen, die in der Verbbildung sumalbahe stecken, lässt sich im Deutschen unmöglich vollständig wiedergeben. Aber die Art und Weise, wie Allan N. Derain damit spielt, bestärkt den Wunsch, es trotzdem zu versuchen. Die Art, wie er schreibt, rührt an eine Vision, die Édouard Glissant formuliert: Dass ein literarischer Text im Bewusstsein aller anderen Sprachen geschrieben sei.[14]Édouard Glissant, Für eine Poetik der Vielheit. Übersetzt von Beate Thill. Verlag das Wunderhorn 2005, S. 30-33. Für weitere Querbezüge zur … Fußnote lesen Angesichts der Gewalt, die ein mehrfach kolonisiertes Land wie die Philippinen erlebt hat, scheint es fast ein Wunder, wie lebendig und kräftig sich einige seiner Sprachen in der Literatur, der populären Musik, dem Film und dem Alltagswitz zeigen. Sie mögen sich auf dem internationalen Markt (noch) nicht durchsetzen, beweisen aber eine Form von Stärke, die Tiphaine Samoyault in Anlehnung an Evelyne Grossman und Paolo Bellomo[15]Traduction et violence, S. 182. skizziert: Eine Sensibilität für die Gegenwart anderer Sprachen und die Offenheit, sich in der Begegnung zu verändern. Wie sich diese Stärke mit der notwendigen staatlichen oder institutionellen Unterstützung von Sprachen verbinden lässt, ist eine schwierige Frage. Darauf gute praktische Antworten zu finden, scheint mir für die Zukunft der sogenannten kleinen Sprachen zentral.
↑01 | So zum Beispiel Miguel Syjuco, Die Erleuchteten, aus dem Englischen übersetzt von Hannes Riffel, Klett-Cotta 2011; Ninotchka Rosca, Maskentanz, aus dem Amerikanischen übersetzt von Gisela Stege, Droemer Knaur 1992; F. Sionil José, Szenen aus Manila, aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Martini und Helmi Martini-Honus, Horlemann 1990. |
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↑02 | Ich habe einen Gedichtband von Luna Sicat Cleto (Bago mo ako ipalaot. (Bevor Du mich treiben lässt). UP University Press 2012) ins Deutsche übersetzt. Das Buch ist allerdings noch nicht erschienen. Litprom e.V. engagiert sich seit diesem Jahr in einem vielversprechenden Projekt für die Promotion philippinischer Literatur. |
↑03 | Komisyon sa Wikang Filipino. Mga Wika ng Filipinas (Die Sprachen der Philippinen), gefunden am 24.2.2022. |
↑04 | Tiphaine Samoyault, Traduction et violence, Seuil. Collection Fiction & Cie 2020. |
↑05 | Ich fasse hier Gedanken des Buches Traduction et violence sehr grob zusammen. Tiphaine Samoyault schreibt auf S. 10: „La traduction peut devenir aussi l’outil principal de la marche vers un monde isolé, où chacun n’approche l’autre que par le petit bout de l’oreillette. La transparence est violence. Tout en se gardant bien d’observer ces évolutions sur le mode de la hantise ou de l’angoisse, il paraît donc important de penser autrement l’ensemble des processus de communication; et, pour cela aussi, de comprendre la traduction comme une operation ambiguë, complexe, capable du meilleur comme du pire. Il faut rappeler elle a manifesté dans l’histoire des rencontres culturelles, qui sont aussi des histoires de domination.“ |
↑06 | H.P.Kelz und H.F.Samson, unter Mitwirkung von W.Drossard, Wörterbuch Filipino – Deutsch, Deutsch – Filipino, Ferd. Dümmler Verlag 1998. |
↑07 | Als Beispiel für ein maschinengeneriertes Zitate-Verzeichnis kann das Wortschatz-Lexikon der Universität Leipzig dienen, das auf Babelwerk unter Handwerk/Nachschlagewerke aufgeführt ist. Für die Sprache Tagalog kann man hier Suchbegriffe eingeben, das Programm liefert – Stand 23.2.2022 – mehrheitlich Sätze aus der Boulevardzeitung abante. Das heißt, alle Nuancen des literarischen oder wissenschaftlichen Gebrauchs der Sprache sind nicht abgedeckt. |
↑08 | Traduction et violence, S. 61, Übersetzung A.H. Im Original: „Un conflit est presque toujours accompagné d’un problème de traduction.“ |
↑09 | Übersetzung A.H.: „Die Nationalsprache der Philippinen ist Filipino. In ihrer Evolution soll sie auf der Grundlage der auf den Philippinen vorhandenen und anderer Sprachen weiter entwickelt und bereichert werden.“ (The Constitution of the Republic of the Philippines) |
↑10 | Der Pambansang Diksyonario sa Filipino (Nationaler Diksionär des Philippinischen) setzt zwar in fast schon programmatischer Art und Weise den Verfassungsgedanken der Anreicherung um, allerdings um den Preis, dass sehr viele alltäglich verwendete Worte darin keinen Platz finden. Nach wie vor besteht er aus einem einzigen Buch, ist also ein Anfang. Ausdruck der schwachen Staatlichkeit ist die Personalisierung dieses Projekts, das ganz an den Schriftsteller Virgilio Almario gebunden scheint. Die institutionelle Abstützung ist fragil: Die ersten zwei Auflagen erschienen im Verlag der staatlichen University of the Philippines, die dritte Auflage 2021 beim Verlag der Jesuitenuniversität Ateneo de Manila University Press. Meine Erfahrungen beim Benützen der zweiten Auflage des Nachschlagewerks decken sich weitgehend mit der Einschätzung, die Ramon Guillermo, Rhandley D. Cajote und Aristeo Logronio publiziert haben (UP Diksiyunaryong Filipino: Sinonismong Walang Hangganan. Quezon City: Daluyan, Journal ng Wikang Filipino, 2015/2). |
↑11 | Allan N. Derain, Aswanglaut, Ateneo de Manila University Press 2021. |
↑12 | Caroline Hau, Tiempo Muerto, Ateneo de Manila University Press 2019. |
↑13 | Der Text ist heute erhältlich in einer zweisprachigen Ausgabe mit Reyes’ eigener Version auf Tagalog und einer neuen englischen Übersetzung von Benedict Anderson, Carlos Sardiña Galacha und Ramon Guillermo: Isabelo de los Reyes’s Ang Diablo ayon sa nasasabi sa mga casulatan luma ng Kastila, Anvil Publishing 2014. |
↑14 | Édouard Glissant, Für eine Poetik der Vielheit. Übersetzt von Beate Thill. Verlag das Wunderhorn 2005, S. 30-33. Für weitere Querbezüge zur Vision Glissants eines Welt-Ganzen und „archipelischen Denkens“ sei nochmals auf den Essay von Claudia Hamm in diesem Magazin verwiesen. |
↑15 | Traduction et violence, S. 182. |