Von aufmüpfigen Trollen und bösen Ratten

Tove Jansson, ihre Übersetzerin Dorothea Bjelfvenstam und die deutschsprachige Mumin-Literatur: Eine Geschichte über Seelenverwandtschaft, Courage und Widerstand.

Autorin und Malerin Tove Jansson in ihrem Atelier (1956), Foto: picture alliance / Reino Loppinen | Lehtikuva

Für alle, die im Metier des Sprachtransfers arbeiten, ist sie ein alter Hut, die von Friedrich Schleiermacher 1813 erstmals formulierte Unterscheidung zwischen der „verfremdenden“ und der „einbürgernden“ Übersetzung. Also zwischen einer Methode, bei der die kulturell und/oder historisch bedingte Andersartigkeit eines fremdsprachigen Werks bewusst bewahrt wird, und dem Versuch, das Werk bei der Übertragung dem aktuellen Stand und lebensweltlichen Kontext der Zielsprache so weit anzugleichen, dass die Unterschiede möglichst unsichtbar werden. In der Praxis findet sich meist ein Kompromiss zwischen den beiden Verfahren.

Die frühe Übersetzungsgeschichte der Mumin-Bücher der finnlandschwedischen Autorin, Zeichnerin und Malerin Tove Jansson (1914-2002) liefert erhellende Einsichten zur unverminderten Relevanz von Schleiermachers Dichotomie vor wechselndem Zeithintergrund. Gegenwärtig gilt die „einbürgernde“ Übersetzungsmethode als erwünscht, und gerne wird dabei mit „Zumutbarkeit“ argumentiert. Im Genre der Kinder- und Jugendliteratur mit ihrem immer auch erzieherischen Auftrag finden sich die auffälligsten Belege für eine Praxis, die keineswegs neu ist, auch wenn die dahinterliegenden Motive sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung verändern. Gerade weil die heutige Debatte um Rücksichtnahme („Sensitivity Translating“) ganz anderen Kriterien folgt als der Eifer, mit dem man um die Mitte des 20. Jahrhunderts versuchte, bei Übersetzungen das zu verändern, was man in Texten für unzumutbar hielt, ist ein Rückblick in jene Epoche heute umso interessanter.

Der Boom, den Kinder- und Jugendbücher aus Skandinavien in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hierzulande erlebten, stand unter zwiespältigen Vorzeichen: Einerseits verdankte sich ihr Erfolg einer Fremdheit, der ein kulturell anders gearteter Blick auf Kinder, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten zugrunde lag. Andererseits wurde der zwanglosere, eigenwilligere Ton dieser Bücher im konservativen Klima der deutschen Nachkriegszeit als Irritation wahrgenommen, dem man in den Übersetzungen glaubte gegensteuern zu müssen. Oder, wie es die 1933 in Königsberg geborene, in Stockholm lebende Übersetzerin Dorothea Bjelfvenstam formuliert: „In Deutschland radierte der pädagogische Zeigefinger gern alles Geheimnisvolle, Hintergründige, womöglich Gefährliche oder nur Angedeutete aus.“

Cover: Sort of Books

Als im Jahr 2009 die deutsche Fassung von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf auf politische Korrektheit überprüft und, dies vor allem, der „Negerkönig“ durch den „Südseekönig“ ersetzt wurde (was im schwedischen Originaltext nach langen Debatten sechs Jahre später geschah), kam auch ans Licht, dass Generationen deutschsprachiger Pippi-Fans mit purifizierten Versionen der Bücher aufgewachsen waren. Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre, als die ersten Übersetzungen entstanden, fahndete man allerdings nicht nach neokolonialistischen oder rassistischen Anklängen, sondern stieß sich nachkriegsbiederdeutsch an der Widerspenstigkeit und Unkonventionalität der jungen Heldin. So ersetzte man beispielsweise den Fliegenpilz, den sie im Original kühn und folgenlos verzehrt, durch einen Steinpilz, und man versuchte, ihren Hang zu absurden Wortspielen, die im Schwedischen eine lange Tradition haben, aus den deutschen Dialogen zu tilgen.[01]Stichnothe, Hadassah: Geliebt, geändert, kritisiert: die Übersetzung von „Pippi Langstrumpf“. In: TraLaLit, Magazin für übersetzte Literatur, … Fußnote lesen

Anders als heute wurden derartige Maßnahmen damals nicht öffentlich diskutiert. Tove Janssons künstlerisch illustrierte Mumin-Erzählungen, die bei näherer Betrachtung gar keine Kinderliteratur sind, sondern ein eigenes, poetisch-satirisches Genre bilden, waren bei ihrer Ankunft im deutschen Sprachraum von assimilatorischen Eingriffen besonders stark betroffen. Doch auch nachdem sie, nicht zuletzt dank Dorothea Bjelfvenstam, diesem Korsett entronnen waren, erlangten sie bei uns nie die Popularität des Werks von Astrid Lindgren, blieben vielmehr eine Lektüre für Individualisten und Eingeweihte.

Von den insgesamt neun Bänden, die (zum Teil in mehreren Versionen der Autorin) in Finnland zwischen 1945 und 1970 erschienen, wurde 1954 zuerst der dritte, Trollkarlens hatt (Der Hut des Zauberers) unter dem Titel Eine drollige Gesellschaft ins Deutsche übersetzt, ein Jahr später der fünfte, Farlig midsommar (Gefährlicher Mittsommer), der bei uns Sturm im Mumintal hieß, und 1961 folgte mit Komet im Mumintal der eigentlich zweite Band, im Original Kometjakten (Kometenjagd). Übersetzt wurden diese drei Bücher von der finnlandschwedischen Theaterdirektorin Vivica Bandler und ihrem aus Österreich nach Finnland eingewanderten Ehemann Kurt, beide Freunde der Autorin.

Es war ein kurioser Zufall, dass ausgerechnet der katholische Schweizer Verlag Benziger die Mumins für sein Programm entdeckte. Kaum minder kurios ist, dass die deutschen Rechte für Tove Janssons Werk heute beim anthroposophisch geprägten Verlag Urachhaus liegen: Mit keiner der beiden weltanschaulichen Richtungen hatte die Autorin irgendeine Berührung. Ihre Auszeichnung mit der Nils-Holgersson-Plakette im Jahr 1953 wies sie als Verfasserin pädagogisch wertvoller Kinderliteratur aus. Ihre Sozialisation als politische Karikaturistin war im deutschsprachigen Raum lange ebenso unbekannt wie ihr Liebesleben, das damals auch in Finnland noch der Camouflage bedurfte. Hätte man bei Benziger geahnt, dass sie mit Vivica Bandler eine Liaison unterhielt, wäre man vermutlich schockiert gewesen. Aber auch ohne dieses Wissen zeigte der Verlag sich überfordert von Janssons skurrilen, aufmüpfigen Fantasiewesen und der sublimen Vielschichtigkeit dieser Erzählprosa. Der Lektor nahm deshalb an den übersetzten Texten erhebliche Veränderungen vor, gegen die Tove Jansson und das Ehepaar Bandler zwar protestierten, die aber erst seit den Neunzigerjahren untersucht und dokumentiert wurden.[02]Bode, Andreas: Ausländische Wörter aus dem Hut des Zauberers. Die Übersetzungen der Muminbücher ins Deutsche. In: Literatuur zonder Leeftijd, 34, … Fußnote lesen

Dorothea Bjelfvenstam auf dem Festival „Tove22“ (organisiert durch die Von der Vring-Gesellschaft). Foto: Wolfgang Mauersberger

Die Eingriffe erfolgten vor allem in Form von Hinzufügungen, wertenden Adjektiven, moralisierenden Erklärungen, Verharmlosungen und Verniedlichungen. Die fröhlich anarchische Muminwelt sollte so weit wie möglich in bürgerliche Familienstrukturen verwandelt werden, inklusive der Einführung von Tugenden wie Arbeitsethos und „Tüchtigkeit“, die dem Zeitgeist der frühen deutschen Wirtschaftswunderjahre entsprachen.

Der Anfang von Tove Janssons Farlig midsommar etwa lautet in der wörtlichen Übersetzung des schwedischen Originals:

„Mumintrolls Mutter saß im Sonnenschein auf der Treppe und takelte ein Borkenboot. Wenn ich mich recht erinnere, hat eine Galeasse zwei große Segel hinten und mehrere kleine dreieckige vorn am Bugspriet, dachte sie.“

In der Benziger-Fassung Sturm im Mumintal von 1955 liest sich diese Passage so:

„Die gute Muminmutter saß auf der Treppe und arbeitete. Die Sonne strahlte sie freundlich an, und ihr Gesicht war vor Eifer gerötet. Ein hübsches kleines Borkenboot lag in ihrem Schoß, mit schlanken kleinen Masten. An diese Maste nähte sie weiße Segel, eines nach dem anderen. ,Ein tüchtiges Schiff ist das‘, dachte sie stolz. ,Und ein tüchtiges Schiff muß tüchtige Segel haben, vorne zwei große und rückwärts auch kleine‘, dachte sie und blinzelte. Dann nähte sie weiter, hopp, hopp, hopp.“

Oft waren es nur Nuancen, die den Charakter einer Aussage veränderten. Wenn die Muminmutter „aufgeräumt“ erklärte, sie werde heute nicht abwaschen (das schwedische upprymd lässt sich auch mit „beschwingt“ oder „heiter“ wiedergeben), machte Benzigers Lektor daraus: „‘Heute wasche ich nicht ab‘, erklärte die Muminmutter übermütig“, was suggerierte, dass die Hausfrau hier über die Stränge schlägt. Auch an Sauberkeitserziehung wurde gedacht.

„Es war überall nass. Pfui, wie unangenehm, sagte Mumin und hob die Füße hoch im schmelzenden Schnee“,

lautet eine Stelle im schwedischen Original, die deutsche Version dagegen:

„Überall war es noch feucht und schmutzig. ‚Pfui, ist das ein Dreck!‘ schimpfte Mumin und hüpfte mit behendem Sprung über die Wassertümpel hinweg.“

Die zahlreichen Eingriffe bei den ersten deutschen Mumin-Übersetzungen beschädigten die Texte in ihrer Substanz, sehr zum Leidwesen nicht zuletzt der Bandlers, die unter anderem deswegen beschlossen, sich als Übersetzer zurückzuziehen. Wie Tove Jansson selbst auf die drastische „Einbürgerung“ ihrer Werke reagierte, wissen wir von Dorothea Bjelfvenstam: Sie schuf ab 1962 in enger Zusammenarbeit mit Jansson die wohl feinfühligsten deutschen Versionen der Muminbücher und blieb mit der Autorin in einer langjährigen Korrespondenz verbunden, von der sie in bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen erzählt. Unpubliziert sind bislang auch die über achtzig handgeschriebenen Briefe Tove Janssons, die sich in ihrem Besitz befinden.

Tove Jansson. Foto: Per Olov Jansson, © Moomin Characters™

Bjelfvenstam, in Königsberg und Berlin aufgewachsen, war 1955 nach Schweden emigriert – mit einer großen Liebe zur Literatur und dem Wunsch, Bücher aus dem Schwedischen zu übersetzen. Durch die Bekanntschaft mit Nelly Sachs geriet sie an den Benziger-Verlag, und der empfahl sie Tove Jansson, die sogleich Kontakt mit ihr aufnahm. So kam es, dass 1963, von ihr übersetzt, der in Finnland 1950 erschienene Band Muminpappans Bravader unter dem deutschen Titel Muminvaters wildbewegte Jugend publiziert wurde. Da hatte sich zwischen der Autorin und ihrer neuen Verbündeten schon eine wunderbare Freundschaft in Briefen entwickelt.

Begonnen hatte dieses schriftliche Gespräch auf den Seiten eines Buches. Denn Tove Jansson hatte Dorothea Bjelfvenstam zur Einstimmung den Benziger-Band Eine drollige Gesellschaft geschickt (bei dem schon die deutsche Titelwahl einiges an Biedersinn verriet). In dem Exemplar wimmelt es von empörten Unterstreichungen und Kommentaren der Verfasserin – ein einzigartiges Dokument. In Dorothea Bjelfvenstams Erinnerungen heißt es: „Fast auf jeder Seite findet man ihre humoristischen, auch boshaften Bemerkungen. Mit dicker Tinte an den Rand geschrieben. Manchmal mindestens drei Ausrufezeichen oder Schlaufen an den Seitenrändern, wo ganze Sätze ausgelassen worden sind. Daneben steht dann „Idiot!“ oder „Esel!“ oder „unbeschreibliche und konsequente Einfalt“. Man findet kleine Zeichnungen, z.B. eine kleine böse My, oder „man sollte die Polizei rufen!“

Mentalitätsgeschichtlich besonders aufschlussreich ist ein Beispiel, das Bjelfvenstam erwähnt: Als Tofslan und Vifslan, zwei schüchterne Wesen, am Muminhaus auftauchen, ruft die Muminmutter aus dem Fenster „Kaffee!“, worauf die beiden sich vor Schreck durch die Luke in den Kartoffelkeller stürzen. „Die Muminmutter glaubt, es seien zwei Ratten, und bittet Sniff, ihnen etwas Milch hinunterzubringen. Aber die deutsche Mutter ruft: „…Pfui! Das waren sicher zwei böse Ratten, die in den Keller schlüpften… Schnüferl, lauf hinunter und sieh nach!“

Wohl als Reaktion auf Tove Janssons Einspruch, aber auch auf das sich wandelnde gesellschaftliche Umfeld, veröffentlichte der Verlag 1961 und 1962 überarbeitete Fassungen der beiden ersten Bände, die näher an der Vorlage blieben und den Mumins ihren unbürgerlichen Lebensstil wenigstens teilweise beließen. Und als die Bandlers mit Komet im Mumintal ihre letzte Übersetzung ablieferten, waren die Änderungen des Lektorats entsprechend gemäßigter. Aber noch immer herrschte das Prinzip behütender Bevormundung und fürsorglicher Belehrung, das manche Übersetzer heute, wenngleich unter völlig anderen Vorzeichen, im Phänomen des „Sensitivity Reading“ und „Sensitivity Translating“ wiederfinden. Nur dass ein eventueller Widerstand dagegen sich heute kaum mehr so expressiv und zugleich humoristisch artikulieren würde wie damals im Austausch zwischen Jansson und Bjelfvenstam.

Doch in dem Briefwechsel der beiden wird das Amüsement über die Borniertheit des Lektorats schon bald abgelöst durch einen lebhaften Austausch über Details und Feinheiten der Mumin-Übersetzungen einerseits, andererseits über Fragen, die heute unvermindert brisant sind: Wie lässt sich die Integrität eines literarischen Kunstwerks gegen Übergriffe, nicht nur sprachlicher Art, verteidigen (Benziger hatte auch einen Teil der Illustrationen eliminiert und die von Jansson gestalteten Umschläge durch andere ersetzt); und ist es möglich, durch eine solidarische Allianz von Autorin und Übersetzerin bei Konflikten in der Zusammenarbeit mit einem Verlag neue Konstellationen zu schaffen?

Selbstporträt von Tove Jansson mit ihren Mumin-Charakteren, © Moomin Characters™

Im Jahr 1964 hatten Jansson und Bjelfvenstam, nach hartnäckigen Verhandlungen mit Benziger, gemeinsam erreicht, dass in den Vertrag für den Band Det osynliga barnet (Das unsichtbare Kind), der 1966 auf Deutsch unter dem nichtssagenden Titel Geschichten aus dem Mumintal herauskam, eine Klausel eingefügt wurde, die sie (leider mit Ausnahme der Titelfindung) gegen unqualifizierte Eingriffe des Lektorats schützte. Das galt auch für die Illustrationen. Im englischsprachigen Vertragstext war das so formuliert: „…submitting the proof copy, containing the printed illustrations, oft the book to the proprietor’s and the translator’s inspection and correction, and to keep these corrections, as long as they haven’t to do with pure grammar questions, when putting it in print“. Außerdem wurden die Originalnamen der Figuren wiederhergestellt, die von den Bandlers eingedeutscht und zum Teil austriakisiert worden waren (etwa „Sniff“ zu „Schnüferl“). Diesem Band und den drei folgenden, Trollvinter (Zauberwinter, deutsch: Winter im Mumintal, 1968), Pappan och havet (Der Vater und das Meer, deutsch: Mumins Inselabenteuer, 1970) und Sent i november (Spät im November, deutsch: Herbst im Mumintal, 1972), in denen Janssons Muminprosa den Kinderbuchstatus vollends hinter sich lässt und zu hochliterarischer Form aufläuft, konnte Dorothea Bjelfvenstam, nun weitgehend unbehelligt von erzieherischer Einmischung des Verlags, eine dem finnlandschwedischen Original ebenbürtige deutschsprachige Gestalt verleihen.

In ihrer ersten Jansson-Übersetzung, den Memoiren des Muminvaters, wird anschaulich, aus welcher Quelle sich die rebellische Natur dieser Trollfamilie speist: Der Arme verbrachte seine Kindheit in einem streng reglementierten Waisenhaus.

„Lieber Leser, stell dir ein Muminhaus vor, in dem alle Zimmer ordentlich nebeneinanderliegen, viereckig und nur in einer einzigen Farbe gestrichen: pilsnerbraun. Ihr glaubt mir nicht? Muminhäuser müssen unvermutete Winkel und Verstecke haben, Treppen, Balkone und Türme. Das findet ihr doch auch! Aber hier? Nichts! Noch schlimmer: Niemand durfte nachts aufstehen und etwas essen oder schwatzen oder spazierengehen. (Wir durften nur gerade aufs Töpfchen gehen.) Ich durfte kein liebes Krabbeltierchen mit nach Hause bringen und unter dem Bett haben. Es war genau vorgeschrieben, wann ich mich zu waschen und wann ich zu essen hatte. Wenn ich grüßte, mußte ich meinen Schwanz mit einem Winkel von 45 Grad aufrichten. Wer vermag über so etwas zu reden, ohne Tränen zu vergießen!“

Der Ausbruch steht hier kurz bevor, und damit der Aufbruch in eine Welt voll merkwürdiger Figuren und unkorrekter Abenteuer, einschließlich der Gründung einer „Kolonie der Gesetzlosen“, die einen pädagogisch konservativ gesinnten Übersetzungslektor hätten zur Verzweiflung bringen können. Aber zum Glück hatte man damals bei Benziger, auch vor Inkrafttreten der juristischen Vereinbarung, schon weitgehend die Waffen gestreckt.

Mit der ihr eigenen Bescheidenheit blickt Dorothea Bjelfvenstam heute selbstkritisch auf ihre Arbeit zurück, findet „Fehler und Missverständnisse“. Aber sie weiß auch: „Als Übersetzender erfährt man oft, wie schwer es ist, sich mit dem Original zu identifizieren. Eine gute Voraussetzung dafür ist gegeben, wenn Autor und Übersetzer seelenverwandt sind – wesensgleich!… Ich wollte meine Übersetzungen dem Original von Tove Jansson wesensgleich machen.“ Und die Seelenverwandtschaft, das zeigen die erhaltenen Briefe, war hier exzeptionell.

Dorothea Bjelfvenstam übersetzte (neben Werken von Olof Lagercrantz, Lars Norén und anderen) von Tove Jansson außerdem den „Erwachsenenroman“ Sommarboken, der 1976 als Sommerbuch im Paul List Verlag erschien. Zuvor hatte sie, wiederum in lebendigem Dialog mit der Autorin, die Übersetzung von Bildhuggarens dotter (Tochter des Bildhauers) angefertigt, aber das Manuskript verschwand unter nie geklärten Umständen bei Benziger. 1987 kam das Buch bei Rowohlt TB heraus, übersetzt von Birgitta Kicherer, die dann, nachdem der Arena Verlag 1986 die Rechte von Benziger gekauft hatte, sämtliche Muminbücher neu übertrug, erstmals auch den ersten Band aus dem Jahr 1945, Småtrollen och den stora översvämningen (Die kleinen Trolle und die große Überschwemmung), der auf Deutsch seit 1992 als Mumins lange Reise vorliegt. Über die Gründe für jenen Wechsel ist nichts bekannt. Dorothea Bjelfvenstams lakonischer Kommentar: „Das ist eine andere Geschichte.“

Den Kennerinnen und Kennern unter den Mumin-Liebhabern gelten ihre Übersetzungen immer noch als die schönsten. Es ist zu hoffen, dass eines nahen Tages auch ihr Bericht über die Korrespondenz und Freundschaft mit Tove Jansson samt den überlieferten Briefen der Künstlerin veröffentlicht wird, denn es findet sich darin eine Fülle inspirierender Gedanken und Denkanstöße für Übersetzende: Das Ganze ist ein kurzweiliges Lehrstück über den prinzipiellen Irrtum weltanschaulich motivierter „Einbürgerungen“ – und ein ermutigendes Beispiel dafür, wie Autor·innen und Übersetzer·innen gemeinsam erfolgreich dagegen rebellieren können.

 

Weiterführende Links:

Interview mit Dorothea Bjelfvenstam, geführt von Klaus-Jürgen Liedtke, veröffentlicht auf baltic sea library (2022)
Biogramm von Dorothea Bjelfvenstam im Germersheimer Übersetzerlexikon UeLEX (2023)

References
01 Stichnothe, Hadassah: Geliebt, geändert, kritisiert: die Übersetzung von „Pippi Langstrumpf“. In: TraLaLit, Magazin für übersetzte Literatur, 19.10.2022.
02 Bode, Andreas: Ausländische Wörter aus dem Hut des Zauberers. Die Übersetzungen der Muminbücher ins Deutsche. In: Literatuur zonder Leeftijd, 34, 1995, S. 189–203.