Die Hohe Schule der Eva Rechel-Mertens
Ein Teil des Nachlasses von Eva Rechel-Mertens, die in den 1950er Jahren Prousts gesamte „Verlorene Zeit“ übersetzte, liegt in Marbach. Petra Bös präsentiert Einblicke in den Kosmos dieser Übersetzungsleistung.
Als Eva Rechel-Mertens im Februar 1953 damit beauftragt wird, binnen fünf Jahren Prousts siebenbändige „Recherche“ zu übersetzen, ist sie 58 Jahre alt und hat in der BRD längst einen Ruf als literarische Übersetzerin – u. a. mit Übertragungen von Simone de Beauvoir, Honoré de Balzac und Jean-Paul Sartre. Im Jahr 1895 geboren, hatte Rechel-Mertens sich bereits in den 1930er-Jahren mit Übersetzungen der Werke des französischen Nobelpreisträgers Roger Martin du Gard und Marie Gevers hervorgetan, doch die Übersetzung eines literarischen Œuvres wie Prousts À la recherche du temps perdu war eine Aufgabe einer anderen Größenordnung. Obwohl sie zum Zeitpunkt der Annahme des Auftrags noch mit der Übertragung von Balzacs Erzählungen für den Manesse Verlag in Zürich beschäftigt war, für deren druckfertige Manuskriptabgabe bis Ende Februar 1953 sie sich verpflichtet hatte, und obwohl sie wusste, dass ihr spätestens im Frühsommer noch ca. 500 Seiten Korrekturfahnen ins Haus standen[01]Vertrag mit dem Manesse-Verlag in Zürich, Teilnachlass Eva Rechel-Mertens, DLA Marbach, (im folgenden „Teilnachlass ERM“), Kasten 229, … Fußnote lesen, versprach sie dem Suhrkamp Verlag im Februar 1953 die Abgabe des ersten Bandes bis 31. Juli 1953. Mit diesem Auftrag wird sie nicht nur in die Proust-Übersetzungsgeschichte eingehen, sondern auch in die der bundesdeutschen Nachkriegszeit.
In ihrem Nachlass, der sich nur in Teilen in Marbach erhalten hat, finden sich Dokumente, die belegen, dass sie durch Empfehlung von Professor Ernst Robert Curtius zu dem Auftrag kam. Seit ihrer Promotion im Jahr 1924 über Balzac hatte er sich verschiedentlich für sie eingesetzt – bei Universitäten ebenso wie bei Magazinen und Verlagen, mit denen er in Kontakt stand. Er kannte offensichtlich ihre Fachkompetenz und schätzte sie umso mehr, da es damals nur wenige kosmopolitisch gebildete professionelle Übersetzer gab.

Zur Proust-Übersetzungsgeschichte
Nachdem 1926 der erste Band der Recherche unter dem Titel Der Weg zu Swann in der (damals sehr umstrittenen) Übersetzung von Rudolf Schottlaender, und 1927/1930 die beiden Folgebände Im Schatten der jungen Mädchen und Die Herzogin von Guermantes in der Übersetzung von Franz Hessel und Walter Benjamin erschienen waren, wurde es in Deutschland während der NS-Zeit still um Proust. Die restlichen Bände blieben unübersetzt. Nach Kriegsende erwarb der Suhrkamp Verlag im Oktober 1949, wohl auf Hermann Hesses Vorschlag, die Rechte an allen sieben Bänden. Man wollte nachholen, was in anderen Ländern längst erfolgt war: eine vollständige deutschsprachige Ausgabe, übersetzt aus einer Hand. Suhrkamp hatte zunächst den damals noch im Exil lebenden Proust-Kenner Wolfgang Hirsch als Übersetzer angefragt, doch der winkte ab und schrieb:
„Als die schlechte Schottlaendersche Übersetzung von „Swannˮ herauskam, hatte – soweit ich weiß – Prof. Curtius vorgeschlagen, dass eine seiner Schülerinnen unter seiner Aufsicht die Übersetzung in die Hände nehme. Dieser Plan ließe sich in variierter Form möglicherweise auch heute noch verwirklichen, wenn Sie dem (mir persönlich unbekannten) Gelehrten in Bonn einen Besuch abstatten.ˮ[02]Brief von Wolfgang Hirsch an Peter Suhrkamp, 28. Oktober 1952, DLA, SUA: Suhrkamp, Peter Suhrkamp Archiv. Korr. zu Proust, 1950-1959 II, A-Z.
Und so muss es geschehen sein, denn im Dezember 1952 wandte sich der Suhrkamp-Lektor Friedrich Podszus erstmals an Rechel-Mertens und nach einem Treffen mit ihr berichtete er an Peter Suhrkamp:
„Gleich uns meint sie, daß ein deutscher Proust trotz des Unsterns, trotz der verlegerischen Schwierigkeiten von eminenter Bedeutung für die deutsche Literatur, vor allem auch für die heranwachsende Jugend sei, die allzu sehr im Wirkungsschatten der angelsächsischen, insbesondere der amerikanischen Literatur experimentiere. Sie deutete an, dass ihr die Aufgabe so wert sei, dass sie ihre Lehrtätigkeit an der Universität aufgeben würde.“[03]Brief Friedrich Podszus an Peter Suhrkamp, 29. Dezember 1952, Teilanchlass ERM, Kasten 240.
So begann eine Erfolgsgeschichte. Im Nachlass der Übersetzerin findet sich eine Vielzahl dunkelblauer Oktavhefte[04]Teilnachlass ERM, Kasten 335., die zeigen, dass Rechel-Mertens‘ Vater seine Töchter bereits in jungen Jahren sprachenübergreifend unterrichtete (Griechisch, Latein, Italienisch, Französisch und Englisch). Dass sie diese Hefte zeitlebens aufbewahrte und nach ihrem Tod dem Archiv überantwortete, zeugt davon, wie wichtig ihr selbst diese Vielsprachigkeit gewesen sein muss – frühe Belege ihrer polyglotten Weltansichten, die dringend benötigte, wer Proust übersetzen wollte und die den Grundstein ihres europäischen Selbstverständnisses bildeten. Schließlich darf die Tatsache, dass Übersetzerinnen und Übersetzer sich für die Texte entscheiden, die sie übersetzen, weil etwas in ihnen selbst mit dem jeweiligen Text „korrespondiert“, nicht unterschätzt werden.
Der Übersetzungsvertrag, der sich im Nachlass erhalten hat, ist datiert auf den 21. März 1953[05]Teilnachlass ERM, Kasten 234, Mappe 2., doch Eva Rechel-Mertens begann bereits im Februar 1953 mit der Übersetzung, denn der Vertrag sah vor, dass sie ab Februar ein monatliches Salär von 500 DM erhalten sollte – ein Vorgehen, das sie selbst vielleicht am meisten überraschte, denn in ihrem Schreiben an Dr. Suhrkamp vom 18. Januar 1953 bezeichnete sie sich als „begriffsstutzig“[06]Brief an Dr. Suhrkamp, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1.. Damals dürften 500 DM nicht gerade wenig gewesen sein, denn ein durchschnittliches Jahreseinkommen laut Statistischem Bundesamt, das heute bei ca. 45.000 € liegt, belief sich damals auf etwa 4.000 DM.
Die Abgabe des 1. Bandes wurde auf Ende Juli 1953 festgesetzt, was für Eva Rechel-Mertens eine große zeitliche Herausforderung gewesen sein dürfte, auch wenn sie bereits seit ihrer Studienzeit bei Prof. Curtius mit der Thematik vertraut war. Für die Abgabe des druckfertigen Manuskripts des letzten Bandes Le temps retrouvé war der 31.03.1957 vereinbart. Ein derartiges Werk – mit seiner reichen Sprache, den komplex gebauten, langen Sätzen, die auch im Französischen nicht gewöhnlich waren, gespickt mit subtilen psychologischen Beobachtungen und sprachlicher wie faktischer Detailverliebtheit – in vier Jahren zu übersetzen, war ein äußerst ehrgeiziges Unterfangen. Eine Arbeit, die sie immer wieder an den Rand der Erschöpfung brachte. In einem Brief an „Lieber Herr Dr. Suhrkamp“ schrieb sie:
„… bitte halten Sie es meinem bei mir nach der großen Arbeitsbelastung der letzten Monate einsetzenden Erschöpfungszustand zugute, wenn ich letzthin etwas lahm in der Beantwortung Ihrer Anfragen bin“[07]Brief an Dr. Suhrkamp, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1, kein Briefdatum.
Was allein macht man damit, dass in einer Wendung wie „la couleur du temps“ Zeit und Wetter in ein Wort fallen? Aus dem Teilnachlass in Marbach geht hervor, in welchem Ausmaß Rechel-Mertens in die Sprach- und Gedankenwelt von Proust eintauchte. Dennoch gelang es ihr, die Übersetzung des siebten Bandes nahezu termingerecht abzuliefern. Was dies in Vorcomputerzeiten bedeutete, wusste Suhrkamp wohl, jedenfalls zahlte der Verlag ihr eine Schreibkraft! [08]Brief an Dr. Suhrkamp, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1, kein Briefdatum.
Ihre Liebe zu Proust und die Bedeutung des Auftrags dürften Eva Rechel-Mertens beflügelt haben. Im Nachlass finden sich Kritiken und Lob versammelt, private wie öffentliche Kommentare zu ihrer Arbeit. Allen voran natürlich die Kommentare von Prof. Curtius, der als Grußformel unter seiner Korrespondenz mit Eva Rechel-Mertens gerne „Ihr Pedant und Freund“[09]Briefe von Prof. Curtius, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1. schrieb und als Doktorvater und Förderer alle ihre Übersetzungen mit Anmerkungen versah.
Zur Kritik
Entgegen der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts noch üblichen Übersetzungsmaxime, wie von Schleiermacher beschrieben, den „Schriftsteller dem Leser entgegen zu bewegen“[10]Friedrich Schleiermacher, s. Quellen S.47. und Titel, Anreden und Speisen dem Deutschen anzuverwandeln, zog es Eva Rechel-Mertens vor, die Lesenden dem Schriftsteller entgegen zu bewegen. Dies bezog sich auf das Fremdbelassen von französischer Kulturspezifika ebenso wie auf die Verwendung von im Deutschen untypischen Formulierungen. Walter Boehlich, damals Redakteur der Zeitschrift Merkur, bemängelte in seiner Rezension im Merkur 1955.[11]Merkur Heft 85, Februar 1955. Rechel-Mertens‘ wörtliche Übersetzung im ersten Band, in dem sie Odette „un nuage de crème“, „eine Wolke Rahm“, in den Tee geben lässt und nicht etwa einen Tropfen, was er als die korrekte Übersetzung erachtete.[12]Merkur Heft 85, Februar 1955, S.185. Sie hingegen findet ihre übersetzerische Lösung „reizend“ und argumentiert:
„Was bleibt übrig, wenn man überall nur Klischees der deutschen Umgangssprache einsetzt!“[13]Brief von Eva Rechel-Mertens an Walter Böhlich, 1955, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1.
Tatsächlich steht im Zentrum vieler Kritiken eine übersetzerische Frage, die uns noch heute beschäftigt: Wie viel darf, soll, muss ich das Deutsche mit Botenstoffen aus der Fremde durchtränken? Ich zitiere hier stellvertretend aus der Kritik des Proust-Kenners und Peter-Suhrkamp-Vertrauten Wolfgang Hirsch, der in der Neuen Zeitung schrieb:
„[die Übersetzung] ist ausgezeichnet, doch sollen hier im folgenden [sic] noch einige Anregungen gegeben werden: die Übersetzerin ist zuweilen so gewissenhaft, daß sie französische Wörter, deren Sinn dem deutschen Durchschnittsleser unverständlich ist, nicht mitübersetzt … beispielsweise Seite 70: moule de Saint Jacques (Sankt Jakobsmuschel, eine eßbare Miesmuschel); Seite 110 und 161: brioche (hier in der Bedeutung von „Napfkuchen“); Seite 162: eau de Vichy (Vichy-Brunnen).
oder
„… das Wort „Monsieur“ ist in einem fortlaufenden deutschen Text störend.“[14]Wolfgang Hirsch,„Marcel Proust und sein Oeuvre“, Neue Zeitung, Teilnachlass ERM, Kasten 229, Mappe 9.
Nicht nur Hirsch ist der Auffassung, dass Rechel-Mertens auf das Lokalkolorit, welches das Romangeschehen sprachlich und gedanklich in Frankreich verortet, hätte verzichten sollen. Doch an diesem Punkt ist die Übersetzerin dezidiert. Und dezidiert heißt: anderer Meinung. Der Schweizer Publizist Peter Mieg unterstützt sie dahingehend und schreibt am 12. März 1954 in der Züricher Wochenzeitung Die Weltwoche wie sehr
„… eine eben begonnene neue Übertragung ins Deutsche verspricht, den Tonfall seiner [Proust] Sprache, die Erlesenheit seiner Bilder, die geistvolle Pointierung seiner Rede auf gewissermaßen kongeniale Art wiederzugeben.“
Als eindrückliches Bild beschreibt er, wie der Erzähler ein Stück in Tee getauchtes urfranzösisches Gebäck, eine Madeleine, zum Munde führt.[15]Peter Mieg, „Proust in deutscher Übertragung“, Die Weltwoche, Teilnachlass ERM, Kasten 229, Mappe 9. Dabei handelt es sich um das durch Proust weltweit berühmt gewordene Gebäck, das Schottlaender seinerzeit noch mit „Krapfen“ übersetzt hat. Hier ist anzumerken, dass der Leser den Begriff, der als Element der „couleur locale“ eingesetzt wurde, möglicherweise nicht versteht, aber die Fremdheit wird ihm als Problem bewusst und somit ist die Verwirrung auch nicht größer als bei einer einbürgernden Übersetzung, die nicht dem Eigentlichen entspricht.[16]Vergl. Schöning 1997: 171,172 s. Quellen.
Verschiedene Korrespondenzen im Nachlass (vor allem die mit Peter Suhrkamp und Walter Boehlich) zeigen weitere übersetzerische Entscheidungen, die damals wohl umstritten waren, von Eva Rechel-Mertens aber selbstbewusst vertreten wurden. Hans Paeschke vom Merkur hatte Rechel-Mertens bereits Anfang 1955 (Datum unbekannt) vorgewarnt, dass Walter Boehlich für den Merkur die Besprechung schreiben würde:
„Wir haben lange nichts voneinander gehört und nehmen dafür die Schuld auf uns. Sie sind in die tiefen Schächte von Proust hinabgestiegen und es ist nur natürlich, dass Sie sich allen übrigen Dingen gegenüber während dieses opfervollen Ganges auf Jahre hinaus Schweigen auferlegen. Der in Philologie und Kritik verliebte Walter Boehlich wird bei uns die Besprechung schreiben und Sie werden sicher auf einiges gefasst sein.
Wappnen sie sich bitte bei der Lektüre der beiliegenden Fahnen. Es wird uns kaum helfen, wenn wir, auch im Namen Boehlichs, versichern, dass er ihrer Übersetzung höchst positiv gegenübersteht. Er hat nun einmal die oft nicht sehr angenehme Attitüde des Lehrers, der das Fehlerlose auf sich beruhen lässt und Fehlerchen rot anstreicht. Vielleicht können Sie sich mit ihm über einige Fragen unterhalten, uns selbst wäre es gar nicht unlieb, wenn Sie ihm Ihrerseits ganz pedantisch einiges ankreiden könnten.“[17]Brief von Heinz Paeschke und Dr. Moras an Eva Rechel-Mertens mit Übersendung der Fahnen von Walter Boehlichs Proust-Übersetzungskritik für den … Fußnote lesen
Walter Boehlich, der von 1947-51 als Assistent bei Curtius tätig war und durch diesen wohl auch zum Merkur fand, äußerte zunächst auch Gefallen an der Übersetzung, insbesondere an Rechel-Mertens‘ Entscheidung, die komplexen Sätze nicht aufgelöst zu haben – eine Entscheidung, die wir heute als selbstverständlich erachten. Nachdem er Schottlaenders alte Übersetzung als völlig unzulänglich kritisiert hatte, stellte er fest:
„… die neue Übersetzung ist den vorausgegangenen weit überlegen (…) aber den größten Dank schuldet man ihr für ihre Bemühungen, Prousts Stil möglichst streng nachzubilden und dem deutschen Leser nichts zu ersparen, was auch dem französischen Leser nicht erspart blieb und bleibt.“[18]Merkur Heft 85, Februar 1955, S. 181.
Voll des Lobes ist Boehlich ferner für die Entscheidung, französische Begriffe beizubehalten, darunter Titel, Anreden und Speisen:
„Man muß Eva Rechel-Mertens dankbar sein, daß sie so viel französisches Kolorit wie möglich hat bestehen lassen […]“
Im Weiteren jedoch zerpflückt er die Übersetzung und listet recht schulmeisterlich zahlreiche Beispiele auf, bei denen Rechel-Mertens die Bezüge verwechselt oder einzelne Vokabeln falsch übersetzt habe. Dabei ist seine Kritik getragen von der unerschütterlichen Überzeugung, dass seine Lösungen die einzig richtigen seien. Rechel-Mertens antwortete Walter Boehlich zwar nicht öffentlich, doch ihr siebenseitiger, sachlich gehaltener äußerst detaillierter Brief schont ihn nicht[19]Brief an Böhlich 1955, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1.:
„Dass mir Ihre Besprechung im Merkur durchaus angenehm ist, wäre zu viel verlangt. Es ist mir dabei durchaus nicht entgangen, dass Sie auch einige anerkennende Worte finden. Andererseits verschiebt sich durch die Fülle der von Ihnen noch dazu – verzeihen Sie – etwas wahllos und zum Teil auch unüberlegt angeführten Stellen das Gewicht für den oberflächlichen Leser so sehr zu Ungunsten meiner Arbeit, wie sie es vielleicht doch nicht verdient.“
Ferner moniert sie im gleichen Brief, dass Boehlich Fehler aufliste, die in der zweiten Auflage längst korrigiert seien:
„… bei Ihrer außerordentlichen Bereitschaft zum genauen Verifizieren kann Ihnen das doch nicht entgangen sein“.
Akribisch verteidigt sie sich gegen Boehlichs kleinteilige Kritiken. Warum nur, fragt man sich? Das Wort „aalen“, das Boehlich ihr an einer Stelle vorschlägt, sei ihr, schreibt sie „als Wort zuwider“. An anderer Stelle verweist sie auf den Großen Brockhaus und führt aus, dass „Flug“ statt „Schwarm“ auf Vögel angewandt, „üblich“ sei.

Brief von Eva Rechel-Mertens an Walter Böhlich, 1955 (DLA Marbach)
In dem im Suhrkamp Verlag erschienenen „Morgenblatt für Freunde der Literatur“ schreibt Peter Suhrkamp anlässlich des Abschlusses der Übersetzung am 4. Oktober 1957:
„Der deutsche Proust liegt jetzt komplett vor: das nach zwei mißglückten Anfängen nicht mehr erwartete ist Ereignis geworden! Vom Vertragsabschluß bis zum Erscheinen des ersten Bandes im Herbst 1953 hat es vier Jahre gedauert; dreieinhalb davon vergingen mit Versuchen, bis ich in Eva Rechel-Mertens den Übersetzer fand. […] Und jetzt bin ich es, der sich, wie ich glaube, am meisten freut, seinen deutschen Proust zu haben. Und ich weiß, es sind viele, die sich freuen. Während der fünf Jahre, die zur Vollendung nötig waren, habe ich stets gebangt, Frau Rechel-Mertens könnte unter der Aufgabe zusammenbrechen; und es gab gefährliche Krisenzeiten.“[20]„Morgenblatt für Freunde der Literatur“, 4. Oktober 1957.

Morgenblatt für Freunde der Literatur, 4.10.1957 (DLA Marbach)
Eva Rechel-Mertens orientierte sich an der Schriftsprachlichkeit, teilweise auch bei Passagen, die vielleicht von einer umgangssprachlichen Mündlichkeit profitiert hätten. So zumindest die Kritiker. Sie war jedoch der Auffassung, dass eine umgangssprachliche Ausdrucksweise um Vieles mehr den Moden unterläge, was ein vorschnelles Altern der Übersetzung zur Folge hätte. Zudem lehnte sie es kategorisch ab, Umgangssprachliches durch Berlinismen zu ersetzen, was damals durchaus üblich war.
Um einen kleinen Eindruck der teilweise doch ähnlichen Übersetzungslösungen zu vermitteln, zunächst der zweite Satz des ersten Bandes:
PROUST
Parfois, à peine ma bougie éteinte, mes yeux se fermaient si vite que je n’avais pas le temps de me dire: „Je m’endors.“
RUDOLF SCHOTTLAENDER 1926
Manchmal war meine Kerze kaum erloschen, und schon fielen mir die Augen zu, so schnell, daß ich mir nicht mehr sagen konnte: „Nun schlaf ich ein.“
EVA RECHEL-MERTENS 1953
Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu denken: „Jetzt schlafe ich ein.“
REVISION LUZIUS KELLER
Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, daß keine Zeit blieb, mir zu sagen: Ich schlafe ein.
NEUÜBERSETZUNG PETER JÜRGEN FISCHER 2013
Manchmal, wenn ich noch kaum die Kerze ausgelöscht hatte, schlossen sich meine Augen so schnell, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, mir zu sagen: „Jetzt schlafe ich ein.“
Ein gern kritisierter Passus, der mit Prousts Beziehung zu seiner Mutter aufs Engste verbunden ist, findet sich im zweiten Band, an der Stelle bevor der Erzähler mit der Großmutter nach Balbec fährt. Die Mutter will ihn über den Abschied hinwegtrösten und sagt: „même loin je serai encore avec mon petit loup“. Was bei Benjamin und Hessel distanziert als „auch in der Ferne werde ich bei meinem kleinen Jungen sein“[21]Projekt Gutenberg, Im Schatten der jungen Mädchen. übersetzt wurde, heißt bei Eva Rechel-Mertens
„auch in der Ferne bin ich immer bei meinem kleinen Spatz“[22]Frankfurter Ausgabe, Band II, S. 324.
Im Originaltext verwendet Proust den in Frankreich geläufigen Kosenamen „mon petit loup“, was man wörtlich mit „mein Wölfchen“ übersetzen würde. Der „kleine Spatz“ klingt bieder, wenig kosig. Boehlich weist in seiner Kritik darauf hin, dass auch in der Korrespondenz zwischen Proust und seiner Mutter der „petit loup“ wiederholt verwendet werde und als „rührendes Element der Wirklichkeit“[23]Merkur Heft 85, Februar 1955, S. 189. seiner Auffassung nach hätte erhalten bleiben müssen – doch damit beißt er bei Eva Rechel-Mertens auf Granit:
„Meine freie Wiedergabe von ‚petit loup‘ behalte ich mir so lange als ganz gelungen vor, bis mir jemand etwas wesentlich besseres sagen kann, was auch Sie nicht tun. Die Korrespondenz zwischen Proust und seiner Mutter kenne ich natürlich so gut wie Sie, sehe aber keinen Grund, den deutschen Leser mit diesem Spezialwissen pedantisch tyrannisieren zu wollen.“[24]Brief an Boehlich, ohne Datum, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1.
Luzius Keller und Sibylla Laemmel haben in ihrer überarbeiteten „Frankfurter Ausgabe“ die Version von Eva Rechel-Mertens beibehalten.[25]Frankfurter Ausgabe Band II, S. 318, Suhrkamp Verlag 2004.
Nach Schottlaenders „lockerer“ Art zu übersetzen, wurden Eva Rechel-Mertens‘ Übersetzungen zum Teil als prüde und betulich bezeichnet, dabei sind Sexualität und Begehren bei diesem hocherotischen Romanwerk nicht unwesentlich. Verschiedenen Rezensionen ist der Vorwurf zu entnehmen, dass die Übersetzerin den Text geglättet und Stellen mit sexuellem Inhalt durchgehend „entschärft“ habe. Das entsprach damals sicher den allgemeinen „Sensibilitäten“ der Zeit, doch blieb es in Kennerkreisen umstritten.
Hier ein Beispiel:
PROUST, I, S. 262
« Je me figure que comme corps de femme … j’aimerais mieux l’avoir dans mon lit que le tonnerre », dit précipitamment Cottard …
RUDOLF SCHOTTLAENDER, I S. 111
„Ich kann mir vorstellen, so als Frauenkörper“ läge ich …“ „lieber auf ihr als auf einem Pulverfass“, sagte Cottard hastig …
EVA RECHEL-MERTENS, I. S. 347
„Ich stelle mir vor, so als Frau …“ „Ist sie mir lieber im Hemd als manche andere im Abendkleid“, fiel Cottard lebhaft ein …
LUZIUS KELLER, I S. 380
„Ich stelle mir vor, so als Frau …“ „stiege ich lieber mit ihr ins Bett als zu Berg“, fiel Cottard lebhaft ein.
BERND-JÜRGEN FISCHER, I S. 361
„Ich denke mal, so als Körper einer Frau …“ „hätte ich sie lieber in meinem Bett als einen Pulversack“, sagte Cottard hastig …
Schottlaenders übersetzerische Lösung ist am unverblümtesten; in ihrer Direktheit geht die deutsche Fassung hier gar über das französische Original hinaus.
Eva Rechel-Mertens war sich ihrer Unkenntnis oder Unsensibilität offenbar bewusst, denn in einem Schreiben an Peter Suhrkamp vom 27.6.1955 bat sie um sprachliche Unterstützung, insbesondere was die homosexuelle Thematik betrifft.
„… es gibt in einer solchen Stadt [Heidelberg] kein deklariertes ‚Milieu’ dieser Art. Sollte in Frankfurt der Kontakt leichter sein, so wäre ich vor allem den Herren Ihres Verlages für jeden Korrekturvorschlag sehr dankbar, vielleicht kommen Sie leichter dazu.“[26]Brief an Peter Suhrkamp, 27.06.1955, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1.
Nachwirkungen
Als Rechel-Mertens 1957 vom Verband der deutschen Kritiker e. V. den „Preis für Literatur“ erhält, schreibt ihr der Vorsitzende Wolfgang Karsch, dass dieser Preis in der Regel „nur für Originalleistungen“ vergeben werde, doch wegen der großen Wirkung, die Proust auf die hiesige Literatur entfalte, und weil die Übersetzerin „mit ihrer einzigartigen Leistung das literarische Leben in Deutschland bereichert“[27]Brief von Walther Karsch (Verband der dt. Kritiker e.V) an Rechel-Mertens vom 15. September 1957, Teilnachlass ERM, Kasten 234, Mappe 2. habe, sei man von dieser Regelung abgewichen.
Zehn Jahre später, 1967 erhielt sie in Darmstadt den Johann-Heinrich-Voss-Preis. In der Dankesrede bezeichnet sie das Übersetzen als eine „untergeordnete, gleichsam dienende Tätigkeit“, und beschreibt einige der grundlegenden Schwierigkeiten, die sie bei der Übersetzung zu bewältigen hatte, so nennt sie zum Beispiel Bilder in der Literatur, die in der Übersetzung mit dem grammatikalischen Geschlecht nicht mehr funktionieren: „Bei Baudelaire heißt es: La Débauche et la Mort sont deux aimables filles … (die Zügellosigkeit und der Tod sind zwei liebenswerte Mädchen) oder bei Delteil: La mort, cette grande femelle … [die nach den schönen jungen Männern auf den Schlachtfeldern giert.] Eine Ausflucht zum Neutrum „être aimé“ (das geliebte Wesen) hält Rechel-Mertens über längere Passagen für unmöglich. Dabei kritisiert sie bereits 1966, was die Gemüter heute mehr denn je beschäftigt:
„Ich erinnere mich dabei des meiner Meinung nach häßlichen Brauchs mancher modernen Schriftsteller, eine »das Mädchen« betreffende Erzählung nicht mehr nach Art unserer Klassiker mit »sie« fortzusetzen, sondern mit »es« ‒ was ebenfalls zu unmöglichen Härten führt.“[28]Dankesrede Johann-Heinrich-Voss-Preis, Teilnachlass ERM, Kasten 224, Mappe 2.
Eva Rechel-Mertens‘ Bestreben war es offensichtlich, eine Übersetzung herzustellen, die den Veränderungen der Zeit standhält, was ihr, wie wir heute wissen, gelungen ist. Ihre Rede beendet sie mit folgenden Worten:
„…, wenn man die gesamte »Recherche du temps perdu« und den »Jean Santeuil« übersetzt hat, darf man wohl für sich in Anspruch nehmen, gewissermaßen die Hohe Schule der Übersetzung durchlaufen zu haben. Mit welchem Prädikat? Sie hier, meine Herren, haben mir zu meiner großen Freude ein gutes zuerkannt. Aber das endgültige wird eine andere Instanz mir erteilen, und zwar ‒ ich schließe mit dem Wort, das Proust an das Ende seines großen Werkes gesetzt hat ‒ die ZEIT.[29]ebd.
Jede Übersetzung ist Kind ihrer Zeit. Und dennoch hat sich die hier geäußerte Hoffnung der Rechel-Mertens ein wenig bewahrheitet, denn vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung entschied der Suhrkamp Verlag in den 1990er Jahren, Luzius Keller mit der Überarbeitung der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens zu beauftragen, unter Berücksichtigung der neueren Proust-Forschung und der neueren Erkenntnisse in der Translationswissenschaft; dabei war die Übersetzerin Dr. Eva Rechel-Mertens offensichtlich auf diesem Gebiet ihrer Zeit weit voraus.
Quellen:
Mälzer, Nathalie: Proust oder ähnlich. Proust Übersetzen in Deutschland. Eine Studie, Berlin: Verl. Das Arsenal, 1996.
Merkur. Zeitschrift für Europäisches Denken, Jahrgang 9, Heft 84, Februar 1955.
Proust, Marcel: Im Schatten junger Mädchen, aus dem Franz. von ERM, (Frankfurter Ausgabe „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Band II) Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2004.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Band 2: Im Schatten junger Mädchenblüte, Neuübersetzung, Reclam Bibliothek, Übers. und Anm.: Fischer, Bernd-Jürgen.
Schleiermacher, Friedrich: Methoden des Übersetzens. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1963, S. 38–70.
Schöning, Udo: Die sizilianische Fremde als literarisches und übersetzerisches Problem. In: Willi Huntemann und Lutz Rühling (Hg.): Fremdheit als Problem und Programm. Die literarische Übersetzung zwischen Tradition und Moderne. Berlin: E. Schmidt 1997, S. 164–189.
Anmerkung zu den Quellen:
Trotz intensiver Recherchen ist es uns nicht in allen Fällen gelungen, die Rechteinhaber aller zitierten Quellen zu ermitteln. Wir bitten die Rechteinhaber oder etwaige Rechtsnachfolger, sich bei der Babelwerk-Redaktion zu melden.
↑01 | Vertrag mit dem Manesse-Verlag in Zürich, Teilnachlass Eva Rechel-Mertens, DLA Marbach, (im folgenden „Teilnachlass ERM“), Kasten 229, Mappe 9. |
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↑02 | Brief von Wolfgang Hirsch an Peter Suhrkamp, 28. Oktober 1952, DLA, SUA: Suhrkamp, Peter Suhrkamp Archiv. Korr. zu Proust, 1950-1959 II, A-Z. |
↑03 | Brief Friedrich Podszus an Peter Suhrkamp, 29. Dezember 1952, Teilanchlass ERM, Kasten 240. |
↑04 | Teilnachlass ERM, Kasten 335. |
↑05 | Teilnachlass ERM, Kasten 234, Mappe 2. |
↑06 | Brief an Dr. Suhrkamp, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1. |
↑07, ↑08 | Brief an Dr. Suhrkamp, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1, kein Briefdatum. |
↑09 | Briefe von Prof. Curtius, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1. |
↑10 | Friedrich Schleiermacher, s. Quellen S.47. |
↑11 | Merkur Heft 85, Februar 1955. |
↑12 | Merkur Heft 85, Februar 1955, S.185. |
↑13 | Brief von Eva Rechel-Mertens an Walter Böhlich, 1955, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1. |
↑14 | Wolfgang Hirsch,„Marcel Proust und sein Oeuvre“, Neue Zeitung, Teilnachlass ERM, Kasten 229, Mappe 9. |
↑15 | Peter Mieg, „Proust in deutscher Übertragung“, Die Weltwoche, Teilnachlass ERM, Kasten 229, Mappe 9. |
↑16 | Vergl. Schöning 1997: 171,172 s. Quellen. |
↑17 | Brief von Heinz Paeschke und Dr. Moras an Eva Rechel-Mertens mit Übersendung der Fahnen von Walter Boehlichs Proust-Übersetzungskritik für den Merkur (ohne Datum). |
↑18 | Merkur Heft 85, Februar 1955, S. 181. |
↑19 | Brief an Böhlich 1955, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1. |
↑20 | „Morgenblatt für Freunde der Literatur“, 4. Oktober 1957. |
↑21 | Projekt Gutenberg, Im Schatten der jungen Mädchen. |
↑22 | Frankfurter Ausgabe, Band II, S. 324. |
↑23 | Merkur Heft 85, Februar 1955, S. 189. |
↑24 | Brief an Boehlich, ohne Datum, Teilnachlass ERM, Kasten 237, Mappe 1. |
↑25 | Frankfurter Ausgabe Band II, S. 318, Suhrkamp Verlag 2004. |
↑26 | Brief an Peter Suhrkamp, 27.06.1955, Teilnachlass ERM, Kasten 240, Mappe 1. |
↑27 | Brief von Walther Karsch (Verband der dt. Kritiker e.V) an Rechel-Mertens vom 15. September 1957, Teilnachlass ERM, Kasten 234, Mappe 2. |
↑28 | Dankesrede Johann-Heinrich-Voss-Preis, Teilnachlass ERM, Kasten 224, Mappe 2. |
↑29 | ebd. |