each time different

Eine Übersetzerin übersetzt das Buch einer Übersetzerin über das Übersetzen. Sabine Voß schreibt über die Herausforderungen, die Zweifel, aber auch das Glück, die ihre Arbeit an Kate Briggs' Essay "This Little Art" mit sich brachten.

Das Buch einer Übersetzerin über das Übersetzen zu übersetzen, war die erste Buchübersetzung in meiner Laufbahn als Übersetzerin. Alles an der Aufgabe, This Little Art zu übertragen, war groß: Die Herausforderung, der Zweifel, das Glück, die Lernererfahrung. Auch die Zusammenarbeit mit der Ink Press-Verlegerin Susanne Schenzle war bereichernd. Der Vorteil, mit einem unabhängigen Verlag zusammenzuarbeiten, bestand darin, dass ich in die Herstellungsprozesse eingebunden und nach meiner Meinung gefragt wurde, wenn es beispielsweise um die Buchgestaltung oder den Umgang mit dem Anmerkungsapparat ging.

Dass es bei dieser Aufgabe immer wieder darum gehen würde, Entscheidungen zu treffen, wurde mir schon bei der ersten Lektüre bewusst: Komplexe literatur- und übersetzungstheoretische Fragestellungen werden über weite Strecken in einem nonchalanten elliptischen Parlando verhandelt. Damit lehnt Kate Briggs sich stilistisch an Roland Barthes‘ Notizen zu seinen Vorlesungsreihen an, von denen sie zwei Bände übersetzt hat: La préparation du roman (2003), (The Preparation of the Novel, 2011) und Comment vivre ensemble (2002), (How to live together, 2013). Inwieweit würde ein solcher Stil im Deutschen durchzuhalten sein? Briggs zieht zudem ein umfangreiches Korpus englisch- und französischsprachiger Literatur heran und amalgamiert Zitate daraus elegant und manchmal übergangslos oder paraphrasierend mit ihrem eigenen Text. All diese Zitate mussten auf Deutsch ermittelt, ggf. selbst übersetzt und ebenso fließend in den deutschen Text eingegliedert werden. Die Autorin gewährt auch immer wieder Einblicke in ihre Werkstatt und spielt mit möglichen Lösungen der Übersetzungsrichtung Französisch-Englisch (Barthes, Gide, Valéry, Derrida); dafür musste ich mir Lösungen überlegen. Ich hatte jedenfalls enorme Lust, hier kreativ zu werden, denn dieser Text verhandelte alles, was auch mich beschäftigt, bewegt und betrifft: Literatur, Schreiben, Theorie, Philosophie und natürlich Übersetzung. Und so stürzte ich mich mit Feuereifer in die Arbeit.

Dann aber schlich sich still und leise ein Heidenrespekt vor dem Projekt ein. Obwohl ich schon viele Jahre Magazinartikel, Essays und wissenschaftliche Texte übersetze. Obwohl ich eine Ausbildung als literarische Übersetzerin habe. Obwohl ich für dieses Projekt ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds bekommen hatte. Was sich aber plötzlich bedrohlich vor mir auftürmte, war die Vorstellung, dass das Buch hauptsächlich von einem Fachpublikum gelesen werden würde – von erfahrenen Kolleg:innen, deren Publikationslisten um einiges länger sind als meine. Die Angst, Fehler zu machen nistete sich ein und ließ sich nicht mehr vertreiben.

Das bewirkte zunächst eine äußerst unproduktive Verlangsamung meines Arbeitstempos, weil ich jeden Satz drehte und wendete. Mein Sprachgefühl und meine Intuition verkrochen sich eingeschüchtert in die hinterste Ecke meines Selbstbewusstseins und ließen sich nicht mehr hervorlocken.

Hinzu kam, dass schon vor Beginn meiner Arbeit ein renommierter Übersetzer Auszüge aus dem Buch übertragen und auf einem Literaturportal veröffentlicht hatte. Meine Verlegerin ließ mir die Passagen zukommen. Ich vermied es strikt, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Doch nach zwei Tagen öffnete ich das Dokument gierig und unterzog meine bis dahin übersetzten Seiten einem skrupulösen Vergleich mit der Übersetzung des Kollegen.

Naturgemäß gab es Unterschiede. Da ich meine Fähigkeiten aber denen des Übersetzers bereitwillig unterordnete, begann ich meine Entscheidungen erst zu hinterfragen, sie dann infrage zu stellen und schließlich fragwürdig zu finden. Das führte mich schnurstracks in die Blockade. Das Einzige, was ich in meiner Situation noch hätte tun können, wäre gewesen, die Sätze des anderen abzuschreiben. Da ich das aber schlecht machen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als den Text ein paar Tage zur Seite zu legen und stattdessen einige kurzfristige Aufträge anzunehmen: Lockerungsübungen. Nach ein paar Tagen konnte ich die Arbeit dann entspannter wieder aufnehmen.

Doch das Gefühl, nicht die richtige Übersetzerin für dieses Buch zu sein, war nicht ganz verschwunden. Der erfahrenere Kollege sollte das eigentlich machen. Er hatte This Little Art wahrscheinlich auch entdeckt und wollte es bekannt machen. Ich dagegen hatte einfach nur Glück gehabt, war zur richtigen Zeit am richtigen Ort: auf der Leipziger Buchmesse, wo ich die Verlegerin auf ihr schönes Programm mit den Übersetzer:innen auf dem Cover  angesprochen hatte. Ein paar Monate danach rief ich sie an, da hatte sie gerade die Rechte erworben und bot mir an, eine Probeübersetzung einzureichen.

Ich arbeitete also weiter und irgendwann beruhigte sich das nagende Gefühl, nicht die Richtige zu sein, nämlich als ich schrieb:

Bücher erscheinen nicht zusammen mit den extra für sie bestimmten Übersetzerinnen oder Übersetzern; sie haben keine integrierten Protokolle, geben keine verbindlichen Verhaltenscodizes vor, denen man folgen (Erfolg) oder die man ignorieren kann (Scheitern). Unsere Art, zu übersetzen müssen wir immer wieder improvisieren und neu erfinden, als Reaktion auf das Buch in unseren Händen.

Da wurde mir bewusst, dass der andere Übersetzer wahrscheinlich einfach anders auf das Buch von Kate Briggs reagiert als ich; dass es sich bei unseren jeweiligen Übersetzungen sogar um zwei verschiedene Bücher handeln würde. Schon Übersetzung und Original sind naturgemäß ja zwei vollkommen unterschiedliche Texte, mit unterschiedlicher Grammatik, unterschiedlichem Wortschatz und anderen inneren Bildern, die diese Worte kulturbedingt auslösen. Briggs weist in dem Zusammenhang auf den BBC-Radiobeitrag „On Craftmanship“ von Virginia Woolf hin (den sie später in The Death of the Moth and other Essays publizierte), in dem Woolf das Literarische eines Textes als „the right words in the right order“ zu fassen versucht. Diese Reihenfolge der Worte wird in der Übersetzung unweigerlich zerstört. Da nun der Übersetzer und ich zudem zwei unterschiedliche Individuen sind, mit unterschiedlichen Lesarten des Ausgangstextes, auf unterschiedliche Weisen kreativ, müssen unsere Versionen unterschiedlich sein. Eine Übersetzer:in sei kein „unpersönliches Übertragungsmittel“ (Lawrence Venuti, Übersetzer und Theoretiker) sondern ein Individuum – „ein ganzheitliches, literarisches Wesen mit geschlechtlicher Identität“ (Michelle Woods, Literaturwissenschaftlerin) zitiert Briggs. Und an der Stelle fiel mir ein Satz der Dostojewski-Übersetzerin Svetlana Geier ein: „Ich bin 1923 geboren, bin unter bestimmten Bedingungen aufgewachsen, finde bestimmte Dinge schön und andere Dinge nicht schön. Und das fließt natürlich in die Übersetzung mit hinein.“[01]In: Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen. 2003. Von Gabriele Leupold, Eveline Passet, Olga Radetzkaja, Anna Schibarowa und Andreas Tretner. … Fußnote lesen

Mein Licht kroch langsam wieder unter dem Scheffel hervor und im Verlauf meiner Arbeit sollte ich immer wieder auf solche Art durch den Text selbst Bestärkung bei meinen Entscheidungen erfahren. Man könnte sagen, das Übersetzen bekam auf diese Weise auch eine performative Note.

If you don’t want to make mistakes, don’t do translations – an enabling dictum, that I keep close to my heart.

Ein wirkmächtiger Satz, den ich verinnerlicht habe.

Diesen Satz niederzuschreiben war ein weiteres Aha-Erlebnis. Ich hörte endlich auf, allzu lange über die eine oder andere Lösung zu grübeln. (Aber wenn ich ihn jetzt wieder lese, bleibe ich auf einmal an „wirkmächtig“ hängen: „selbstermächtigend“ erscheint mir aktivischer, mit mehr Gewicht auf der Auswirkung und somit näher an „enabling.“ Aber egal jetzt.)

Auch die Lektorin war von Briggs‘ selbstermächtigender Haltung beeindruckt. Und als ich vorschlug, neben meine Übersetzungen von Zitaten noch nicht ins Deutsche übersetzter wissenschaftlicher Texte die jeweils englische Originalpassage in einer Fußnote anzuführen, riet sie mir davon ab: Steh selbstbewusst zu deinen Entscheidungen. Das lehrt uns doch dieser Text! An enabling dictum indeed.

Die translatorische Achterbahnfahrt ging trotzdem weiter. In einer Passage zum Beispiel fühlte ich mich als Übersetzerin unangenehm sichtbar – ähnlich wie Hans Castorp in einer Szene im Zauberberg, den Briggs in der ersten englischen Übersetzung (1927) von Helen Lowe-Porter liest, deren Geschichte sie im Buch erzählt. Briggs weist im Zusammenhang mit dieser Szene auf einen Sprechakt des verliebten Lungenkranken hin. Es handelt sich um eine mehrsprachige Passage, die eine besondere Herausforderung für Übersetzende darstellt. Der junge Castorp umgarnt Clawdia Chauchat vom guten Russentisch, die im Gegensatz zu ihm ein exzellentes Französisch spricht. Als gebildeter junger Mann seiner Zeit kann er in dieser Sprache zwar konversieren, aber nicht auf gleichem Niveau wie die Verehrte. Dafür entschuldigt er sich in aller Bescheidenheit: Moi, tu le remarques bien, je ne parle guère le français. Weil er sich mit leicht holprigen Worten für sein leicht holpriges Französisch entschuldigt, so Briggs, vollführt er einen Sprechakt. Und er lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf sich und seine sprachlichen Fähigkeiten.

Als Sprechhandelnde im Namen der Übersetzerin erging es mir bald ähnlich. Die Autorin reflektiert ein paar Seiten nach dieser Szene darüber, dass ein Text kritischer gelesen wird, sobald man ihn zu einer Übersetzung erklärt; und das kann selbst einem ausgangssprachlichen Text passieren, der in einem Spiel mit seiner Übersetzung heimlich die Rollen getauscht hat. Plötzlich erscheint er „schlechter“ als die Übersetzung, wird seziert, kritischer gelesen: This is a translation! schreibt Briggs. Is it? I feel sure that something would happen – some adjustment to your reading manner would be very likely to occur – if you were to hear me all of a sudden insisting that it is. Ich übersetzte und dabei fiel mir wieder Hans Castorp ein, dessen holpriges Französisch vielleicht gar nicht so stark aufgefallen wäre, hätte er es nicht als solches deklariert. Dies ist eine Übersetzung! Im Gegensatz zu Briggs muss ich tatsächlich darauf beharren und indem ich diese Sätze auf Deutsch schrieb, zerriss ich den schönen Schleier der Illusion, mit dem die Übersetzung vor den Leser:innen in der Rolle des selbstgewissen Originals tanzt. Ich musste alle Hüllen fallen lassen. Das machte mich etwas nervös. Und schon standen wieder die Kolleg:innen mit hochgezogenen Augenbrauen vor meinem Schreibtisch.

Aber nicht bloß ich als Debütantin schien mich in dieser Situation des Sichtbarseins etwas unwohl zu fühlen. Auch Briggs ist das Gefühl nicht fremd: […] die Sichtbarkeit der Barthes-Übersetzungen, meine daher rührende Aufgeregtheit, meine Sache auch gut zu machen […]

Und ihr Risiko war sicher höher als meines. Ich atmete durch.

Die Autorin geht sogar noch einen Schritt weiter und wendet dieses Risiko ins Positive: Nur in einem solchen Fall nämlich, wenn die Übersetzerin ihren Text als Übersetzung kenntlich macht und die Fiktion, im Original zu lesen, damit zerstört, kann sie Beziehungen herstellen: In this way, she gets involved with you. Mit Ihnen, liebe Leser:innen. Vielleicht stellt eine solche Beziehung sich vorwiegend bei Neuübersetzungen von Werken der Weltliteratur her oder wenn Feuilleton und Zunft sich darüber beugen. Die meisten Übersetzenden verschwinden im Lauf der Lektüre hinter dem Autor oder der Autorin. Da ist es schon ein erster Schritt in Richtung Beziehung und Bewusstseinserweiterung, wenn mit den Namen der Übersetzenden auf dem Cover deklariert wird: Dies ist eine Übersetzung!

Kurz darauf schreibe ich: Die Übersetzerin kooperiert mit der Prosa, die sie übersetzt […], um eine Verbindung zwischen Ihnen und dem Buch – ein Gefühl für das, was es ist, wie es geschrieben ist – sowie zu der Person oder den Menschen, die es geschrieben haben, zu ermöglichen.

Und an der Stelle erinnerte ich mich an eine Entscheidung, die ich ganz zu Beginn meiner Arbeit getroffen hatte. Sie wurde in einem Workshop von einer sehr klugen und wiederum erfahreneren Kollegin im Hinblick auf gute Lesbarkeit hartnäckig hinterfragt. Es ging dabei um jene Szene mit Hans Castorp. In meiner Übersetzung habe ich den englischen Ausruf des beim Anblick der nackten Arme Frau Chauchats überwältigten Castorp beibehalten: O my God! Auf diese Weise wollte ich Kate Briggs‘ Beobachtung, dass man sich beim Lesen einer Übersetzung bereitwillig der Fiktion überlässt, das Original zu lesen, auch im Deutschen vermitteln. Einige englische Passagen aus der Antrittsrede Roland Barthes‘ am Collège de France, die Briggs ebenfalls aus einer englischen Übersetzung zitiert, ließ ich aus dem gleichen Grund unberührt und paraphrasierte dafür – sehr elegant, wie ich fand – im jeweiligen Folgesatz die komplizierteren Stellen auf Deutsch.

Bis zu der Stelle, wo Kate Briggs Übersetzende als Beziehungsstifter:innen bezeichnet, klang mir die Hauptkritik an dieser Entscheidung noch in den Ohren: im Deutschen wirkten die Stellen überbetont, störten den Lesefluss. Jetzt aber meldete sich eine Stimme und sagte mir, dass ich hier eine Beziehung hergestellt hatte zwischen meinen deutschsprachigen Leser:innen und der Autorin, indem ich eine Ahnung davon vermittelte, was da passiert, wenn die Illusion sich aufzulösen beginnt, dass Thomas Mann den Zauberberg auf Englisch geschrieben hat.

Eine andere Entscheidung bezog sich nicht auf eine bestimmte Stelle, sondern auf den Stil. Im Vergleich zum Übersetzer der Probepassagen hatte ich mich gegen eine durchgängige Wörtlichkeit entschieden. Negativ formuliert könnte man sagen: Ich habe an manchen Stellen geglättet. Meine Entscheidung beruhte auf meinem Leseeindruck und auf meinem Gefühl. Es gab ohnehin viele markante Stellen: Ellipsen, die eigenwillige Mündlichkeit, oder durchgehend unkonventionelle Anschlüsse. (Die Fäden der verschiedenen Erzählstränge werden immer wieder abrupt fallen gelassen, um mehrere Seiten später genauso unvermittelt wieder aufgenommen zu werden.) Für mein Gefühl war es für das Stück als Ganzes besser, manche Passagen sanft „einzubürgern,“ dezent zur Leser:in hinzubewegen. Mich stilistisch zu weit von den Konventionen des Deutschen zu entfernen, hätte für mein Gefühl dazu geführt, die Aufmerksamkeit der Leser:in zu stark von Briggs‘ unkonventionellen und unerhörten Gedanken abzulenken.

Einen solchen eingebürgerten Satz möchte ich exemplarisch vorstellen. Er ist ein Paradebeispiel dafür, wie Briggs‘ Sätze manchmal selbst abenteuerlichste Prädikatklammern des Deutschen wie zwei engumschlungene Verliebte dastehen lassen.

But even these textured descriptions of the translation process, [02]Hier bezieht sich Kate Briggs auf verschiedene übersetzungstheoretische Werke. their breakdowns of the different strategies that translators employ, however real and pertinent they may be, and however common to all translational activity everywhere, operate – they necessarily operate – on a level of abstraction from the living life of translating this work in particular which, because it involves life, and people, because it involves a relation between this culture and that one, this writing subject and that one, as well as reading and feeling and mistakes, because it involves making a risky decision about every single local element of the writing written in this language, because it involves taking responsibility, in this way, for every single one of its details as I set about writing the whole again in this language and circumstance, is each time different.

Meine Version:

Aber selbst diese feinstrukturierten Beschreibungen des Übersetzungsprozesses mit ihren Aufdröselungen unterschiedlicher Strategien, die Übersetzerinnen und Übersetzer anwenden, wie real und einschlägig und wie universell übertragbar auf die Übersetzungstätigkeit sie auch sein mögen, abstrahieren – notwendigerweise – vom lebendigen Prozess des Übersetzens speziell dieses einen Werks, der jedes Mal anders ist, weil er das Leben und die Menschen, weil er eine Beziehung zwischen dieser Kultur und jener, zwischen diesem schreibenden Subjekt und jenem sowie Lektüren, Gefühle und Fehler beinhaltet, weil das Fällen riskanter Entscheidungen für jedes einzelne Element des Textes in dieser Sprache dazugehört, genauso wie die Bereitschaft, für jedes einzelne seiner Details Verantwortung zu übernehmen, wenn ich das Ganze noch einmal in dieser Sprache und unter diesen Verhältnissen schreibe.

Für Kate Briggs wird das Übersetzen zu einem Mittel, mit dem wir diese Gesten [der Schriftsteller:innen] ausprobieren, an ihnen teilhaben und sie abwandeln können. In etwa so wie wir die Bewegungen der Trainerin im Aerobic-Studio mit unseren eigenen Körpern und Möglichkeiten nachturnen: nie perfekt, aber mit hoher Motivation und innerer Beteiligung. Deswegen frage ich Sie: Wie würden Sie diesen Satz übersetzen? Turnen Sie ihn nach! Kreatives Schreiben für alle! Aerobic-Kurse mit einem wilden Mix aus Tanzstilen für alle! Übersetzen für alle!, ruft Kate Briggs uns zu.  

Aber wer weiß, vielleicht habe ich auch nur dem Impuls nachgegeben, die Sätze so zu formulieren, als hätte ich sie selbst geschrieben. Eine Haltung, die die viel gescholtene Thomas Mann-Übersetzerin Lowe-Porter über ihre Arbeitspraxis äußerte, viel Gelächter dafür erntete und mit der Briggs provokant ein Kapitel überschreibt. Habe ich mich auch zu sehr mit der Autorin identifiziert? Weil ihre Sätze auch mich meinten? Bin ich dafür zu kritisieren?

Ist das nicht eine der grundlegenden Freiheiten des Lesens? Das Recht, sich zu identifizieren: mit Barthes zum Beispiel. Aber auch und vielleicht noch stärker mit Helen-Lowe Porter, mit Dorothy Bussy [der englischen Übersetzerin André Gides], mit diesen außergewöhnlichen Übersetzerinnen, deren Geschichten mich so sehr interessieren, deren Haltungen und Gefühle ich verstehen will, um meine eigenen besser verstehen zu lernen. Ja, ich glaube schon.

Am Schluss ihres Essays stellt Briggs sich in Bezug auf ihre Arbeit die grundsätzliche Frage: what exactly was I – what have I been and what am I still intent on – doing? Ihre Antwort: Protesting, I think. Dieser Sprechakt bildet den performativen Abschluss ihres Buches. I’m protesting.

Im Namen von Roland Barthes‘ Prinzip des Zartgefühls, das für die Aufmerksamkeit für Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede steht, das für die Würdigung des Individuellen vor dem Allgemeinen plädiert, erhebt sie Einspruch gegen ein für alle Mal geltende Regeln, hierarchische Beziehungen und verallgemeinernde Kategorien wie „Treue zum Original,“ „gut“ oder „schlecht,“ „gescheitert“ oder „geglückt“ bei der Beurteilung von Übersetzungen.

Denn: Es geht um meine Übersetzungen. Die Art, wie ich denke und fühle: die Bücher, in die ich mich hineingedacht und eingefühlt habe, deren Kraft ich mich stellen muss und von der ich mich tragen lasse. Aber es geht auch um ein Einsprucherheben im Namen des Übersetzens. Im Namen von Übersetzerinnen und Übersetzern. Diese kleine Kunst: ihre aus jeweils einer einzigartigen Beziehung entstehende, praktische Ausübung.

Eine sogenannte ‚schlechte‘ Übersetzung, so Swetlana Geier, sei vielleicht nur eine, für die es keine Leser gibt.[03]In: Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen. Ein berührender Gedanke.

Machen wir zum Schluss eine kleine Balanceübung mit, die Kate Briggs uns vormacht: Sie hat gerade das ehemalige Wohnhaus von Roland Barthes in Paris besucht und läuft die enge Kopfsteinpflasterstraße hinunter, die vom Gebäude wegführt. Dabei balanciert sie mit ausgebreiteten Armen übermütig auf der Bordsteinkante. Bei dieser Art sich fortzubewegen, muss sie an ihre Arbeit denken, die auch von einer solch leichten Unsicherheit, einem Schwanken zwischen zwei Seiten und dem ständigen Versuch, das Gleichgewicht zu halten charakterisiert wird. So entsteht auch eine Übersetzung: ein Text, der weder ganz auf der einen noch ganz auf der anderen Seite zuhause ist, sondern etwas Drittes darstellt, das zwischen zwei Sprachen schwebt.

References
01 In: Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen. 2003. Von Gabriele Leupold, Eveline Passet, Olga Radetzkaja, Anna Schibarowa und Andreas Tretner. (https://www.youtube.com/watch?v=elfxV-UyL).
02 Hier bezieht sich Kate Briggs auf verschiedene übersetzungstheoretische Werke.
03 In: Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen.