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Veröffentlicht am 26.12.21

Weltliteratur

„Weltliteratur“ gehört zu einer großen Gruppe von Komposita des Wortes „Welt“, die im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert erstmals belegt sind, darunter der „Welthandel“, der „Weltmarkt“ und der „Weltverkehr“. Eine Hintergrundvoraussetzung des Aufstiegs dieser Wortgruppe war das Verblassen des alten Oppositionspaares „weltlich / geistlich“. Die Welt der neuen Komposita ist die säkulare Welt, die allgemeine Sphäre des Handels, der Distribution und des Verkehrs. Die Achsendrehung von der Opposition „weltlich / geistig“  zu einer Fülle innerweltlicher Komposita und Kontraste wurde durch die Erfahrung der Pluralität der Welten seit dem Zeitalter der „Entdeckungen“ und der europäischen Expansion nachhaltig befördert. Ein Zentralbegriff der Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts, die mit den einzelnen Sprachen gegebene Fülle der „Weltansichten“, war an seinen „Plan einer vergleichenden Anthropologie“ (1797) rückgekoppelt.

Als Goethe in den späten 1820er Jahren den Begriff „Weltliteratur“ zu profilieren begann, sprach er nicht von einer Schatztruhe kanonischer Werke, sondern von Austauschbeziehungen, von der Nicht-Abgeschlossenheit der Nationalliteraturen. Wenn er das Ensemble der Literaturen aus allen Weltgegenden ins Auge fasste und die Weltliteratur in Kontrast zur Nationalliteratur setzte, war das nicht nur ein Echo seiner Skepsis gegenüber dem Völkisch-Vaterländischen in den Jahren der anti-napoleonischen Befreiungskriege. Die „Epoche der Weltliteratur“, die er heraufziehen sah, ist bei ihm zugleich die Epoche der Schnellposten, der Dampfschiffe und Eisenbahnen. Im literarischen Feld selbst sind die Übersetzungen die wichtigsten Agenten der Weltliteratur. Sie sorgen dafür, dass die Weltliteratur als Sphäre der „Kommunikation“ gedacht werden kann, statt als additive Ansammlung isolierter Literaturen. Dass die Herausbildung der Literatursprache der klassisch-romantischen Epoche in Deutschland dem Import und der fortwährenden Übersetzung fremdsprachiger Werke entscheidende Impulse verdankte, ist nicht erst eine Einsicht der Literaturgeschichtsschreibung. Schon die Zeitgenossen um 1800 beschrieben die Deutschen als Übersetzungsnation, Goethe hat diese Selbstdeutung in den Horizont des Begriffs „Weltliteratur“ übernommen. Und er erläuterte ihn durch Hinweise auf seine Lektüren. Dazu zählten ein ins Französische übersetzter chinesischer Roman aus der Ming-Zeit, der ins Englische übersetzte Sammelband „Chinese Courtship“,  und zugleich die innere Auffächerung des Europäischen durch das Interesse an litauischer, böhmischer und serbischer Literatur.

Trotz der Ausgriffe ins Chinesische und Persische, Nord- und Südamerikanische hatte der Begriff „Weltliteratur“ im frühen 19. Jahrhundert seinen perspektivischen Fixpunkt in der europäischen Literatur. Er lässt sich aber von der eurozentrischen Perspektive ablösen. Attraktiv war er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeitweilig dadurch, dass der sich mit den Friedensprojekten der Aufklärung verbinden ließ. Doch hat schon Goethe in seinen nüchterneren Bemerkungen zur Weltliteratur ihr nicht mehr zugetraut als einen Beitrag zur Milderung des „unvermeidlichen Streits“ zwischen den Nationen. Anknüpfen lässt sich im 21. Jahrhundert an Goethes im Kern soziologische Auffassung der Weltliteratur als der Literatur des heraufziehenden industriellen Zeitalters und an die Schlüsselrolle der Übersetzung als Medium ihrer Herausbildung. Der Begriff „Weltliteratur“ ist eine ideale Wünschelrute zum Aufspüren von Asymmetrien in der wechselseitigen Durchdringung der Literaturen der Welt auf nationalen und internationalen Märkten. In dieser Funktion ist er unverzichtbar.