Y
Veröffentlicht am 11.08.23

Ypsilon

Was eigentlich machen wir beim Übersetzen mit der Fremde? Wie genau realisieren wir, was uns fremd ist? Wie viel von dem, was uns umgibt, nehmen wir einfach als gegeben hin und wie viel nehmen wir überhaupt aktiv wahr? Man kann ja nicht immer alles neu bedenken. Auch die eigene Sprache ist aus Fremde gemacht, aber das merken wir nicht immer; und auch nicht, wie verbunden wir dieser Fremde irgendwie sind. Nehmen wir zum Beispiel das französische Wort für Verfremdung: aliénation. Während im Deutschen das Fremde drin steckt, hören die Franzosen in dem Wort die Verbindung, le lien.

Wenn wir uns unseren Umgang mit der Fremde ansehen wollen, sollten wir vielleicht früher beginnen, bei den basics gewissermaßen. Sprich: bei den Vokalen. Als Kind lernen wir: a, e, i, o, u; außerdem noch die Umlaute: ä, ü, ö, und die Diphtonge: ei, eu, au usw. Danach war meist Schluss. Noch heute fehlt in meiner Vokalreihe das Y – hierzulande mehrheitlich „ü“ ausgesprochen. Dabei ist es ziemlich eindeutig ein Vokal, man denke an Mythos, Asyl, anonym. Warum nur wird dieses Schriftzeichen so gerne übersehen, wo es als Bildzeichen betrachtet doch an eine Astgabel oder an 2 Hörner eines Tierkopfes erinnert, also Verbindung und Vielfalt vereint? Handelt es sich bei diesem Nicht-Bedenken um einen Akt der Ausgrenzung oder „nur“ um eine Erblast der Sprachgeschichte, die es unbedingt zu überdenken gilt?

Wer auch immer unsere siebenbuchstabige Bezeichnung für „y“ hört, weiß sofort, dass dieser vorletzte Buchstabe in unserem Alphabet ein Einwanderer ist, ein Fremdling, dessen Gebrauch über die Jahrhunderte aus den Worten „ausgeschafft“ wurde. Fast zum Verschwinden gebracht. Ersetzt, ähnlich wie das ph. Dabei muss der Buchstabe zu so manchen vergangenen Zeiten, so Grimm, fast inflationär gebraucht worden sein (frey, seyn oder beygesellen …), als wolle man sich ganz philhellenistisch mit der Fremde schmücken. Das sieht man nicht nur bei Grimmelshausen oder bei Luther, sondern auch an dem Wort „Bayern“. Verschiedene Rechtschreib„reformen“ dürften der Schmuck-Mode nach und nach ein Ende gesetzt haben. Sprachen sind schließlich nicht nur aus Neuerungen und Einwanderungen, sondern eben auch aus Ausgrenzungen und Abschleifungen gemacht.

„Y“ ist einer der Buchstaben, die vom Griechischen ins Lateinische migrierten. Allerdings wohl mit Verspätung. Die römische Hochkultur war bekanntlich graecophil, ja sie wiederbelebte die griechische Kultur, um sich in deren Licht zu sonnen. „Psilon“ ist griechisch und heißt „einfach“, bisweilen „nackt“ oder „bloß“, und so meint „Y-psilon“, aus dem Altgriechischen übersetzt, schlicht „einfaches ü“ oder „nacktes ü“. Warum „einfach“, fragt man sich. Und wenn es ein „einfaches ü“ gibt, welches ist dann das „komplizierte“ oder „komplexe ü“? Warum hatte ich bis heute noch nie von ihm gehört? Ist es untergegangen, ertrunken, und wenn ja, wo – in welchem Meer des Vergessens oder in welchem Wässerchen der Assimilation? 

Schon die Phönizier hatten den Gabel-Buchstaben; sie nannten ihn „waw“ – offensichtlich eine Erbschaft aus der protosinaitischen Schrift. Beiden Kulturen galt Y als Konsonant. Ein besonders weiches „w“ offensichtlich, das sich zu Homers Zeiten jedoch für den Laut /u/ erhalten hatte, dann, in der klassischen Zeit für den Laut /ü/, und in byzantinischer Zeit für etwas aus dem weiten Bereich des /i/. Der Laut „ü“ existierte aber bei den Griechen auch noch für die Buchstabenkombination „οι, oi“. 

Den lateinischen Wörtern war das Y fremd, und so ist anzunehmen, dass die Römer den Buchstaben benötigten, weil immer mehr Lehnwörter aus dem Griechischen ins Lateinische einwanderten, die ein y in sich trugen. Merkwürdig, wie viele Umwege Sprachen nehmen. 

Als die Franzosen sich aus dem Lateinischen in eine eigene Sprache emanzipierten und den Buchstaben Y in ihr Alphabet übernahmen, gaben sie ihm eine Bezeichnung, die dreierlei festlegte. Erstens: „Y“ ist ein Vokal; zweitens: er wird bei uns (in Frankreich also) wie ein „i“ ausgesprochen; und drittens: er kommt nicht von hier. Er ist eingewandert. So wurde das, was wir Ypsilon nennen, im romanischen Sprachraum zum „i-grec / i- griega“ – zum „griechischen i“ also. Wo wir „Müthos“ sagen, sagen die Franzosen „mithe“. Geschrieben wird beides mit y. Vielleicht rühren die unterschiedlichen Lautwerte in den verschiedenen europäischen Sprachen aus den historischen Unterschieden im Griechischen selbst. 

Die Engländer ebenso wie die Amerikaner haben einen völlig anderen Umgang gefunden als die Romanen. Sie verstehen offensichtlich nicht, wozu dieses ganze kontinentaleuropäische Fremdeln gut sein soll. Folglich nutzen sie das „Y“ von allen Zuschreibungen der Herkunft befreit, ja: sie gebrauchen es im Alltag sogar für die Besitzanzeigung „my“. Der Buchstabe selbst heißt bei ihnen „wai“, wie „why“. Als würden sie fragen: Why should anyone be entitled to deny this vowel its entrinto our country?

Wir sehen, die Wege der Lautwanderungen sind mannigfaltig, und gleichermaßen mannigfaltig sind auch die Wege der Rettung und der Aufnahme in die Ankunftskultur. Völlig eigenständig in die eigene Sprache aufgenommen wurde dieses Verästelungsgebilde nur von den Spaniern. Vielleicht liegt das an der Fast-Landverbindung zum afrikanischen Kontinent. In grauen Vorzeiten, nehme ich an, muss mit den Phöniziern auch deren Alphabet bis nach Spanien gelangt sein, und dies hat vielleicht Spuren hinterlassen, die bislang noch zu wenig erforscht sind. Wie dem auch sei – jedenfalls ist y im Spanischen ein eigenständiges Wortwesen und heißt einfach „und“, so auch bei Ortega y Gasset: „yo soy yo mis circunstancias“. Ich bin ich und alles um mich herum. 

Hier ist mein Latein am Ende. Warum nur, so frage ich mich, wird dieser Buchstabe bei uns immer noch so behandelt, als sei er gestern mit dem Schlauchboot illegal ins Land verbracht worden? 

(Ich danke Dr. Thomas Poiss für wertvolle Hinweise.)