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Veröffentlicht am 02.06.22

Zunge

Während ich spreche, muss ich vergessen, dass ich eine Zunge habe. Es ist ähnlich wie mit den Beinen beim Gehen. Mache ich mir zu viel Gedanken über ihre Position und Bewegung, stolpere ich. Meine Beine sind wie abwesend, während ich heute gehe. Wie auf einem unsichtbaren Pferd werde ich durch die Luft getragen. Aber im erschöpften Zustand werden meine Knie, Oberschenkel oder Füße spürbar oder auch bei jedem Versuch, auf eine neue Art zu gehen, sei es Gehen mit Schneeschuhen oder eine Wattwanderung, sind die Glieder wieder präsent.

Ähnlich verläuft es mit einer Fremdsprache, die von uns eine neue Art der Zungenbewegung verlangt. In einem japanischen Lehrbuch für die deutsche Sprache stand zum Beispiel, dass man, um den A-Umlaut („ä“) auszusprechen, die Zunge etwas höher halten solle als beim „a“. Anschließend müsse man mit etwas geöffnetem Mund ein japanisches „e“ aussprechen. Diese Beschreibung war so verwirrend, dass ein „äh…“ unwillkürlich aus meinem Mund sickerte.

Trotz meiner Verwirrung war ich für diese Beschreibung dankbar. Für einen Mund, der noch nie „ä“ ausgesprochen hat, ist jede Anweisung hilfreich. Sie ist kein Gesetz, keine Vorschrift und kein Befehl, die meine Zungenfreiheit einschränken, sondern eine Choreografie. Meine alte Zunge will zu einer neuen, unbekannten Musik tanzen. Warum sollte ich sonst eine neue Sprache lernen wollen?

Betrachten wir den Mund als eine kleine Theaterbühne. Leider besitzen nicht alle Anwesenden eine Elastizität wie die Zunge. Der Gaumen ist eher eine feste Decke über der Bühne als ein Mitwirkender. Auch die Zähne können sich weder biegen noch dehnen. Wäre der einzelne Zahn beweglich wie ein Finger, hätten sich die menschlichen Sprachen ganz anders entwickelt.

Wenn der Choreograf bei der Probe anwesend ist, folgen alle Tänzer brav seinen Anweisungen. Kaum ist er weg, schon tanzen sie in einer Weise, die für sie bequemer ist.

Der Choreograf sagt zum Beispiel, dass die Zunge beim deutschen „i“ etwas weiter vorne liegen müsse als beim entsprechenden Vokal im Japanischen. Das war eine strenge Anweisung, dennoch kann ich mir kaum vorstellen, dass ich solche Feinheiten bis heute korrekt praktizieren würde. Denn ich habe etwas Wichtigeres zu tun. Hätte ich wenigstens ein Jahr lang versucht, mich streng daran zu halten, hätte die Zunge vielleicht gelernt, blitzschnell die richtige Position zu finden. Dafür hätte ich aber in Kauf nehmen müssen, die eigene Zunge als Fremdkörper im Mund zu spüren. Außerdem, wenn jeder Konsonant und jeder Vokal so viel Aufmerksamkeit brauchen, kann ich mich nicht mehr darauf konzentrieren, was ich sage.

Die Zunge ist im Alltag überlastet. Sie muss nicht nur die Nahrung im Mund hin- und herschieben und beim Sprechen einer Fremdsprache komplizierte Haltungen annehmen, sondern auch beim Schweigen mitwirken. Wenn ich still an einem Text arbeite, merke ich, dass sich meine Zunge in der Mundhöhle den Gedanken entlang bewegt. Manchmal streckt sie sich sehnsüchtig nach einer fernen Erinnerung oder kostet eine Zukunft, die noch kein akustisches Bild hat. Sie ist mit tausenden Fäden mit den Denkzellen verbunden, sodass bei ihr selbst die leiseste Denktätigkeit nicht unbemerkt vorbeiziehen kann.

Wie viel Wörter muss sie pro Tag produzieren? Auch unhörbare Wörter müssen mitgezählt werden. Für sie ist der ausländische Akzent ein Luxusproblem. Sie hat keine Kapazität, sich über die feinen Unterschiede zwischen dem deutschen „i“ und dem japanischen „i“ oder zwischen dem deutschen „n“ und dem japanischen „n“ den Kopf zu zerbrechen.

Spreche ich das japanische Wort „Kin“ (Gold) aus, ähnelt sein Klangbild dem des deutschen Wortes „Kinn“, sodass es in einem entsprechenden Kontext problemlos verstanden wird. Korrekt wäre, diese zwei Wörter unterschiedlich auszusprechen. Eigentlich sollte ich jedes Mal darauf achten, dass die Zunge beim deutschen „i“ weiter vorne liegt und dass sie sich beim „n“ gegen den Gaumen drückt. Beim japanischen „n“ berührt die Zunge nicht den Gaumen, sondern bleibt faul im eigenen Bett. Beim deutschen „n“ müsste sie aufstehen und sich bis zur Decke strecken, aber warum sollte sie das tun, wenn sie im Bett verstanden wird?

Solche Feinheiten fallen im Alltag nicht auf, bzw. die meisten nehmen die Unterschiede bloß als ausländischen Akzent wahr und machen sich keine weiteren Gedanken darüber, wie die eine oder andere Verschiebung zustande kommt. Für das Ohr der langjährigen Freunde klingen solche phonetischen Eigenschaften nicht einmal „ausländisch“, sondern gehören zum akustischen Portrait eines Individuums.

Für die Erwachsenen kann es peinlich oder sogar schmerzhaft sein, wenn ihre Aussprache unerwartet korrigiert wird. Wer in einem neuen Land leben will, muss sich darüber Gedanken machen, wie man mit diesem Stress umgeht. „Man soll Kritik nicht persönlich nehmen“, sagt man so schön, und in der Tat ist es nicht schwer, eine Kritik über einen wissenschaftlichen Aufsatz anzunehmen. Aber die Bemerkung über die Aussprache nimmt man immer persönlich, weil die Zunge ein sehr persönliches Organ ist, das – anders als die Augen – normalerweise der Öffentlichkeit nicht gezeigt wird. Was kann man tun, um diese verletzliche, nackte Person zu schützen? Schließe ich den Mund, kann ich keine neue Sprache lernen. Öffne ich den Mund, mache ich mich angreifbar.

Mit der Zunge kommen wir in Berührung mit der Außenwelt. Die Zunge macht unsere Gedanken hörbar für die anderen Menschen. Mit der Zunge schmecken wir die Nahrungen, die aus der unbekannten Ferne geliefert werden, und schicken sie sogar in den Innenraum des Körpers, damit sie sich in neue Zellen verwandeln. Die Zunge befeuchtet ständig die Lippen, manchmal sogar die Haut der anderen. Die Zunge gehört zu einem intimen Bereich. Dass wir sie trotzdem in der Öffentlichkeit zeigen, ist ein Zeichen für Mut und Vertrauen.