Der Segen von Babel. Übersetzen und Anderssein

Inwiefern geht eine Übersetzung vom Nichtverstehen aus? Und inwiefern bildet die Anerkennung dieses Nichtverstehens sogar die Grundlage und Voraussetzung für eine echte Verständigung?

Mitschnitt: „Lesezeit“ im Deutschlandfunk, 4. Januar 2023.
Mit Olga Radetzkaja. Moderation Wiebke Porombka.

(1)

In den späten 1980er Jahren veranstaltete die amerikanische Wheatland Foundation, gegründet von der Mäzenin Ann Getty und dem Verleger George Weidenfeld, eine Reihe von Internationalen Schriftstellertreffen, um die Literaturen der Welt miteinander ins Gespräch zu bringen. Bei einem der ersten dieser Großereignisse, 1987 in Washington, kamen unter anderem sowjetische Autoren wie Andrej Bitov mit ehemals sowjetischen Exilanten wie Josif Brodsky und Efim Etkind zusammen: ein Novum, das erst in der Zeit der Perestrojka möglich geworden war.

Auch bei der womöglich noch prominenter besetzten Konferenz im folgenden Jahr, 1988 in Lissabon[01]Ein Transkript eines Teils der Konferenz findet sich hier: … Fußnote lesen, trafen Brodsky und andere Exilanten aus dem sozialistischen Block (darunter Josef Škvorecký, Adam Zagajewski, Czesław Miłosz) auf nicht emigrierte Autoren derselben Weltgegend – György Konrád, Danilo Kiš, Péter Esterházy, Ismail Kadare; dazu kamen Kollegen aus dem Rest der Welt – Susan Sontag, Derek Walcott, Salman Rushdie, Roberto Calasso, Hans Christoph Buch, die Liste ist lang.

Der Streit, der bei dieser Konferenz ausgetragen wurde und in die kulturgeschichtlichen Annalen einging, entzündete sich aber keineswegs entlang der Linie emigriert/nicht emigriert, sondern am Begriff Mitteleuropa – einem damals noch vergleichsweise neuen Konzept. Es war Milan Kundera, der den Begriff zwar nicht erfunden, aber 1983 mit einem vieldiskutierten Essay in die öffentliche Debatte gebracht hatte.[02]Milan Kundera: Un occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale, in: Le Débat, November 1983. Deutsch unter dem Titel: Die … Fußnote lesen Knapp gesagt, widersprach er der pauschalen Zurechnung von Ländern wie Polen, Tschechoslowakei, Ungarn etc. zu einem sowjetisch dominierten „Osten“ und bestand vielmehr auf ihrer kulturellen Zugehörigkeit zum Zentrum Europas.

In Lissabon nun standen auf der einen Seite Stimmen wie die von Miłosz, Zagajewski, Kiš und Konrád, die diesen Begriff als adäquate Beschreibung einer historisch bedingten Realität sahen. Auf der anderen standen Autoren russischer Sprache wie Brodsky oder auch die damals Mitte 30-jährige Tatjana Tolstaja, die das Konzept „Mitteleuropa“ glatt zurückwiesen. Tolstaja befand, entscheidend für die kulturelle Identität sei allein die Sprache, deshalb könne Mitteleuropa nicht als kulturelle Einheit gelten. Sie lehne den Begriff ab, er verwechsle „Wunsch mit Wirklichkeit.“ Brodsky sekundierte: In Russland kenne man allein die Literaturen separater Länder – also keine mitteleuropäische, sondern nur die polnische, auf Polnisch verfasste, die ungarische, auf Ungarisch verfasste Literatur usw. – und fügte auf der politischen Ebene hinzu, die Russen (Russland und Sowjetunion gehen bei ihm hier als Synonyme durch) hätten derzeit eben dringendere Probleme als die fortschreitende Befreiung ihrer westlichen Satelliten, zumal diese ohnehin schon mehr Freiheit genössen als sie selbst; und ihre Probleme sich schließlich von selbst regeln würden, wenn erst einmal die inneren Probleme Russlands gelöst seien.

Bemerkenswert ist daran mehreres, ich möchte einen Punkt hervorheben. Kiš und Konrád sprechen hier von Mitteleuropa als einer Einheit, während Brodsky wie Tolstaja auf die Vielfalt und Vielsprachigkeit der Region abheben, außerdem auf die Individualität jedes einzelnen Dichters, jeder einzelnen Autorin. Ist nicht, kann man an dieser Stelle fragen, sprachliche und kulturelle Vielfalt tatsächlich eines, wenn nicht das wichtigste Charakteristikum der spezifisch europäischen Erfahrung? Und ist nicht das Bestehen auf der Vielheit die modernere Position als die Verteidigung einer kulturellen Einheit? Haben Brodsky und Tolstaja also recht? Andererseits: geht es bei ihrer Ablehnung des Konzepts Mitteleuropa tatsächlich um Pluralität?

Tolstaja und Kollegen bestanden in Lissabon auf der zwingenden Verbindung von Nationalsprache und Nationalliteratur. Übersetzung als Medium der Weltliteratur kommt in diesem Konzept kaum vor (Weltliteratur ist in Tolstajas Logik denn auch eher eine Art Gewichtsklasse, ähnlich wie die „Weltmacht“) – ebensowenig wie die innere Viel- oder Mehrsprachigkeit eines Landes oder einer Kultur.

(2)

Ich möchte hier einhaken und kurz bei der Mehrsprachigkeit verweilen, die gerade für die mitteleuropäischen Länder – sowie vielleicht überhaupt für „kleine Länder“ und weniger für Weltmächte – so charakteristisch ist.

Zweiheit – diesen Gedanken formuliert Barbara Cassin, die Herausgeberin des 2004 erschienenen Europäischen Vokabulars der Philosophien (auch bekannt als Wörterbuch der Unübersetzbarkeiten, Dictionnaire des Intraduisibles) ­– Zweiheit schärft oder schafft überhaupt erst das Bewusstsein vom Einen: „Es bedarf der Kenntnis oder zumindest der Annäherung an zwei Sprachen, um zu wissen, dass man eine davon spricht, dass es eine ‚Sprache‘ ist, was man spricht.“[03]Barbara Cassin, L’énergie des intraduisibles, in: Philosopher en langues. Les intraduisibles en traduction. Hg. Barbara Cassin. Paris 2014, S. … Fußnote lesen Dieser Zuwachs an Bewusstsein ist, wie meistens, begleitet von Zweifeln – die erste Sprache wird durch den Auftritt der zweiten auf einmal „doppelbödig“, wie etwa Marica Bodrožic[04]Marina Bodrožić: Sterne erben, Sterne färben. FaM 2007, S. 95: „Das Doppelbödige der ersten Sprache, es zeigte sich erst beim Bestehen in der … Fußnote lesen schreibt – und oft auch von Schmerz.

Der Schock der fremden Sprache, des Nichtverstehens, ist in der biblischen Geschichte des Turmbaus zu Babel aufgehoben. Die Verschiedenheit der Sprachen ist hier ein Fluch, die göttliche Strafe für menschliche Hybris.

Nach Babel leben wir spätestens seit der Zerstörung jenes Turms alle. Mein Berufsstand allerdings, der der Literaturübersetzer, lebt in einem ganz konkreten materiellen Sinn auch von und in einem ideellen Sinn aus Babel. Das Symbol dieses Traumas, der biblischen Sprachverwirrung, hat für uns einen verheißungsvollen Klang.[05]So ist es kein Zufall, dass einige der jüngsten Projekte des Deutschen Übersetzerfonds – die Plattform Babelwerk mit ihrem … Fußnote lesen

Aber – geht es uns beim Übersetzen nicht um Überwindung der Differenz? Brückenbauen, Verbinden?

Tatsächlich ist das Teilen- und Mitteilenwollen für das Übersetzen (nicht nur, aber vielleicht vor allem von Literatur) nach meiner Überzeugung konstitutiv.

Ich habe etwas entdeckt (und das kann auch etwas sein, was ich von Anfang an in meinem Erfahrungsschatz trage, als Teil einer anderssprachigen Familiengeschichte zum Beispiel) – eine andere Art zu sein, zu leben, die Welt wahrzunehmen als die, die in meiner gewohnten Umgebung für selbstverständlich gilt. Diese Erweiterung und Öffnung des Horizonts will ich der gewohnten Umgebung zugänglich machen: Seht her, wie man hier, im Reich der anderen Sprache, ist, seht her wie auch ihr sein könnt – nicht anstelle, sondern zusätzlich zu eurer gewohnten Art zu sein. Ein Spielfeld mehr, ein Ausweg vielleicht aus einer kulturell-mentalen Zwangslage: Man kann, was wir ernst nehmen, komisch finden, man kann in dieser oder jener Nebensächlichkeit eine Rettung sehen.

Entscheidend an dem, was ich da übersetzend verbreiten will, ist aber nicht, dass man es sich anverwandeln und sozusagen in den eigenen inneren Vorratsschrank räumen kann, sondern dass es vielmehr uns, die wir lesen, verwandeln kann.

Wo übersetzt wird, sind zwei Sprachen im Spiel, und wer übersetzt, verbürgt allein durch sein Tun diese Tatsache. Die Rolle der Übersetzer besteht nicht darin, Fremdheit, oder genauer: Andersartigkeit, alterity, wie George Steiner es nennt[06]Vgl. George Steiner, After Babel: „Through language, we construct what I have called ‘alternities of being.’ (…) different tongues give … Fußnote lesen, aus dem Weg zu räumen, sondern ihr Raum zu verschaffen.

(3)

Ehe ich noch einmal ins Jahr 1988 nach Lissabon zurückspringe, möchte ich an dieser Stelle einen weiteren Autor ins Gespräch holen.

Jan Philip Reemtsma unterscheidet in einem Vortrag, den er 2015 bei einer Psychoanalytiker-Tagung hielt und der übrigens den schönen Titel „Das Geschenk von Babel“ trägt, die Vorgänge des Verstehens und des Deutens:[07]Auf Deutsch unveröffentlicht; eine englische Übersetzung erschien unter dem Titel „The Gift of Babel“ in: Anne-Marie Schlösser (Hg.): A … Fußnote lesen  Das Verstehen sei im Alltag der kommunikative Normalfall zwischen gleichberechtigten Gesprächspartnern. Mit dem Deuten komme dagegen eine Asymmetrie ins Spiel: Der Deutende erhebt den Anspruch, besser als der Gedeutete zu wissen, was dieser mit einer Äußerung meint, was er eigentlich denkt und ist. Das kann, etwa im Kontext einer Therapiesituation, eine einvernehmliche Grenzüberschreitung sein, es kann aber auch gewaltsame Züge haben. Aus dem Partner im Gespräch wird der Gegenstand des Gesprächs – der andere ist nicht mehr Subjekt, sondern Objekt.

Der maximale Machtanspruch äußert sich vielleicht in der Behauptung, das Gegenüber sei gar nicht von mir selbst unterschieden. „Du bist ein Teil von mir, sei still, lass mich für dich sprechen.“[08]„C’est moi qui suis vous, taisez-vous et laissez moi parler“ – für Barbara Cassin (a.a.O., S. 17) ist der andere Name dieses … Fußnote lesen

Es ist genau diese Art von Bevormundung, die 1988 in Lissabon so große Irritationen auslöste, und es waren neben den erwähnten Miłosz, Kiš, Konrád vor allem Salman Rushdie und Susan Sontag, die es damals klar benannten: Das Insistieren der russischen Autoren darauf, dass sie nicht an Mitteleuropa „glaubten“, während die Mitteleuropäer selbst sehr wohl daran glaubten, sei nichts anderes als ein „kolonialer Akt“, sagt Rushdie, denn: „one of the great powers of colonialism is the power to describe the colonized“.[09]S. Konferenzprotokoll (Fn. 1), S. 118; auch Sontag bekundet Abscheu vor solchem „imperialistischen“ Desinteresse, 120.

Dieses Problem war 1988 nicht neu und ist heute nicht passé. Was sich fortsetzt, auch vor dem Hintergrund, oder genauer: als Teil des gegenwärtigen Krieges, ist das gewaltsame Eingemeinden der „kleinen Brüder“ der imperialen Titularnation, das Leugnen der Differenz, oder um mit Reemtsma zu sprechen, die „unzulässige Gemeinschaftsbildung“, die stets „auf dem Weg zum Totalitären“ ist. Jenes eigene, andere, das ihr zu sein behauptet, seid ihr nicht. Zum Beispiel: Es gibt kein separates ukrainisches Volk, nur als Teil der großen russischen Nation, der im übrigen auch die Belarussen angehören (so schrieb Vladimir Putin im Sommer 2021), oder, knapp hundertdreißig Jahre früher: „Russland erobert im Osten nichts, denn dieses ganze fremdstämmige Volk, das in uns aufgeht, ist seinem Blut, seinen Traditionen, seinen Auffassungen nach unser Bruder. Wir verbinden und verschwägern uns nur fester mit dem, was uns seit jeher gehört“ (so schrieb Prinz Esper Uchtomskij, einer der Ideologen der Expansion des Zarenreiches nach Osten, 1895).[10]Ėsper Uchtomskij: Putešestvie Gosudarja Imperatora Nikolaja II na Vostok (v 890–1891). Sankt Peterburg, Leipzig 1895. Bd. 2, Teil 3, S. 65. – … Fußnote lesen

Die Alternative zu dieser Haltung des einseitigen Deutens ist bei Jan Philipp Reemtsma das „Verständnis für den Ort in der Welt“ des anderen. Es ist begleitet von einem „Gefühl von Nähe“, aber gleichzeitig auch von Ferne: „Der Platz des einen ist nicht der des anderen – die Plätze sind nicht austauschbar.“ Die Zerstörung des Turms von Babel, dieses Symbols einer größenwahnsinnigen „All-Symbiose“, so Reemtsma weiter, nötige uns „zur Ausbildung der Kardinaltugend des Zusammenlebens: der Fähigkeit zur Anerkennung“, und das heißt an erster Stelle, zur „Anerkennung des Getrenntseins“.[11]„Verstehen ohne Anerkennen des grundsätzlichen Getrenntseins läuft auf pure Projektion, untermischt mit Unfug, hinaus.“ Reemtsma, a.a.O.

Diese Kardinaltugend ist auch das Fundament, auf dem das Übersetzen steht. Wer übersetzt, dem geht es nicht um Aufhebung der Differenz, sondern um deren Aktualisierung im Gespräch.[12]„Le divers est mis en oeuvre dans une pratique du commun.“ Cassin, a.a.O., S. 17. Zu dieser Arbeit gehört ein unbedingter Wille zum Verstehen, auch wenn wir erkennen, dass wir eben nicht alles verstehen können – aber wir können vielleicht verstehen, warum wir etwas nicht verstehen.

Übersetzung schafft Übergänge, „Passagen“ zwischen den Sprachwelten.[13]Ebd. Der Zweck einer Passage ist, dass darin Bewegung stattfindet. Bedeutungen passieren die Übersetzung in beide Richtungen. Wir stellen Verbindungen her nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Und wir arbeiten dabei nicht gegen das Geheimnis, auch nicht gegen Zufall und Zauber, aber für den Funken des Sinns, der überspringt.

(4)

Wenn ich hier die alte und doch noch überraschend frische Kamelle von Lissabon zitiert habe, dann nicht, um bestimmte Autoren oder gar eine ganze Literatur an den Pranger zu stellen – zumal diese Literatur bzw. das Land, mit dem sie verbunden ist, keineswegs ein Exklusivrecht an imperialer Ignoranz hat. Mein Ziel war auch nicht, vor über 30 Jahren geäußerte kulturpolitische Positionen noch einmal kritisch zu bewerten – das wäre zum einen wohlfeil (oder bedürfte eines wesentlich weiteren Ausholens, um es nicht zu sein), zum anderen hätte es wenig mit meinem Generalthema, dem Übersetzen zu tun.

Salman Rushdie und Susan Sontag haben 1988 – und auch das hat nicht direkt mit dem Übersetzen zu tun, aber mit dem Moment, in dem ich darüber nachdenke – die Forderung der mitteleuropäischen Autoren an ihre sowjetischen Kollegen, die sowjetischen Panzer auf nicht-sowjetischem Gebiet nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern dazu auch in ein explizites Verhältnis zu treten, ausdrücklich unterstützt: „If you live in the world, you confront the world.“ Der Platz im Bauch des Wals, an dem sich die draußen tobenden politischen Stürme sicher abwarten ließen, so Rushdie, ist eine Fiktion.

Recht unmittelbar hat dagegen mit dem Übersetzen zu tun, was Salman Rushdie in Lissabon implizit auch gefordert hat, nämlich das Recht, sich selbst zu beschreiben – ein zugleich politisches und literarisches Recht, wie ich es verstehe. Dieses Recht lässt sich auf internationaler Ebene ohne Übersetzung nicht denken: Indem wir übersetzen, lassen wir die anderen zu Wort kommen, statt über sie zu sprechen.

Ist das Fazit also: Wo übersetzt wird, da lass dich ruhig nieder? Das wäre zuviel der Zuversicht, aber die Vermutung, dass es sich dort, wo Literatur übersetzt wird, freier atmet als dort, wo man Übersetzung für überflüssig oder schädlich hält, liegt immerhin nahe. Ich zitiere Uljana Wolf, die ihrerseits Édouard Glissant zitiert: „Es sollten immer mindestens zwei Sprachen zugegen sein, wo sich viele begegnen.“[14]Uljana Wolf: In die Karten geschaut. In: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin 2022, S. 98–100, hier 100. Dazu kommt, dass man in der übersetzenden Zunft meist wohl weiß, dass einem die Sprache nie gehört. Eine Sprache soll Raum bieten für eine ganze Welt. Also auch für die Äußerungen, die ich nicht gutheiße oder die ich nicht „nachvollziehen“ kann, ebenso wie für mein Urteil darüber.

Für mich gibt es konkrete Übersetzungen, die veritable Nachschlagewerke des in Sprache gefassten Andersseins sind: Andreas Tretners und Alexander Ilitschewskis „Der Perser“, Terézia Moras und Andrea Tompas „Omertà“, Gabriele Leupolds und Andrej Belyjs „Petersburg“ – das sind nur die ersten drei Titel, die mir gerade in den Sinn kommen.

Dass es diese Bibliothek der alternity in dieser großartigen Qualität und Breite im Deutschen gibt, ist einem immer noch sehr ausdifferenzierten Buchmarkt, vor allem aber einer Übersetzungskultur zu verdanken, die zu einem wesentlichen Teil von Übersetzerinnen und Übersetzern selbst geschaffen wurde. Sie haben vor 25 Jahren einen Übersetzerfonds gegründet, der von Anfang an nicht nur die Arbeit an konkreten Büchern und die übersetzerische Weiterbildung gefördert hat, sondern auch einen Raum der Selbstreflexion bot.[15]Zur Geschichte, den zahlreichen Aktivitäten und der Förderstruktur des DÜF siehe: Das große Ü. Hg. von Jügen Jakob Becker, Marie Luise Knott, … Fußnote lesen Und sie haben diesen Raum des Lernens, des Wissens und Mehrwissenwollens selbst bevölkert – einen Raum, in dem wir heute nicht mehr nur das Übersetzen an sich erforschen und perfektionieren, sondern auch der Wirkung des Übersetzens auf die Welt, und der Wirkung der Welt aufs Übersetzen nachgehen.Tatsächlich wirkt diese Entfaltung und Blüte mittlerweile zunehmend auch nach außen; sie dürfte und sollte es nach meinem Geschmack noch viel mehr, denn der Geist der „differenzierten Pluralität“ (Cassin), der der Geist des Übersetzens ist, kann der Menschheit und dem Menschsein insgesamt nur gut tun.

References
01 Ein Transkript eines Teils der Konferenz findet sich hier: <https://quod.lib.umich.edu/cgi/t/text/pageviewer-idx?c=crossc;cc=crossc;q1=round%20table;rgn=full%20text;view=image;seq=00000085;idno=ANW0935.1990.001;node=ANW0935.1990.001:5>; eine russische Übersetzung hier:  <https://magazines.gorky.media/zvezda/2006/5/lissabonskaya-konferencziya-po-literature-russkie-pisateli-i-pisateli-czentralnoj-evropy-za-kruglym-stolom.html>.
02 Milan Kundera: Un occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale, in: Le Débat, November 1983. Deutsch unter dem Titel: Die Tragödie Mitteleuropasin: Erhard Busek und Gerhard Wilfinger (Hg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Wien 1986, S. 133–144.
03 Barbara Cassin, L’énergie des intraduisibles, in: Philosopher en langues. Les intraduisibles en traduction. Hg. Barbara Cassin. Paris 2014, S. 16: „Il faut connaitre, au moins approcher deux langues pour savoir que l‘on en parle une, que c’est une „langue“ que l’on parle.“
04 Marina Bodrožić: Sterne erben, Sterne färben. FaM 2007, S. 95: „Das Doppelbödige der ersten Sprache, es zeigte sich erst beim Bestehen in der zweiten.“
05 So ist es kein Zufall, dass einige der jüngsten Projekte des Deutschen Übersetzerfonds – die Plattform Babelwerk mit ihrem Recherchebereich Babelkat – dieses Symbol durchaus emphatisch im Namen tragen.
06 Vgl. George Steiner, After Babel: „Through language, we construct what I have called ‘alternities of being.’ (…) different tongues give to the mechanism of ‘alternity’ a dynamic, transferable enactment. They realize needs of privacy and territoriality vital to our identity. To a greater or lesser degree, every language offers its own reading of life. To move between languages, to translate, even within restrictions of totality, is to experience the almost bewildering bias of the human spirit towards freedom. If we were lodged inside a single ‘language-skin’ or amid very few languages, the inevitability of our organic subjection to death might well prove more suffocating than it is.“ (https://archive.org/stream/GeorgeSteinerAfterBabelAspectsOfLanguageAndTranslationOxfordUniversityPressUSA1998/George%20Steiner-After%20Babel_%20Aspects%20of%20Language%20and%20Translation-Oxford%20University%20Press%2C%20USA%20%281998%29_djvu.txt)
07 Auf Deutsch unveröffentlicht; eine englische Übersetzung erschien unter dem Titel „The Gift of Babel“ in: Anne-Marie Schlösser (Hg.): A Psychoanalytic Exploration On Sameness and Otherness. Beyond Babel? London, New York 2019.
08 „C’est moi qui suis vous, taisez-vous et laissez moi parler“ – für Barbara Cassin (a.a.O., S. 17) ist der andere Name dieses Sprachgestus „Ideologie“.
09 S. Konferenzprotokoll (Fn. 1), S. 118; auch Sontag bekundet Abscheu vor solchem „imperialistischen“ Desinteresse, 120.
10 Ėsper Uchtomskij: Putešestvie Gosudarja Imperatora Nikolaja II na Vostok (v 890–1891). Sankt Peterburg, Leipzig 1895. Bd. 2, Teil 3, S. 65. – Englische Fassung zitiert bei Alexander Morrison: The Russian Conquest of Central Asia. A Study in Imperial Expansion, 1814-1914. Cambridge 2021, S. 26. – Vgl. ders.: Russia’s Colonial Allergy, in: eurasianet,19.12.2016, <https://eurasianet.org/russias-colonial-allergy>.
11 „Verstehen ohne Anerkennen des grundsätzlichen Getrenntseins läuft auf pure Projektion, untermischt mit Unfug, hinaus.“ Reemtsma, a.a.O.
12 „Le divers est mis en oeuvre dans une pratique du commun.“ Cassin, a.a.O., S. 17.
13 Ebd.
14 Uljana Wolf: In die Karten geschaut. In: Etymologischer Gossip. Essays und Reden. Berlin 2022, S. 98–100, hier 100.
15 Zur Geschichte, den zahlreichen Aktivitäten und der Förderstruktur des DÜF siehe: Das große Ü. Hg. von Jügen Jakob Becker, Marie Luise Knott, Nina Thielicke. Berlin 2022.