Abraham Lincoln was born in achtzehnhundertneun. Wie Mehrsprachige ihre Sprachen auseinanderhalten – oder auch nicht
Was passiert im Gehirn von zwei- oder mehrsprachigen Menschen? Ebba D. Drolshagen unterzieht neurologische Perspektiven auf Mehrsprachigkeit einem Praxistest und fragt Literaturübersetzerinnen und -übersetzer, wie diese ihre Sprachen im Kopf auseinanderhalten.
Viele Menschen, vielleicht die meisten, tun es ständig, spontan und meist fehlerfrei: Sie bringen die Sprachen, die sie beherrschen – Schwäbisch, Hochdeutsch oder Englisch, Italienisch und Urdu – nicht durcheinander. Wenn sie Sprache A sprechen, kommt ihnen Sprache B nicht in die Quere; wenn jemand sie in Sprache B anspricht, antworten sie in aller Regel nicht in Sprache A. Werden sie gefragt, wie sie das machen, antworten sie, dass es kein Problem sei, es komme darauf an, wo sie seien und mit wem sie redeten.
Kaum jemand versteht das als Frage danach, ob und wie das Gehirn die Sprachen sortiert. Aber wie muss man sich das vorstellen: Gibt es im Sprachzentrum für jede Sprache einen eigenen Tank, befindet sich also Polnisch an einem, Deutsch an einem anderen Ort? Oder gibt es einen großen Tank ‚Sprache,‘ bei dem für jede Einzelsprache jeweils verschiedene Hähne auf- und zugedreht werden können? Beide Modelle haben ihre Probleme. Warum, wenn Sprachen getrennt gespeichert sind, liest die innere Stimme einer deutschen Muttersprachlerin den Satz „Abraham Lincoln was born in 1809“ vermutlich als „Abraham Lincoln was born in achtzehnhundertneun?“ (Oder, falls die Erstsprache Französisch ist: „Abraham Lincoln was born in mille huit cent neuf“). Bei einem gemeinsamen Tank stellt sich die Frage, wie die Sprachen (meist) getrennt bleiben und keine – pardon: Sprachpampe entsteht.
Wenden wir uns kurz der Frage zu, ob Schwäbisch und Hochdeutsch wirklich eigene Sprachen sind. Die meisten Sprachwissenschaftler (und Übersetzer:innen) bejahen das, weil wir zwischen Hochdeutsch und Dialekt wechseln wie zwischen Hochdeutsch und Fremdsprachen. Für jemanden, der mit Hochdeutsch aufgewachsen ist, kann „Hessisch (zum Überleben an der Schule)“[01]Für diesen Text wurden fünfzehn Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzer nach ihrer Mehrsprachigkeit befragt. Einige ihrer schriftlichen … Fußnote lesen durchaus die erste Fremdsprache sein, eine „mit dem tiefsten Wiener Dialekt aufgewachsene“ Übersetzerin hat „das Gefühl, ins Deutsche zu übersetzen, nie ganz verlassen.“ Mehr noch: Wir verfügen über eine muttersprachliche Mehrsprachigkeit, denn auch wenn wir Schwäbisch, Bayerisch oder Plattdeutsch nicht sprechen können, verstehen wir es (bis zu einem gewissen Grad). Man muss also nicht bereits als Kind mit zwei oder mehr „Erstsprachen“ aufgewachsen sein und/oder als Erwachsener (mindestens) zwei Sprachen fehlerfrei beherrschen, um als ‚zweisprachig’ oder ‚bilingual’ zu gelten. Es genügt, in mehr als einer Sprache ein Gespräch führen und zwischen diesen Sprachen wechseln zu können.
Die Fähigkeit zur Sprache ist dem Menschen angeboren wie der aufrechte Gang; ein gesundes Kind muss nicht unterrichtet werden, um die Sprache – oder die Sprachen – seiner Umgebung zu lernen. Dieses Sprachvermögen ist vor allem in der linken Gehirnhälfte angesiedelt, doch bei der Verarbeitung von Sprache wirken verschiedenste Gehirnregionen in dynamischen Prozessen zusammen; das Sprachzentrum kommuniziert über neuronale Netzwerke mit anderen Arealen, die außersprachliches Wissen, Emotionen, Gedächtnis und vieles mehr beitragen. Ohne deren Rückmeldungen könnten wir weder Ironie noch Andeutungen verstehen; wir wüssten nicht, was man wann zu wem sagen soll und darf; wir könnten den Kontext nicht hinzuziehen, um das Gehörte und Gelesene zu deuten. Wie ungeheuer komplex allein schon der vermeintlich schlichte, in Millisekunden ablaufende Akt von Hören und Sprechen ist, erläutert die Psychologin Sarah Gierhan in ihrem Essay Die Anatomie der Sprache:
Die Ohren nehmen die Schallwellen des Sprechers auf und leiten sie an die Haarzellen im Innenohr weiter. Von dort gelangt das akustische Signal zum auditorischen Cortex, wo es nach räumlichen und zeitlichen Merkmalen analysiert wird. Um dann zu verstehen, was wir hören, muss das Gehirn die Information mit den Wortformen, grammatikalischen Regeln, Satzstrukturen und Bedeutungen abgleichen, die es gespeichert hat.Jetzt geht es an die Antwort. Deren Planung – die Konzeptualisierung – ist vorsprachlich, hier geht es nur um Inhalte. Zur Formulierung braucht es dann Grammatik und Wortformen, die metrisch, phonologisch und silbisch gegliedert, in motorische Arbeitsanweisungen überführt und an die Artikulationsorgane weitergegeben werden. All das geschieht teilweise seriell, teilweise parallel oder zeitlich überlappend.[02]Sarah Gierhan, Die Anatomie der Sprache.
Dazu passt die Beobachtung einer Übersetzerin, das Beherrschen einer Sprache, ob schriftlich oder mündlich, sei „nicht nur eine mentale, sondern auch eine körperliche Übung. Die Muskeln, in jeder Sprache unterschiedlich stark im Einsatz – im Kiefer, in den Lippen, in der Zunge, – schicken Signale zum Kopf: jetzt ist Deutsch oder Norwegisch dran. Eine Fremdsprache hat andere Laute (eine andere Partitur, wenn man so will), als die Muttersprache und fordert mehr Konzentration.“
Nun sollte man meinen, dass Neurolinguisten, die dem Gehirn mit hochsensiblen bildgebenden Methoden sozusagen bei der Arbeit zusehen, erklären könnten, wie diese „mentale Übung“ des Sprechens und Verstehens vor sich geht. Doch das trifft schon für Einsprachige nur begrenzt zu; die Erforschung des bilingualen Gehirns gestaltet sich erheblich schwieriger und geschieht entsprechend seltener.
Neuere Studien haben gezeigt, dass sich sowohl bei Erwachsenen, die seit früher Kindheit bilingual sind, als auch bei Menschen, die erst später mehrere Sprachen gelernt haben und diese fließend beherrschen (balanced bilinguals), die Repräsentation der Sprachen in den Gehirnarealen stark überlappen. Wenn sie verschiedene Sprachen hören, werden zunächst die gleichen Hirnareale aktiviert.[03]Saima Malik-Moraleda et. al. Functional characterization of the language network of polyglots and hyperpolyglots with precision fMRI. Doch die Situation ist weniger eindeutig, als es scheint, denn bei einer Verletzung des Sprachzentrums können die Sprachen eines balanced Aphasikers unterschiedlich stark und auf ganz unterschiedliche Weise beeinträchtigt sein. Eine wirkliche Antwort auf die Ausgangsfrage – ein Tank oder mehrere? – steht aus und ist offenbar noch länger nicht zu erwarten.
Also habe ich mich der Praxis der Mehrsprachigkeit zugewandt und einige Literaturübersetzerinnen und -übersetzer mit langjähriger Berufserfahrung gefragt: „Wie hältst du im Kopf deine Sprachen auseinander?“ Die Antworten waren voller Überraschungen, die fraglos größte war, dass die meisten die Frage, was in ihrem Kopf geschieht, gar nicht verstanden. Ein Kollege schrieb sogar: „Die Frage verstehe ich nicht? Mir ist da jedenfalls kein bewusster Umgang klar.“
Obwohl wir Übersetzer:innen den ganzen Tag wenig anderes tun, als unsere Sprachen auseinanderzuhalten, hielt das, wie erwähnt, kaum jemand der Befragten für bemerkenswert. Nahezu alle erklärten den Sprachwechsel (code switching), wie auch Mehrsprachige es tun, die nicht mit Sprache arbeiten: Er werde durch die Situation oder das jeweilige Gegenüber ‚getriggert,‘ er geschehe quasi automatisch. Berufsspezifisch dürfte sein, dass dieses Gegenüber auch ein Text sein kann. Eine Kollegin schreibt, „mein Übersetzerinnengehirn zapft ein relativ großes Reservoir an passivem Englisch an und bedient sich auf der anderen Seite eines relativ großen aktiven Repertoires an Deutsch. Wenn ich es nicht zurückpfeife, neigt es dazu, das bei jedem englischen Text automatisch zu tun.“
Einer schrieb allerdings, er sehe seine Sprachen „in verschiedenen Schubladen liegen. Wenn ich eine Sprache sprechen will, öffnet sich diese Schublade von selbst. (Die Muttersprache liegt irgendwie überall ohne einen bestimmten Platz, weil ja (fast) alles, was ich empfinde, denke, benenne, in ihr empfunden, gedacht, benannt wird.) Wenn ich eine Sprache lange nicht benutzt habe, klemmt die Schublade vielleicht ein bisschen. Der Inhalt ist nicht ganz geordnet, nicht alles liegt an seinem Platz, manche Sachen finde ich nicht mehr. Wenn ich müde bin, kann es sein, dass ich Begriffe nicht finde oder Strukturen durcheinanderbringe. Aber normalweise geht es ganz automatisch, die Sprachen haben ihren bestimmten Platz und ich bringe sie nicht durcheinander.“ Darauf antwortete ein Kollege sofort, er könne das „persönlich nicht nachvollziehen, bei mir ist nur eine einzige Schublade da, oder vielmehr ein Kessel, in dem ein Gebräu gärt.“ Eine Kollegin hingegen kann der Vorstellung verschiedener Schubladen viel abgewinnen, „auf jeden Fall übersetze ich nicht, wenn ich die ‚fremde‘ Sprache spontan spreche.“ Eine Beobachtung, die die Frage allerdings weiter kompliziert, denn das Übersetzen am Schreibtisch geschieht weder (in diesem Sinne) spontan noch mündlich. Es ist ja das Wesen unserer Arbeit, dass (mindestens) zwei Sprachen voneinander getrennt und gleichzeitig verfügbar sind.
Das Schubladen-Bild ähnelt dem „Schwellenmodell“ des Neurolinguisten Michel Paradis,[04]z.B. M. Paradis (2004): Neurolinguistics of bilingualism and the teaching of languages. URL: … Fußnote lesen wonach alle erlernten Sprachen Teil einer übergeordneten sprachlichen Kompetenz sind, sie befinden sich im selben Sprachzentrum. Je häufiger wir Wörter und Wendungen benutzen, umso vertrauter werden sie uns, je häufiger wir eine Sprache sprechen, umso müheloser wird es – die Schwelle sinkt; wenn wir eine Sprache, die wir einmal gut konnten, seltener benutzen, steigen die Schwellen. Sprechen hat eine höhere Schwelle als Lesen, aktive und passive Sprachbeherrschung klaffen auseinander.
Das tut es bei einigen der befragten Kolleg:innen stärker, als ich es erwartet hatte, schließlich wechseln sie als professionelle Übersetzer ständig zwischen (mindestens) zwei Sprachen. Aber sie nutzen sie (beruflich) nicht zur direkten verbalen Kommunikation; sie lesen den Ausgangstext in einer Sprache und schreiben ihn in einer anderen nieder. Wenn ein Übersetzer schwärmt, dass sein amerikanischer Autor „auf Sinn- und Klangebene mit Anspielungen, Mehrsprachigkeit und Wortspielen aus allen Rohren feuert,“[05]Thomas Hummitzsch, Dem Chaos der Welt Kontra geben. Gespräch mit Ulrich Blumenbach. taz 1.2. 2022. URL … Fußnote lesen zeugt das von einem weit überdurchschnittlichen Leseverständnis seiner Arbeitssprache. Doch für denselben Übersetzer ist das gesprochene Englisch weiter „eine Fremdsprache, eine fremde, unvertraute Sprache, in der ich mich nur schlecht ausdrücken kann.“ Der nötige Grad an aktiver und passiver Sprachbeherrschung unterscheidet das Übersetzen vom Dolmetschen – zwei Tätigkeiten, die, wie wir wissen, oft und zu Unrecht in einen Topf geworfen werden. Dazu gleich mehr.
Die Schwellen im Paradis’schen Zweisprachen-Modell reagieren wechselseitig und in Abhängigkeit voneinander: Wenn man eine Sprache spricht, liest oder hört, steigt die Schwelle für alle anderen Sprachen, sie werden blockiert. Zumindest theoretisch, denn alle (gesunden) Bilingualen wissen und erleben, dass keine ihrer Sprachen jemals völlig ‚abgemeldet’ ist. Sie können, wenn sie Sprache A sprechen, bewusst Elemente von Sprache B einflechten, weil sie sie z. B. treffender oder witziger finden. Sie erleben aber auch, dass die ‚Kontrollmechanismen’ über den In- und Output gelegentlich versagen, Schwellen klemmen, Sprachen durcheinanderpurzeln. Es unterlaufen ihnen ungeplante Abweichungen von der ‚eigentlich’ benutzten Sprache, das kann Wortbedeutungen, Satzbau oder die Phonetik betreffen (dann hat man einen Akzent). Zwischen eng verwandten Sprachen sind die Schwellenwächter offenbar besonders instabil, was jede bestätigen kann, die verschiedene romanische Sprachen gelernt und dabei erlebt hat, wie stark sie einander zustreben: „Einmal,“ so erzählt eine der Befragten, „habe ich zwischen Französisch und Italienisch gedolmetscht. Ich habe schnell völlig die Orientierung verloren, nicht mehr gewusst, welche Sprache ich gerade spreche, ich habe die französischen Sätze auf französisch wiederholt oder die italienischen dem Italiener auf französisch erklärt.“
Eine solche babylonische Wirrnis ist nicht auf das Dolmetschen und nicht auf zwei Sprachen begrenzt. Eine Norwegisch-Übersetzerin las in einem deutschsprachigen Text die Adresse „rue des tisserands.“ Straße der Pinkelnden? Die außersprachliche Kontrollinstanz Weltwissen signalisierte: So heißen Straßen nicht. Das so alarmierte Sprachzentrum erkannte, dass ein Verb aus dem norwegischen Lexikon mit einer (richtig erkannten) französischen Endung zu einem deutschen Nomen geworden war und ersetzte das norwegische tisse, was pinkeln heißt, durch das französische tisserands, die Weber. Das alles dauerte keine Sekunde. In unserem Zusammenhang interessant ist auch, dass ihre anderen Sprachen Italienisch und Englisch nicht hineinfunkten.
Vermutlich absolviert unser Gehirn ständig ähnlich komplizierte Interpretationsläufe, ohne dass wir es überhaupt bemerken; wie solche Gedanken-Saltos möglich sind und wie dabei (letztendlich doch) die jeweils richtige Sprache „gefunden“ wird, ist völlig rätselhaft. Aber was dieses phänomenale System zu leisten vermag, lässt sich – buchstäblich live – beobachten: Beim Simultandolmetschen.
Dolmetscher und Übersetzer müssen Vokabeln, Grammatik und den Sinn einer Aussage in Sprache A verstehen und in Sprache B übertragen, wobei der Inhalt nicht verändert werden darf. Doch hier hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Während das Medium der Übersetzerinnen die Schriftsprache ist, arbeiten Dolmetscherinnen mit der Lautsprache. Sie hören A, verstehen den Inhalt, transferieren ihn in B, sprechen ihn in B aus, hören sich dabei selbst B sprechen. Unterdessen läuft der Input in A weiter, wird memoriert und transferiert. Sie müssen ihre Arbeitssprachen aktiv wie passiv fließend beherrschen, das Arbeitsgedächtnis und die Fähigkeit, die Sprachen immer strikt getrennt zu halten, werden jahrelang geschult. (Das Konsekutivdolmetschen, bei dem Redeabschnitte zeitversetzt in eine andere Sprache übertragen werden und das viele von uns z. B. bei Lesungen mit ihren Autor:innen praktizieren, lassen wir unberücksichtigt).
Dolmetscher:innen müssen sich terminologisch und inhaltlich in eine Materie einarbeiten und dieses Wissen parat haben. Sie brauchen viel Intuition, ein herausragendes Gedächtnis, innere Ruhe und Geistesgegenwart. Sie haben keine Zeit, jedes Wort abzuwägen. Wenn ein Dolmetscher bemerkt, dass er einen Fehler gemacht hat, kann er ihn nicht korrigieren, weil er den Anschluss an den eingehenden Text verlöre: „Hier rein, da raus, mit Sprachwechsel. Im Hörgang die eine Sprache, im Mund die andere und im Kopf dabei manchmal die Frage, wie und warum das funktioniert. Ich würde das als Dauerlauf im dämmrigen Wald beschreiben (bloß nicht nach recht und links schauen, geradeaus schauen, Hindernissen ausweichen, aber sich nie darauf konzentrieren, sonst bleibt die Aufmerksamkeit dran hängen, Blick nach vorne, Blick nach vorne).“ Eine Übersetzerin in meiner Umfrage meint, Dolmetschen sei ein Hochleistungssport, den sie nicht beherrsche.
Es geht vor allem um die korrekte Übertragung von Fakten, das konkrete Wort ist nebensächlich, solange es den Sachverhalt trifft und – sehr wichtig – keine falschen Konnotationen weckt. Doch die Leistung der Dolmetscherin verklingt mit der letzten gesprochenen Silbe, während das geschriebene Wort der Übersetzerin (theoretisch) ewig Bestand hat: Wie sähe sie aus, unsere Welt, wenn die Bibel, Karl Marx, Sigmund Freud oder auch J. K. Rowling niemals übersetzt worden wären?
Simultandolmetschen ist angeblich vierundzwanzigmal schneller als Übersetzen – und damit ist nicht Literaturübersetzen gemeint, das fraglos noch zeitaufwendiger ist. Romane und anspruchsvolle Sachbücher sind vielfach überarbeitete Kunstprodukte, eine Übersetzerin interpretiert (wie eine Musikerin oder eine Schauspielerin) ein Originalwerk mit ihren eigenen sprachlichen Mitteln; sie muss jedes Wort, jede Wendung, jeden Satz auf die Goldwaage legen, um – Umberto Ecos berühmter Satz – quasi dasselbe mit anderen Worten zu sagen.
Es ist schon keine Selbstverständlichkeit, wenn aus I said nothing nicht Ich sagte nichts, sondern Ich schwieg wird. Doch meist ist es komplizierter, die neuronalen Netzwerke zwischen dem Sprachzentrum und zahllosen anderen Hirnarealen laufen heiß: „Ruft die Québecerin mit gequetschtem Daumen ‚Calice! (Kelch),’ meint sie ‚Mist!,’ ruft der Franzos‘ ‚Putain! (Hure),’ meint er ‚Mist!,’ rufen die Wallonier ‚Didjoss! (Name eines poln. Pornodarstellers),’ meinen sie ‚Mist!’“[06]Andreas Jandl, Brücke. babelwerk, 30.12.21. URL: <https://babelwerk.de/alphabet/bruecke/> Ein anderer Kollege übersetzt „Londoner Cockney durch Ruhrpottslang (statt durch Sächsisch, Ostfriesisch, Wienerisch …), wegen einer ruppigen Herzlichkeit, die ich bei Cockney und im Ruhrpott nicht so rotzig finde wie etwa im Berlinerischen.“ [07]Frank Heibert, 1984 und die Zeit. URL: <https://www.toledo-programm.de/talks/3119/1984-und-die-zeit> Er ist – siehe oben – in den Varianten des Deutschen (jedenfalls passiv) mehrsprachig, mindestens eine, den Ruhrpottslang, muss er aktiv beherrschen, sonst könnte er nicht in diese Sprache übersetzen
Dolmetschen und Übersetzen unterscheiden sich darin, wie und in welchen Kombinationen sie die Modalitäten Hören, Sprechen, Lesen nutzen, wie stark sie außersprachliche Aspekte hinzuziehen, wie sehr das Arbeitsgedächtnis belastet wird. Im Gehirn geschehen also ganz unterschiedliche Dinge. Da neuere Erkenntnisse der Neurologie nahelegen, dass die regelmäßige Ausübung einer Tätigkeit zu einer Umstrukturierung des Gehirns führt, kann das bedeuten, dass sich die konkreten, vom Sprachzentrum ausgehenden Netzwerke je nach Beruf völlig anders entwickeln.
Doch auch hier sind wir auf Spekulationen angewiesen, denn die Versuchsanordnungen der Neuro- und Psycholinguistik erforschen nahezu ausschließlich die Grundlagen des Hörverständnisses und der mündliche Sprachproduktion. Selbstverständlich sind Simultandolmetscher:innen alles andere als Automaten, in die man Sprache A einwirft und die dann Sprache B ausspucken. Im Gegenteil. Doch die Experimente sind der mündlichen Übertragung erheblich näher als der schriftlichen. Und das Übersetzen von Literatur ist nicht nur viel langsamer als Sprechen und Hören, es ist auf eine Weise komplex, die sich vermutlich kaum in Versuchsanordnungen abbilden lässt: „Was ist das Übersetzen für mich? Eine Art dreifache Wahrnehmung: Die Augen lesen auf Tschechisch, das Gehirn analysiert die sprachlichen Phänomene in Bezug auf mögliche deutsche Äquivalenzen und das Ohr hört bereits einen deutschen Text (noch nicht ausgemalt, sprich ausformuliert) im Rhythmus des Originals.“[08]Eva Profousová, Du sollst nicht begehren die Sprache deines Nächsten: Übersetzen in eine andere als die eigene Muttersprache. babelwerk, 21. … Fußnote lesen Da schwingen Musikalität, Emotionen, bikulturelles Leben mit. Wie soll man das mit einer Magnetresonanztomographie einfangen?
Wer Simultandolmetscher:innen bei ihrer aufsehenerregenden Arbeit beobachtet, stellt sich früher oder später die Frage, wie sie das machen. Tatsächlich gibt es zahlreiche Texte, in denen Dolmetscher:innen selbst darüber nachdenken, was während dieser Arbeit ‚in ihrem Kopf passiert.’ Übersetzer:innen hingegen sitzen still und unbeobachtet an ihren Computern und tippen, das wahrlich Spektakuläre ihrer Arbeit entzieht sich ihrem – also unserem – Blick. Vielleicht ist es daher nicht weiter erstaunlich, dass wir nur selten über das Wunderwerk unseres mehrsprachigen Gehirns staunen.
Ein Kollege konterte mein insistierendes Fragen nach der Funktionsweise seines Sprachzentrums lachend, aber durchaus ernst mit dem Ausruf, er werde das Wunder der Sprache nicht der schnöden Neurologie überlassen.
Benutzte Literatur (Auswahl)
Sarah Gierhan: Die Anatomie der Sprache. 2015. URL: https://www.dasgehirn.info/denken/sprache/die-anatomie-der-sprache.
François Grosjean, Ping Li: The Psycholinguistics of Bilingualism. Wiley-Blackwell, Oxford 2013.
François Grosjean: Individuelle Zwei- und Mehrsprachigkeit. In: I. Gogolin, A. Hansen, S. McMonagle, D. Rauch (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeit und Bildung. Springer VS, Wiesbaden 2020.
Saima Malik-Moraleda et. al.: Functional characterization of the language network of polyglots and hyperpolyglots with precision fMRI.
URL: bioRxiv 2023.01.19.524657; doi: https://doi.org/10.1101/2023.01.19.524657 Michel Paradis: Neurolinguistics of bilingualism and the teaching of languages.
(2004): Neurolinguistics of bilingualism and the teaching of languages. URL: https://www.researchgate.net/publication/237525040_Neurolinguistics_of_bilingualism_and_the_teaching_of_languages
Michel Paradis: A Neurolinguistic Theory of Bilingualism. John Benjamins Publishing, Amsterdam 2004.
Xenia Zeiter, Die Eignung Bilingualer als Translatoren. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil an der Universität Leipzig. Leipzig 2019
URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-730345
↑01 | Für diesen Text wurden fünfzehn Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzer nach ihrer Mehrsprachigkeit befragt. Einige ihrer schriftlichen Antworten sind hier als nicht nachgewiesene Zitate mit deren Einverständnis und anonymisiert eingefügt. |
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↑02 | Sarah Gierhan, Die Anatomie der Sprache. |
↑03 | Saima Malik-Moraleda et. al. Functional characterization of the language network of polyglots and hyperpolyglots with precision fMRI. |
↑04 | z.B. M. Paradis (2004): Neurolinguistics of bilingualism and the teaching of languages. URL: <https://semioticon.com/virtuals/multimodality/paradis.pdf> |
↑05 | Thomas Hummitzsch, Dem Chaos der Welt Kontra geben. Gespräch mit Ulrich Blumenbach. taz 1.2. 2022. URL <https://taz.de/Uebersetzer-zu-Joshua-Cohens-Roman/!5829434/> |
↑06 | Andreas Jandl, Brücke. babelwerk, 30.12.21. URL: <https://babelwerk.de/alphabet/bruecke/> |
↑07 | Frank Heibert, 1984 und die Zeit. URL: <https://www.toledo-programm.de/talks/3119/1984-und-die-zeit> |
↑08 | Eva Profousová, Du sollst nicht begehren die Sprache deines Nächsten: Übersetzen in eine andere als die eigene Muttersprache. babelwerk, 21. Januar 2022. URL: <https://babelwerk.de/essay/du-sollst-nicht-begehren-die-sprache-deines-naechsten-uebersetzen-in-eine-andere-als-die-eigene-muttersprache/> |