Die Unendliche Leichtigkeit des Schwerpunkts: Der Meister, Margarita und ich

„Wozu denn noch ein Kind? Du hast doch schon eins!“ Alexandra Berlina muss stets an diese Aussage einer Freundin denken, wenn sie gefragt wird, warum man ein Buch wohl neu übersetzt.

Bulgakows Der Meister und Margarita ist kein typischer russischer Klassiker. Erstens trug der Autor keinen Bart. Zweitens ist das Buch zwar nicht frei von Moral, aber diese Moral ist recht eigenwillig – schließlich ist der wohl sympathischste Protagonist der Teufel. Drittens gibt es hier einen sprechenden Kater, eine nackte Hexe, eine spektakuläre Varietévorstellung, einen Pool mit Champagner und allerlei andere Dinge, nach denen man in der russischen Klassik sonst vergeblich sucht. Kein Wunder also, dass der Roman Kultstatus hat – und auch fleißig neuübersetzt wird. [01]Es existieren auch mehrere russische Fassungen, da Bulgakow starb, bevor er sein Werk abschließen konnte. Frühe Versionen unterscheiden sich … Fußnote lesen Auf Englisch gibt es inzwischen mindestens sieben Master and Margaritas.

Auf Deutsch erschien Der Meister und Margarita in Thomas Reschkes Fassung – 1968 in der DDR, und zehn Jahre später auch in der BRD. Dank dieser Übersetzung wurde der Roman auch in Deutschland Kult; es war diese Übersetzung, die ich fast löchrig las, kurz nachdem ich als Dreizehnjährige in Deutschland angekommen war – meine Lieblingsbücher auf Deutsch wiederzulesen hatte ich nämlich zu der besten Deutschlernmethode erklärt. So konnte ich tun, was ich am liebsten tat, und wenn meine Eltern etwas Absurdes wie Aufräumen verlangten, gequält seufzen: „Aber ich lerne doch!“ Dabei machte es mir zu meiner Verblüffung bald mehr Spaß, Übersetzung und Original nebeneinander zu lesen als das Original alleine – ein gemütliches bekanntes Buch, aber auch ein spannendes neues; das Gleiche, aber nicht das Gleiche. Übersetzungen lesen hieß: Intelligenten Menschen über die Schulter in ihr Buch schauen – „Ah, so hast du es verstanden! Das findest du hier am wichtigsten?“ Und da wusste ich: Ich will Literaturübersetzerin werden.

Reschkes Übersetzung war also unter den Büchern, die mich überhaupt erst zum schönsten Beruf der Welt geführt hatten. Wie konnte ich es mir also anmaßen, den Roman neu zu übersetzen? Nun, das frage ich mich auch, und zwar immer noch – meine Idee war es jedenfalls nicht. Sondern:

2019 fuhr ich zur Frankfurter Buchmesse, in der Hoffnung, einen Verlag für Teffi zu finden, eine russische Humoristin des frühen 20. Jahrhunderts, die wunderbare Kurzgeschichten schrieb. Dieses Projekt hatte sicherlich nicht das Zeug zum Bestseller, und das war auch gut so – ich stand ja gerade erst am Anfang meines LÜ-Weges. Was dann passierte, kann nur Teufelswerk sein: Teffi wollte niemand haben; stattdessen fragte mich Anaconda, ob ich nicht zufällig Den Meister und Margarita übersetzen wolle. Bei einer Lesung später fiel mir ein Bild für meine Lage ein, und ein Besseres kann ich immer noch nicht finden: Es war, als ob ich von einem Brötchen geträumt hätte und stattdessen zu einem Fünf-Gänge-Dinner eingeladen worden wäre. Das Wasser läuft da natürlich schon im Mund zusammen, aber kann ich auch mit all den Messern und Gabeln umgehen? Werde ich aus so einem feinen Restaurant nicht rausgeschmissen?

Erst sagte ich, dass ich es mir nicht zutraue. „Aber eine Probeübersetzung können Sie doch mal versuchen?“ Das konnte ich. Und beim Probeübersetzen ist es passiert: Es machte so viel Spaß, dass ich nicht mehr nein sagen konnte. Ich habe Thomas Reschkes Email-Adresse ausfindig gemacht, ihm meine aufrichtige Bewunderung erklärt und meine geplante Frechheit gebeichtet – und als er wohlwollend geantwortet hatte, mich an die Arbeit gemacht. Die Selbstzweifel waren aber groß: Es war meine erste richtige Literaturübersetzung. Sie musste gut werden. Und – daran dachte ich in den ersten Monaten ununterbrochen – sie musste sich von Reschkes Fassung unterscheiden. (2012 ist eine Neuübersetzung von Alexander Nitzberg erschienen, diese ist aber vor allem syntaktisch recht experimentell, so dass ich kaum befürchtete, zufällig identisch zu formulieren.)

Und damit kommen wir auch zu der Frage: Warum einen Klassiker neu übersetzen?

Die ehrliche Antwort aus der Verlagsperspektive lautet: Die Rechte sind frei, es lässt sich also Geld verdienen.

Die ehrliche Antwort aus meiner Perspektive hatte ich schon genannt: Es macht Riesenspaß und ist eine großartige wie unverdiente Chance.

Aber damit mein Gewissen mich nicht plagt – und vielleicht geht es dem Verlag ja auch so – muss die Übersetzung auch in Bezug darauf etwas hergeben:

Eine Antwort aus der Perspektive der Lesenden: Jede Übersetzung sollte etwas liefern, was die andere(n) Übersetzung(en) nicht haben.

Ich spreche hier bewusst nicht von alten und neuen Übersetzungen, und erst recht nicht von „schlechteren“ und „besseren“. Ich finde auch nicht, dass jede Generation eine neue Übersetzung braucht – vielmehr, dass es schön ist, wenn es für ein richtig gutes Buch mehrere Übersetzungen gibt. Dass Übersetzungen schneller altern als Originale mag zwar zu einem gewissen Grad stimmen, liegt aber eher in der Empfindung der Leserschaft als in der Natur des Übersetzens. Eine tote Autorin kann man ja schlecht ausgraben und um ein Update bitten – selbst lebendige Autoren aktualisieren äußerst selten schon veröffentlichte Romane – also hat man keine Wahl, als das Unmoderne an einem älteren Text hinzunehmen (oder gar wertzuschätzen). In Übersetzungen aber lebt der Text weiter und kann sich wandeln, und so wird ihm oft ebendieses Wandeln abverlangt.

Es war also nicht mein explizites Ziel, den Roman moderner zu gestalten. Ich habe zwar keine dicke Patinaschicht aufgetragen, jedoch Wendungen vermieden, die nach dem 21. Jahrhundert schreien. Da ich nun mal 1984 geboren wurde – und 1997 nach Deutschland kam, was vielleicht der sinnvollere Startstrich ist – ist meine Sprache jünger. Das ist aber an sich noch kein Alleinstellungsmerkmal, finde ich. Und so ein Merkmal brauchte ich doch, oder? Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, die Titelheldin zu „Margarete“ umzubenennen. Dass mich „Margarita“ auf Deutsch an Pizza und Cocktails denken lässt, und „Margarete“ an Goethes durchaus relevantes Gretchen, stimmt zwar – aber der wahre Grund für meine Überlegungen war der Wunsch, einen alternativen Titel zu finden.

„Wie kann ich sicherstellen, dass meine Übersetzung sich stark genug von Reschkes unterscheidet?“, fragte ich mich. Da die Frage mich nicht losließ, verfuhr ich wie folgt: Ich übersetzte erst einen Absatz (bestenfalls, manchmal auch nur einen Satz), schaute dann nach, was bei Reschke (und manchmal auch bei Nitzberg) stand, und versuchte dann fieberhaft alles zu verändern, was sich verändern ließ. Also vielleicht nicht „Taube“ zu „Flamingo“, aber durchaus „Orange“ zu „Apfelsine“ – ohne einen anderen Grund, als dass es bei Reschke „Orange“ heißt. Dieses Verfahren hatte zwei Ergebnisse:

1. eine sehr unglückliche Übersetzerin;

2. eine unmögliche Übersetzung – einem Unterscheidungsdrang lässt sich nun mal keine Erzählstimme abgewinnen.

Wer weiß, wie das geendet hätte. Doch dann durfte ich DÜF sei Dank zu dem berühmten LCB-Colloquium unter der Leitung von Thomas Brovot. Und neben vielen, vielen anderen Dingen, die ich dort lernte, bekam ich einen wunderbaren Rat, an den ich mich noch verbatim erinnern kann: „Tu die anderen Übersetzungen doch in den Keller!“

Ich tat, wie mir geheißen, und ward glücklich.

(Der Keller ist übrigens trocken und gemütlich; Reschke und Nitzberg standen da zwischen anderen schönen Büchern und waren mir hoffentlich nicht böse. Wer genau mir den Rat gegeben hat, weiß ich leider nicht mehr – falls du es liest, melde dich bitte, ich schulde dir was! (Hier will ich mich auf das Thema „Neuübersetzung“ beschränken und schweige daher über die vielen wunderbaren Lösungen und vermiedenen Fehler, die ich Kolleg*innen verdanke.))

Alexandra Berlina mit allen drei Bulgakow-Ausgaben: Reschke und Nitzberg sind inzwischen aus dem Keller zurückgekehrt

Als ich dann den Roman übersetzte, ohne ständig in eine andere Version zu schielen, wurde mir klar, dass mein ursprüngliches Ziel blanker Unsinn war. „Sich stark genug von Reschkes Version unterscheiden“ tut ja auch ein Telefonbuch, was nicht heißt, dass es eine gute Übersetzung von Der Meister und Margarita wäre. Nein, die Frage war: Was sind denn meine Prioritäten? Die Antwort darauf konnte ich erst im Übersetzen finden. Beim zweiten oder dritten Durchgang merkte ich, dass mich zwei Bereiche besonders beschäftigen. Erstens der Humor: Bulgakow selbst sah sich sein Leben lang als Satiriker. Zweitens das Sowjetische, vor allem das unterschwellige Grauen der Zeit: Der Roman spielt in den 1930ern, als Menschen ganz ohne Teufelswerk aus ihren Wohnungen verschwanden. Die paar unterhaltsamen Morde, die sich der Satan erlaubt, sind nichts im Vergleich zu den Millionen Toten, die Stalins Herrschaft forderte.

Wer zu Bulgakows Lebzeiten das Manuskript las oder hörte, schauderte bei Sätzen wie (im Folgenden möglichst nah am Text übersetzt): „Auf die Frage, woher man Arkadi Apollonowitsch denn anriefe, antwortete die Stimme im Telefon sehr knapp, woher.“ Auch moderne russische Lesende mit etwas geschichtlichem Bewusstsein werden es entziffern können: Da meldet sich die Geheimpolizei. Meine Übersetzung macht die Umstände etwas deutlicher, ohne direkt die NKWD zu erwähnen.

Berlina: „… erwiderte die Stimme am Telefon mit einem gewissen Kürzel.“

Ähnlich verdeutliche ich es anderswo, wenn auf Verhaftungen und Verhöre angespielt wird. Das Telefonat findet erst spät im Text statt; bis ich dort angekommen war, hatte ich die Kollegen längst in den Keller verfrachtet, und so werde ich mir jetzt zum ersten Mal ansehen, was sie schreiben. Hier:

Reschke: „…gab die Stimme eine sehr kurze Antwort.“

Nitzberg: „…gibt die Stimme etwas recht Knappes zur Antwort.“

Man kann durchaus sagen, dass beide Übersetzungen näher am Original sind (nur dass die zweite zum Erzählpräsens greift). Mein Erklärungsbedarf ist nur meine Priorität, keine Notwendigkeit. Diese Priorität ist dazu noch persönlich und politisch geprägt: Mein Großvater verbrachte den Großteil seines Lebens im GULAG; mein Vater wurde in Sibirien geboren und spricht oft davon – und die bedrohlichen Zeichen der Gleichschaltung in Russland machten mir immer mehr Sorgen, während ich an der Übersetzung arbeitete.

Was das Sowjetische allgemein angeht, sieht man meine Herangehensweise schon im ersten Satz:

Reschke: „An einem heißen Frühlingsabend erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer.“

Nitzberg: „Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriarchenteich. Zwei Herren zeigten sich.“

Berlina: „In der Frühlingshitze kurz vor Sonnenuntergang erschienen am Patriarchenteich zwei Bürger.“

Auch bald darauf kann es beim Lesen womöglich irritieren, dass „eine Bürgerin“ irgendwo in der Ferne kichert. Das Wort grazhdanin/grazhdanka, dass in der Sowjetunion jener Zeit zur Standardanrede wurde, hat aber Bulgakow selbst auch irritiert, und genau deswegen hat er es verwendet. Es war nicht Teil seines normalen Wortschatzes, sondern markiert den Handlungsort und die Protagonist*innen als sowjetisch. In den ersten Fassungen war im ersten Satz übrigens von „zwei Menschen“ die Rede; später hat Bulgakow den Text durchgehend mit UdSSR-Lexik gesättigt. Das deutsche „Bürger*in“ ist zwar anders konnotiert, ich hoffe aber, dass in dem sowjetischen Kontext doch die richtigen Assoziationen entstehen („Genosse“ habe ich für towarischtsch reserviert).

Die Bulgakow-Ausgaben von Reschke, Nitzberg und Berlina (v.l.n.r.)

Was nun den Humor angeht, so fühle ich mich moralisch verpflichtet, die albernste Frucht meiner Arbeit anzuführen, den Text eines „wirren, halbblinden, verwegenen […] Marsches“, von einem sowjetischen Orchester unter diabolischem Einfluss „nicht gespielt, nicht geschmettert, ja nicht einmal hingepfeffert, sondern, genau nach dem abscheulichen Ausdruck des Katers, runtergehackt“:

Reschke:
Seine Hoheit, Seine Hoheit
liebt‘ Hausgeflügel sehr
nahm unter seine Gönnerschaft
ein ganzes Mädchenheer!

Nitzberg:
Der Graf, der liebte Sittiche
und mit Vergnügen nahm
er unter seine Fittiche
manch niedliche Madame.

Berlina:
Die hohe Exzellenz
tat Vögel gerne mögen.
Die Magd der Residenz
war immer gut zu Vögeln!

Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass Bulgakow selbst durchaus ein Herz für Klamauk hatte. So spricht ein angeblicher Westler im lila Mantel ein amüsantes Ausländerrussisch, bis er in einem Fass voller Heringe landet und auf einmal ganz einwandfrei auf Russisch schimpft. Hier ein Ausschnitt aus dieser Szene; es geht darum, welche Meinung gegenüber Lachs angebracht sei:

Reschke:
„Gutt ich lieben, schlecht nein“, sagte der Ausländer rauh.
„Selbstverständlich!“, antwortete der Verkäufer begeistert.

Nitzberg:
– Was taugt gutt, nix taugt nix gutt – sprach der Fremde mit grimmigem Ernst.
– Na was denn sonst! – strahlte der Verkäufer.

Berlina:
Harascho da, njet harascho njet“, verkündete der Ausländer streng.
„Ja eben, eben!“, gab ihm der Verkäufer begeistert recht.

(Ich habe das Original dabei nicht übernommen, sondern ein paar russische Wörter zusammengesucht, die man einigermaßen versteht.)

Wenn ich mich nun für meine Lösungen nicht schäme, heißt das nicht, dass ich sie objektiv besser finde. Sie entsprechen nur eben meinen Prioritäten; meinen Schwerpunkten. Und jetzt stellt euch mal eine Welt vor, in der Übersetzungen nicht nur bemerkt, sondern auch detaillierter verglichen werden als „harascho da, njet harascho njet“. In der die drei Meister-Fassungen nebeneinander stehen, und eine Buchhändlerin ihre Brille zurechtrückt und einem Kunden erklärt: „Also, Reschke ist der Klassiker, da können Sie nichts falsch machen; wenn Sie’s etwas experimenteller und modernistischer mögen, greifen Sie zu Nitzberg – und wenn Sie auf Politisches und Klamauk stehen, nehmen Sie die Berlina.“

References
01 Es existieren auch mehrere russische Fassungen, da Bulgakow starb, bevor er sein Werk abschließen konnte. Frühe Versionen unterscheiden sich inhaltlich erheblich (je älter, umso mehr Sex, Slapstick und Totschlag); die Bücher aber, die als konkurrierende finale Fassungen auf dem russischen Markt sind, lesen sich wie verschiedene Übersetzungen: Mal werden aus einem Satz zwei, mal kommt ein Adjektiv dazu. Sie nebeneinander zu sehen, führt sehr klar das Kontinuum zwischen dem Schreiben, dem Lektorieren und dem Übersetzen vor Augen. Thomas Reschke benutzte eine Fassung, Alexander Nitzberg sowie ich eine andere; an den in diesem Essay zitierten Stellen unterscheiden sich die Original jedoch nicht.