Další stanice – Hören wir auf zu übertreiben

Alle Vorstellung, man könne etwas fixieren, übertreibt. Die Dinge sind immer ein Vielfaches, sie sind stets im Fluss, treiben hin und her und herüber. Ein Plädoyer, sich treiben zu lassen – auch beim Übersetzen.

. . . blickte ihn dabei voller Verständnis an, weil er
von der ganzen Geschichte kein Wort verstand.

Zug der České Dráhy, blauer Zug im Schnee

Endlich dachte ich, ich könnte aufhören zu übertreiben. Dabei auch aufhören zu übersetzen. Der Zug 372 der ČD (České Dráhy) war vom Bahnhof Mürzzuschlag um 17:32 abgefahren, er würde in Brno ankommen um 20:37. Er war 390 Meter lang, fast einen halben Kilometer. Ich hatte noch auf dem Bahnsteig den Schaffner gefragt. Der letzte Waggon des Zugs war dort im Bahnhof Mürzzuschlag nicht zu sehen gewesen, bloß die Reihe der vielen blauen Waggons, die Reihe der immer kleiner werdenden Waggons, danach in der Ferne eine Linie.

Es meldete sich im Zug, durch die rings verteilten Lautsprecher, eine Stimme. Ich erkannte sie. Sie sagte im strengen Ton: Um uns jede weitere Diskussion zu ersparen, bitte ich Sie, die vorgeschriebenen Schutzmasken zu tragen während unserer Reise. Die Masken müssen auf dem Mund und der Nase liegen. Eine Maske, die vor Ihnen auf dem Tisch liegt oder auf dem Sitz neben Ihnen, liegt dort falsch. Wenn Sie die Maske nicht tragen wollen, können Sie nicht mit uns reisen. Dieses ist eine amtliche Mitteilung.

Bald darauf meldete sich eine zweite Stimme. Sie sagte: Další stanice Semerink. Das war die Ankündigung des nächsten Bahnhofs oben unter der Passhöhe. Sie sagte allerdings nicht den nächsten Bahnhof an, nicht nejbližši stanice oder příští stanice. Ich hörte, dass sie den weiten oder weiteren, ferneren ansagte, další stanice, den Bahnhof in der Ferne, in welcher der Zug der Tschechischen Bahnen in wenigen Minuten ankommen würde. In ein paar Minuten würde der Zug in der Ferne stehenbleiben. Wir wären in der Ferne. Ich dachte an sie, die Ferne, die fernen Großeltern, die ferne Stadt, die ferne Sprache.

Die der zweiten Stimme zugehört hatten, betrachteten neugierig die dunkelblauen Schilder auf den Bahnsteigen im Novemberdunkel. Das Dorf auf der Passhöhe hieß Semmering, so wie der Berg. In der Lautsprecherdurchsage, in der Lautsprechersprache hörte ich in dem Namen etwas, das Tschechisch war und schon nicht mehr Tschechisch.

Die Wortendung ing. Sie hing am Ende vieler Ortsnamen in Österreich. Oft zeigte sie ein Gewässer an, einen Bach, einen Fluss. Ing war kein deutsches Wort. Jetzt war das Wasser wohl schon ganz vergessen. Die Silbe sprach insgeheim. Auf den Bahnsteigen stand zwischen den Reisenden Semmerwasser geschrieben, dachte ich, ohne die Sache ganz zu verstehen. Das Semmerwasser oder was es war, war im Lautsprecher jedenfalls ins Tschechische übersetzt. Das Wörtchen ing, ein tschechisches Wort vielleicht, war ins Tschechische übersetzt. Die Stimme, die durch die Lautsprecher sprach, sagte nicht ing, sondern rink. Sie machte aus dem Namen Semmering ein Wort, das weder Tschechisch noch Deutsch war. Oder war der Name Semmering anders zu erklären? Kam Semmering aus dem slowenischen Wort cemerik, aus der Schneerose? Aber ing? Es erinnerte an ing. Vielleicht erinnerte ing auch die Schaffnerin im Zug nach Prag an ing, wenn sie oben unter der Passhöhe aus dem Fenster schaute und den Namen las auf den blauen Schildern, welchen sie soeben gesagt hatte, vielleicht übersetzt hatte, aus dem ing ein rink gemacht hatte.

Dachte die Schaffnerin an die Schneerose und den Nieswurz? Im slowenischen Wörterbuch und im tschechischen Wörterbuch – immer waren sie im Reisegepäck auf den Reisen auf der großen Schwelle – war das Wort nicht verzeichnet. Da stand čemérno, griesgrämig. Auch čemérnica, die Griesgrämige. Da stand celist und war das Kinn. Da stand čelo, die Stirn. Auch čem. Čem bedeutete was oder etwas oder das. Čim je?

Wenn die Schaffnerin unter der Passhöhe aus dem Fenster sah, was dachte sie? Ich dachte, als ich die Worte in den Wörterbüchern gesucht hatte und čem und etwas gefunden hatte, an das Telegramm, 1914 aus dem Brigadehauptquartier in Wojalycz abgeschickt. Der Name des Dorfs war wahrscheinlich falsch geschrieben und sollte richtig Wojutycze heißen oder Vojutychi. Das Dorf lag an der Bahnstrecke von Sambor nach Chyrów. Das Telegramm benachrichtigte die Empfänger in Przemyśl: Pěšák Š., ordonanc 11. pochodové roty, ztratil se 16. t.m. na přechodu Chyrów – Felštýn na služební cestě jako zaopatřovač bytů. Neprodleně dopravít pěšáka Š. na brigádní velítelství do Wojalycze. Der Infanterist Š., Ordonnanz der 11. Marschkompanie, ging am 16. d.M. beim Übergang Chyrów – Feldstein auf seinem Dienstweg als Quartiermacher verloren. Den Infanteristen Š. unverzüglich zum Brigadekommando nach Wojalycz überstellen.

Dieser Pěšák S. war in Galizien in die eigene, österreichische Kriegsgefangenschaft geraten, als er die an einem Teich abgelegte russische Uniform liegen gesehen und anprobiert hatte. Er zog seine Uniform aus und neugierig die andere an. In dieser anderen Uniform hatte eine Patrouille der österreichischen Feldgendarmerie ihn erwischt und gefangen genommen. Es waren Ungarn, die nicht verstanden, was der russische Soldat, der Tschechisch sprach, sagte. Er sprach anscheinend wenig Deutsch, konnte also kein Österreicher sein. Die Ungarn sprachen auch wenig Deutsch.

Es war so gekommen. Der Rechnungsfeldwebel V. und der Infanterist S. sollten sich nach Felštýn oder Feldstein aufmachen und dort für die 11. Marschkompanie Quartier suchen. Das Dorf war 100 Kilometer von der österreichisch-russischen Front entfernt, zu welcher der Infanterist seit mehreren Monaten und seit 800 Buchseiten unterwegs war, die längste Zeit in Eisenbahnen, deren Verlauf und Richtungen er nicht zu beachten brauchte. Manchmal ging er zu Fuß. Oberleutnant L. sagte: Dívejte se radéji s Vaňkem na mapu, kudy máte jít. Tak tady vidíte ty vesnice. Od téhle vesnice dáte se napravo k říčce a podél toku říčky až zas k nejbližší vesnici, a odtamtud, kde vlévá  se do ní první potok, který vám bude po pravé ruce, dáte se polní cestou nahoru, přesně na sever, a níkam jinam nemůžete zabloudit než do Felštýna. Schauen Sie lieber mit Vanek in die Landkarte, wo Sie hingehen sollen. So, hier sehen Sie diese Dörfer. Von diesem Dorf hier gehen Sie nach rechts bis zum Flüsschen, dann am Flüsschen entlang wieder bis zum nächsten Dorf. Von dort aus, wo der erste Bach einmündet, den Sie dann zur rechten Hand haben werden, gehen Sie den Feldweg hinauf, genau Richtung Norden, und Sie können sich nirgendwohin verirren als nach Feldstein!

Sie zogen los. S. sagte: „Tady to vypadá jinak než u Prahy.“ Es sah anders aus als in Prag. Das bedeutete: In Prag konnte sich niemand verirren nach Feldstein. Hier, wo sie gingen, war nur das Verirren möglich; in dieser Landschaft, kde strojními puškami byly skoseny celé batalióny. Wo mit Maschinengewehren.

Nach einer Weile sagte S.: Ich denke, dass wir falsch gehen. Der Herr Oberleutnant hat es uns doch erklärt. Wir sollen nach oben gehen, dann runter, dann nach links und rechts, dann wieder nach rechts, dann links – wir aber gehen die ganze Zeit geradeaus. Oder haben wir das alles so nebenbei beim Reden gemacht? Ich für meinen Teil sehe hier vor mir zwei Wege nach Feldstein. Ich schlage vor, dass wir den Weg nach links gehen sollten.

Semmering-Pass

Rechnungsfeldwebel V. widersprach und ging nach rechts. S. sagte: „Mein Weg hier ist bequemer als Ihrer da. Ich werde am Bächlein entlanggehen, wo Vergissmeinnicht wachsen. Sie hingegen werden sich irgendwo durch die trockene Hitze quälen. Ich halte mich daran, was uns der Herr Oberleutnant gesagt hat, dass wir uns nämlich gar nicht verlaufen können. Und wenn wir uns nicht verlaufen können, gibt es keinen Grund, irgendwo einen Berg hinaufzulaufen. Ich werde schön über die Wiese laufen, mir ein Blümchen an die Mütze stecken und werde einen ganzen Strauß Blumen für meinen Herrn Oberleutnant pflücken.“

Der Herr Oberleutnant sagte das auch zu mir, dem Leser. Und ich hielt mich daran, auch auf der Reise mit den Tschechischen Bahnen (České Drahý). Wir konnten uns nicht verlaufen. Und in der Zweisprachigkeit verirrte ich mich manchmal und glaubte, ich wäre zweisprachig, ich spräche auch Tschechisch (mehr schlecht als recht, wie die Großmutter und der Großvater). Ich sagte leise: Myslím. Ich sagte: Myslím, že jdeme špatně.

Ja půjdu podél potůčka, kde rostou pomněnky. Že vůbec nemůžeme zabloudít. Das war keine Übertreibung.

Endlich wurde der Infanterist wieder zurückgebracht zur 11. Marschkompanie, nachdem er sich niemals verlaufen und verirrt hatte. Dass wir uns nämlich gar nie verlaufen können. Eine Eskorte brachte ihn.

*

verschneite Bahngleise

Ich dachte, als der Zug unter der Passhöhe hielt, in der stanice Semerink, an das Telegramm und an das Wort was und an čem oder čim oder co. War der Name Semerink, welchen die Stimme in der Eisenbahn sagte noch Tschechisch? Schon Deutsch? Noch Deutsch? Schon Tschechisch? Wurde der Name in der Eisenbahn zurückgebracht? Wurde er weder Deutsch, noch Tschechisch? Wurde er aus einer Übertreibung herausgeholt, aus der Übertreibung, nur Deutsch zu sein oder nur Tschechisch? Wurde der Semmering übersetzt in Semerink und dabei irgendwie in nichts? Und nichts, das lag dazwischen, dazwischen zwischen etwas und etwas? Ob die Schaffnerin noch das Tschechische oder Slowenische im Semerink hörte, die Schneerose und den Bach? Was sie wohl hörte, welche Sprache sie wohl hörte in dem Namen? Dachte sie, als sie další stanice Semerink sagte, an sem, an hier? Další stanice sem? Ferne Haltestelle hier? Hier die Ferne? Hier die nicht übertriebene Ferne? Hier, das ist ein Ort ohne Übertreibung? Und die Heimat, sie ist wieder eine Übertreibung; eine Teilnehmerin am langen Spiel der Übertreibungen? Die Heimat behauptete die Heimat? Welche Sprache behauptete der Name Semerink? Dachte sie an Velký Semerink und Malý Semerink, die zwei Ortsteile in Janov nad Nisou in den Jizerské hory / Góry Izerskie / im Isergebirge? Welche Sprache sprach der Bahnhof unter der Passhöhe? Dachte die Schaffnerin an eine Sprache der Untertreibung? Waren die Übertreibungen Siege? Und untertreiben, das bedeutete ursprünglich immer nur: zu Grunde richten, vernichten, verderben? Bedeutete es immer: So wurden die schönen Felder und Bäume von den Barbarischen verwüstet, alle Samen wurden weit und breit untertrieben? Jemanden zum Tod untertreiben? So stand es in einem Wörterbuch. Unsere Eltern, die frei waren, haben die Römer untergetrieben und ausgetilgt. Ich schaute aus dem Fenster und zurück zu dem Stollen, durch welchen der Zug gefahren war. Das tschechische Wort für untertreiben, das war podtunelovat. Auch gab es zmenšovat. Zmenšenina, das war die Verkleinerung. Zmenšovat: untertreiben, verkleinern, verringern. Im Slowenischen: zmánjševati pomèn. Im Slowenischen? Pomèn, war das ein Wort vieler Sprachen? War pomèn so Slowenisch und Tschechisch wie Deutsch und Englisch? Meníti – meinen, pomyslit – denken, meinen – denken, to mean – meinen? Dachte die Schaffnerin, als der Zug hinauf fuhr auf den Semmering, an die Verkleinerung des pomèn, auch an die Verkleinerung der Deutung? Sagte sie Semerink und meinte sie: Ich sage weniger und weniger?

*

Die Eskorte, die Josef Š. zurückbrachte zur 11. Marschkompanie, war ein Durcheinander von Nationen. Es begleiteten ihn vier Soldaten, aber ich stellte mir vor, dass ihn Nationen begleiteten, viele, mehr als vier. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich versuchte, es mir vorzustellen, Nationen in der Eisenbahn, unterwegs von Przemysl nach Chyrów. (Przemysl – der Gedanke? Bedeutete der Name der Stadt: Gedanken? Ich bin in Gedanken? Klang die Stimme der Schaffnerin der ČD gedankenverloren? War ich schon ganz versunken in Przemyseleien?) Ein Durcheinander von Nationen in der Eisenbahn, die von Przemysl nach Chyrów fuhr? Warum begleitete den Josef Š. ein Durcheinander von Nationen? Weil er selbst ein solches Durcheinander war? Waren mit den Nationen gar nicht Nationen gemeint, sondern der Pole, der Magyare, der Deutsche und der Tscheche  in der Eisenbahn waren selber Nationen? Sie waren nicht vier Nationen, sondern jeder viele Nationen? Jede Nation war Nationen? Der Pole war ein Durcheinander von Nationen? Der Deutsche, der Magyare, der Tscheche, sie waren Durcheinander von Nationen? Niemand kannte sich aus, niemand konnte sich verirren, denn ein jeder war schon verirrt? Sama eskorta, sestávající ze čtyř mužů, byla směsí národností.

Směs. Das Gemisch. Zu welcher Sprache gehörte směs? Welche Sprache war Gemisch? Englisch, Französisch, Ungarisch, Rumänisch, Türkisch und Russisch und Gemisch? War ich mitten drin in Przemysl und smísit und Gemisch und Denken? Die Eskorte bestand aus einem Polen, einem Magyaren, einem Deutschen und einem Tschechen. Und sie war unzertrennlich und ununterscheidbar. Die Eskorte war doch eine Korrektur? Keine Begleitung bloß, eine Korrektur, eine Berichtigung. Sama eskorta. Die Eskorte selbst? Sie hatte doch kein Selbst, sondern ihrer vier – und diese vier waren wahrscheinlich selbst nicht sie selbst, sondern smes, ein Mischmasch. Die Eskorte selbst ein Wirrwarr. Das Wirrwarr, das war die Korrektur. Sama eskorta byla směsí. Im tschechischen Buch war es eine smes národností, ein Gemisch der Nationalitäten. In der Eisenbahn fuhren miteinander gemischte Nationalitäten. Was also fuhr in der Eisenbahn eigentlich? Nichts Eigentliches? Der Kommandant der Eskorte war der Tscheche, er hatte den Rang eines frajtr. Er war eigentlich nicht ein Kommandant, wie die Übersetzerin schrieb, sondern vedl. Er führte. Vedení, Führung. Velení, Führung. Großmutter und Mutter, beide mit tschechischer Nationalität, erworben 1919 oder 1920 nach der Staatsgründung, die andere nach ihrer Geburt 1927, bis die beiden 1945 staatenlos wurden, sagten Wedel, wenn sie einen Tölpel meinten. Dachte die Großmutter damals in Troppau an den Wedel, der zu führen versuchte, an den Wichtigmacher, der das Wort führte, aber nichts zu sagen hatte als diese und jene Anweisung? Dachte sie an den Wedel, wenn sie irgendwen vedl sagen hörte? Und ich dachte an das Wort meiner zwei Mütter, als ich las: který vedl? An den Wedel Führer, Übertreiber, Treiber? Und ließ mich treiben? Trieb keinen Sport? Trieb Unfug? Ließ mich vor allem treiben, plavat. Wer sich treiben lässt, kann weder übertreiben noch übersetzen? Und sprach das Tschechische plavatný – also untertreibend, genauer gesagt treibend? War das Gegenteil des Übertreibens: die Trift? Und es gab weder die Übertrift noch die Untertrift? Hatte ich einen kleinen Sprachfehler auch? Konnte ich nicht richtig Schrift sagen? Sagte ich Trift? Wer Trift sagte, meinte damit nicht das Treffen und die Schläge.

Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Semmering eine Schneewehe. Sněhová závěj. Věj, die Wehen? Welche Sprache sprach ich? Wehte ich selber und sama? Trieb ich? Konnte ich gar nicht mehr übertreiben? War es möglich, zu übersetzen, ohne zu übersetzen? Ohne sich zu übernehmen? Übernimm dich nicht. Závěj, Anwehungen. Keine Bewegungen, sondern Bewehungen. Warum sagte ich Schneewehe, warum nicht we oder věj?

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Warum übersetzten Übersetzerin und Übersetzer, (das eine Buch 1926 erschienen und das andere 2016) als Josef S. auf dem Bahnsteig den Wedel, který eskortu vedl, bat, müssen zu dürfen, seine Bitte als eine Bitte, urinieren zu gehen und Wasser abzuschlagen und zu pinkeln?  Der ich nicht Tschechisch sprach, aber das Buch las in der miserablen in Great Britain in Milton Keynes, MK5 7HH, als Part of Richardson-Prachai Solutions Ltd erschienenen tschechischen Ausgabe, bei JiaHu Books, nach der chinesischen Stadt Jiahu vielleicht, in der Provinz Henan, wo anscheinend 16 Zeichen gefunden wurden einer 6600 Jahre alten Schrift, ich dachte, dass Josef Š. musste, und zwar nicht pinkeln gehen oder urinieren musste, sondern einfach musste. Ich dachte so, weil ich nicht Tschechisch sprach und schön langsam las und wenig verstand. By dovoleno mu bylo se vymočit und že bude močit. By und bylo, die zwei verwirrten mich, aber ich sah, dass hier nichts zu übersetzen war. Dass hier etwas war, das nicht zu übersetzen war (aber übersetzt worden war): vymočit und močit. Močit hielt ich für einen Verwandten von moci, moct und moc und damit für einen Verwandten von müssen. Ich dachte, že bude močit, dass er müssen könne oder müssen dürfe (wenn er wieder bei seiner Brigade sei, jetzt aber nicht, jetzt und hier auf dem Bahnhof nicht, sagte der sich aufspielende tschechische Gefreite, der die Eskorte führte). Im Wörterbuch – im kleinen Wörterbuch, ein schönes großes Tschechisch-Deutsches Wörterbuch gab es schon lange nicht mehr – standen Macht und Urin und Sumpf und Urinieren in einer Reihe untereinander. Meine Großmutter aus Troppau sagte mir: Wenn jemand muss, dann ist das ein Missverständnis. Wer muss und müssen sagt, übersetzt aus dem Tschechischen, übersetzt missverständlich aus dem Tschechischen, übersetzt das Wort močit. Urinieren. Du, mein kleiner Knabe, nennst es lullen. Übersetzt vielleicht auch das Wort moct, dürfen und können, die Gelegenheit haben. Moct, klingt es nicht wie musst? Ein Durcheinander, sagte die Großmutter, ein schönes Mischmasch, eine směsice.

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In beiden Übersetzungen bestand die Eskorte aus vier Männern. Im Tschechischen bestand sie nicht, sie war sestávající. Sie war zusammengesetzt. Die vier Zusammengesetzten waren ein Gemisch, ein Durcheinander. Die vier Gemischten waren ein Gemisch.

Als der Führer der Eskorte zu Josef Š. sagte: Er dürfe erst später müssen, wenn sie die Brigade erreichten in Wojalycz, sagte Josef Š: Gut. „Dobrá, to mně musejí.“ „Gut, das müssen Sie.“ „To mně musejí dát písémně.“ „Gut, das müssen Sie schriftlich mir geben.“

Fraijtr, chlap od voůl, se lekl toho močového měchýrě. Der Gefreite, ein Viehknecht, erschrak vor der Harnblase.

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In dem Eisenbahnwaggon sprachen nur zwei miteinander. Nicht der Tscheche mit dem Tschechen, die sich nicht verstanden. Es sprachen miteinander der Magyare oder Mad’ar und der Deutsche. Genauer gesagt: Mad’ar vergnügte sich mit Nemcem. Er vergnügte sich mit Nemcem auf eigenartige Weise. Sie sprachen miteinander auf eigenartige Weise. Der Deutsche sagte etwas, erklärte etwas, erzählte auf Deutsch, und der Ungar vergnügte sich, denn er verstand den Deutschen nicht. Er hörte dem Anderen zu und antwortete mit einem der zwei Worte, die er Deutsch sprach. Er sagte, während der Deutsche Deutsch sprach, immer wieder jawohl: Kydž Němec mu cosi vykládal, Mad’ar kýval hlavou a říkal Jawohl. Bewegte den Kopf hin und her und sagte Jawohl. Wenn der Deutsche schwieg, sagte der Ungar: Was? Und der Deutsche oder Österreicher begann wieder zu erzählen und erklären. So vergnügten sich die Beiden. Was vergnügte sie? Sie ersparten sich in dem Vergnügen etwas. Sie ersparten sich zu wissen, welchen Sinn die Worte machten. Der Sinn bestimmte, was der Österreicher sagte. Doch wieviel Sinn machte es dem Ungarn? Was bestätigte das Jawohl? Und was wollte er wissen, wenn er was fragte? Nach was fragte das was? Hier ersparten sich die Beiden viel. Auch der Erzähler ersparte sich und denen, die den Roman lasen, viel, indem er nicht ins Tschechische übersetzte, was der Österreicher auf Deutsch alles sagte. Irgendwie sagte der Österreicher nichts, Hašek übersetzte nichts und der Ungar bestätigte dieses Nichts. Das Österreichische oder Deutsche wurde entmachtet. Und der ungarische Soldat sagte zu den eingesparten Übersetzungen immer wieder Jawohl. Und Josef Š. sagte weder Jawohl noch Was. Der Roman ersparte auf dieser Seite allen Menschen die deutsche Sprache.

Wenn nicht sinnvoll, so war die Sache mit dem Rotz interessant, mit dem sich der polnische Soldat befasste. Während der Ungar (wenig) und der Österreicher (viel) sprachen, befasste er sich mit seinem Rotz. Der Pole von der Eskorte verhielt sich aristokratisch, kümmerte sich um niemanden und vergnügte sich mit sich allein, indem er sich auf den Boden schneuzte, wozu er ungemein geschickt den Daumen der rechten Hand benutzte; dann verschmierte er den Schleim auf dem Boden melancholisch mit dem Gewehrkolben und wischte hierauf den verschmutzten Kolben manierlich an der Hose ab, wobei er unaufhörlich vor sich hin brummte: „Heilige Jungfrau.“ „No, da kannst du grad nicht viel“, sagte ihm Š. „In Bojischti hat in einer Kellerwohnung der Straßenkehrer Machatschek  gewohnt, der hat sich aufs Fenster geschneuzt und hats so geschickt verschmiert, dass draus ein Bild geworn is, wie Libuscha den Ruhm der Stadt Prag prophezeit.“ So brachte die vierköpfige Eskorte Josef Š. zurück zu seiner Brigade in Wojalycz. Josef Š., die österreichische Kompanieordonnanz, in österreichische Gefangenschaft geraten, war wieder freier Österreicher in Galizien und eigentlich Tscheche.

In der Gefangenschaft versuchte er, sich einem österreichischen Feldwebel zu erklären, der die russischen Gefangenen in gebrochenem Slowakisch ansprach, welches er gelernt oder eben nicht gelernt hatte als Handelsvertreter einer Wiener Firma mit Niederlassung in der Slowakei. In der Buchausgabe sprach dieser Vertreter einer Wiener Firma in der Slowakei ein gebrochenes Slowenisch.

Der Feldwebel sagte auf Deutsch, denn der russische Kriegsgefangene Josef S. hatte gesagt, er spreche Deutsch: „Wo bist du her? Aha, Prága, das kenne ich, das liegt bei Warschau. Vor zwei Wochen hatte ich hier zwei Juden aus Prága bei Warschau. Und dein Regiment, welche Nummer hat es? 91?“

Der Feldwebel nahm den Schematismus und blätterte darin: „Das 91. Regiment ist aus Erewan, Kaukasus. Seinen Kader hat es in Tiflis. Da staunst du, was wir hier so alles wissen.“

Dann sagte der österreichische Feldwebel noch zu dem gefangen genommenen österreichischen Soldaten: „Bei uns herrscht beim Militär eine andere Disziplin als bei euch. Euer Zar ist ein Gesindel, unser Zar ist ein schlauer Kopf.“

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Nie erreichte Josef Š. die Front. Nie erreichte er den Feind. Er wurde selbst zum Feind und geriet in österreichische Gefangenschaft, bis dann endlich die Eskorte ihn wieder in die Nähe der Front führte, die er auch auf Seite 888 nicht erreichte. Auf der ersten Seite erreichte im selben Winter und selben Krieg in dem Gewitterbuch der Rekrut und Erzähler die Front, schon im dritten Satz hörte er sie und die Feinde. Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front. In dem Buch war alles Deutsch, also kriegerisch.

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In der Gefangenschaft erhielt Josef Š. den Auftrag, die Namen der anderen russischen, tatarischen, georgischen, ossetischen, tscherkessischen, mordwinischen und kalmückischen Gefangen zu erfragen und aufzuschreiben. Josef Š. war der einzige Deutsch sprechende Russe unter den Gefangenen und der Auftrag ging an ihn. Er sprach kein Russisch. Und keine der anderen Sprachen der Mithäftlinge. Es bereitete ihm Schwierigkeiten, ihnen zu erklären, dass sie ihren Namen nennen sollten. Er sagte: jmeno. Die Georgier konnten mit dem Wort nichts anfangen. Die buddhistischen Kalmücken verstanden es nicht. Einige kalmückische Soldaten sagten: Chalmg Tangtsch. Josef Š. hielt die beiden Worte zuerst für Vorname und Familienname. Als er sie mehrere Male hörte, hörte er auf, sie für die Namen der Soldaten zu halten. Die Tscherkessen wussten nicht, was er wollte. Ob er überhaupt etwas wollte. Die Russen verstanden dann das Wort jmeno auch nicht, weil es die Anderen nicht verstanden. Dann sagte er: Name. Dann sagte er seinen Namen und niemand erkannte ihn. Alle fragten sich, ob er Deutsch spreche. Er sagte: Priezvisko. Dann sagte er als Beispiel für einen Namen: Práha. Jemand antwortete: Prawda. Jemand sagte: Aha. Dann riefen die Soldaten bekannte Namen: Tolstoi. Tschaikowski. Fjodor Dostjewski. Einer sagte: Nikolai Gogol. Endlich begannen die Soldaten ihre eigenen Namen zu sagen. Es gab eine neue Schwierigkeit. Josef Š. hörte sie. Aber buchstabieren? Er hörte sie, aber geschrieben sahen sie aus wie seine Erfindungen, sahen sie aus wie keine Namen. Niemand hieß so, dachte er. Hatten sie ihm etwas Anderes gesagt oder gesungen? Muhlalej, war es der Anfang eines Lieds? Eines Lieds über eine Fliege? Muhla. Mucholapka war der Fliegenfänger. Abdrachmanov? Abdrachmanovat? Abstrahovat? Dráha, die Eisenbahn. Bejmurat Allahali, er wusste nicht, was er schrieb. Můra, der Nachtfalter. Auch der Alptraum. Dscheredse Tscherdedsche. Versuchte dieser Soldat auf Tschechisch etwas zu sagen über die Deutschen? Josef Š. schrieb auf, aber welche Sprache schrieb er auf? Er wunderte sich, dass er schrieb, in unbekannten Sprachen. Die Sprachen gefielen ihm. Sie gefielen ihm sehr.

Endlich war Josef Š. in Wojalycz, wo der Brigadestab war. Die Eskorte übergab ihn dem Leiter des Stabs Oberst Gerbisch, zusammen mit einem amtlichen Schreiben aus Przemysl. Der Oberst las es und verstand es nicht. Der Major, der es in Przemysl diktiert hatte, war betrunken (hatte eine leichte Alkoholvergiftung) und wusste nicht, was er diktierte. Jedenfalls gab man in Wojalycz Josef Š. einen Fahrschein nach Zóltance. Dort fuhr er hin. Zuvor durfte er die russische Uniform ausziehen und eine österreichische anziehen.

In Zóltance herrschte Chaos. Viel zu viele österreichische Soldaten waren in der kleinen galizischen Stadt. Die Front war nahe und niemand wusste, ob das, was das russische Militär tat, ein Rückzug war oder ein Angriff. Im Westen stiegen Rauchwolken auf. Die Juden von Zóltance waren in großer Gefahr. Die Feldgendarmerie hielt sie für Spione und verhaftete sie. Sie wurden verhört und geschlagen. Š. suchte auf den Straßen und Plätzen seine Marschkompanie. Endlich erklärte ihm ein tschechischer Oberst, sie sei im Dorf Klimantów, wenige Kilometer entfernt. Und endlich fand Josef Š. die Offiziere seiner Kompanie im Pfarrhof. Sie feierten. Es würde Schwein geben. Keiner wollte zuhören, aber Josef S. erzählte die Geschichte seiner Abwesenheit. Er sprach wieder die Worte der unbekannten Sprachen, die unglaublichen Namen. Die Sprachen der Russen und Georgier und Kalmücken und Tscherkessen, die er eigentlich alle nicht sprach, gefielen ihm wieder.

Die Offiziere blickten ihn mit weit aufgerissen Augen an, mit hervorgetretenen Augen, mit hervorgewälzten Augen, während er alle möglichen Einzelheiten erzählte, sogar nicht zu bemerken vergaß, dass auf dem Damm des Teiches, wo ihm sein Unglück widerfahren war, Vergissmeinnicht wuchsen. Als er dann die tatarischen Namen aufzählte, mit denen er auf seiner Pilgerschaft Bekanntschaft gemacht hatte, wie Hallimulabalibej, und zu diesen Namen noch eine ganze Reihe von Namen hinzufügte, die er selbst gebildet hatte, so wie Valivolavalivej oder Malimulamalimej, konnte Oberleutnant Lukas die Bemerkung nicht zurückhalten: „Dass ich Ihnen noch einen Tritt verpasse, Sie Rindvieh. Fahren Sie fort, aber kurz und zusammenhängend.“

Und S. fuhr gewissenhaft fort. Als er aber zum Standgericht und zum General und auch zum Major kam, erwähnte er, dass der General auf dem linken Auge schiele und der Major blaue Augen habe, „blaue Augen, die mir wirklich taugen“, fügte er ihm Reim hinzu. Ze mel modre oci . . . které po mne tocí, dodal potom v rýmu.

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In welcher Sprache sprach Š., als er erzählte, was passiert war? In der tschechischen Ausgabe des Romans sprach er und reimte Tschechisch. In den deutschen Ausgaben des Romans sprach er Deutsch. Mit den Offizieren, die auf das Schweinerne warteten und auf die Grützwurstsuppe, sprach er in welcher Sprache? Die Sache war kaum zu entscheiden. Jedenfalls reimte er und dichtete. Er sagte Valivolavalivej und Malimulamalimej und viele andere Worte und Namen und Reime. Es waren Namen und Worte keiner bekannten Sprache. Sagte er insgeheim: Die Poesie ist in keiner bekannten Sprache geschrieben? Die Poesie ist in Sprachen geschrieben, die den Gegnern im Krieg unbekannt sind, die sie beide trotzdem kennen. Beide kennen sie dieselben unbekannten Worte. Beide sprechen sie gerne die unbekannten Worte. Beide lesen sie gerne und sagen sie gerne: Valivolvalivej.

*

Ich dachte, dass ich Tschechisch sprach, auch wenn ich die Sprache nicht sprach und nicht verstand. Josef Š. sagte auf Seite 1 über zwei seiner Freunde: Um beide ist es nicht schade. Ich las im tschechischen Buch, was er über die Beiden sagte, die beide Ferdinand hießen wie der ermordete österreichische Thronfolger: Vobou není žádná škoda. Zuerst dachte ich: Žádná, das ist der Schaden. Ich irrte mich. Dann dachte ich: Schaden ist ein tschechisches Wort. Jedenfalls kein deutsches. Es ist das Wort škoda.

And it came to pass that their love for each other grew and grew. Ich las den Satz auf der Rückseite des Buchs, das vor uns auf dem Tisch in dem Eisenbahnwaggon lag. Ich griff in meinen Rock, in die Innentasche. Dort spürte ich das kleine rote Buch, den Reisepass, in welchem der Staatssekretär ihrer Majestät der Königin requires all those whom it may concern to allow the bearer to pass freely. Ich zog die Hand zurück. Und wir? Wir, wir Reisenden, hatten hier oben unterhalb der Passhöhe einen österreichisch-tschechischen, vielleicht österreichisch-slowenischen Pass über das Gebirge. Ich zeigte mit der Hand hinaus: Je průvan. Jemand sagte: Ne. Je průsmyk. Und fragte mich: Sind Sie Tscheche? Ich: Já.

Anmerkung:
Die Zitate stammen aus den deutschen Übersetzungen des Romans Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války von Jaroslav Hašek.
Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk. Aus dem Tschechischen von Grete Reiner 1926.
Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Wektkrieg. Aus dem Tschechischen von Antonín Brousek 2016.