Exterritorial? Involviert? Übersetzung im Feld der Propaganda

Noch immer werden Übersetzer und übersetzte Werke von totalitären Systemen politisch instrumentalisiert. Es ist Aufgabe eines jeden Übersetzers, die eigene Rolle klar und ehrlich zu reflektieren.

Im Juni 2021 zirkulieren im Netz Fragmente eines Videos. Ein junger Mann, kunstvoll ausgeleuchtet vor dunklem Hintergrund, spricht, beantwortet die Fragen eines ernst dreinblickenden Gegenübers, schlägt die Hände vors Gesicht, atmet mühsam, weint. Der emigrierte belarussische Journalist Raman Pratassewitsch, von „Sicherheitskräften“ seines Heimatlandes entführt und jetzt in Minsk gefangengehalten, bekennt Fehler, spricht dem Diktator seinen Respekt aus, bricht zusammen.

Die Spuren der physischen Gewalt sieht man an Ramans Handgelenken, als er die Hände vors Gesicht hält. Die Spuren der psychischen Gewalt kann man ahnen: Ramans Freundin wurde als Geisel mitverhaftet, niemand weiß, wie dieser Trumpf jetzt eingesetzt wird.

Das Video, produziert für das belarussische Staatsfernsehen, wird auf einem riesigen Bildschirm auf einem zentralen Platz der Hauptstadt Minsk gezeigt. Es ist kein Bild von Raman Pratassewitsch, das man hier sieht, Raman ist darin als Person nicht anwesend. An seiner Stelle sprechen: Gewalt, Lüge, Verrat, Manipulation.

Dies ist das Selbstporträt eines Regimes, das die Bürger als sein Eigentum betrachtet. Und es ist ein Bild, ja das Inbild der Propaganda.

Aber was hat dieses Bild mit uns zu tun, mit mir, mit dem Übersetzen?

Nicht Erkenntnis ist das Ziel, sondern Gewissheit – und sei es die Gewissheit, dass „alles Lüge“ ist, alles fake.

Thymian Bussemer gibt in seinem einschlägigen Handbuch einen Überblick über die Geschichte und Bedeutungsentwicklung des Begriffs „Propaganda“ seit dem 17. Jahrhundert,[01]Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 26f. Die Entwicklung reicht vom „Instrument der christlichen … Fußnote lesen er leuchtet auch die Grenzbereiche zwischen Propaganda und Werbung einerseits, Erziehung andererseits aus. All diesen Schattierungen, den zahlreichen Verästelungen des Begriffs und der unüberschaubaren Fachliteratur dazu will ich hier nicht nachgehen. Ich greife stattdessen nur einige der bei Bussemer genannten zentralen Charakteristika heraus: Unter Propaganda verstehe ich im Folgenden eine Sorte von „Kommunikation, die nicht informieren oder argumentieren, sondern überreden und überzeugen möchte“, oft mit einem Element von Druck oder Zwang, eine „Einflusskommunikation“ also, die „vom politischen System oder einzelnen politischen Akteuren“ ausgeht, deren Machtgewinn oder -erhalt dient und eine „ideologiegeladene Weltsicht“ transportiert und bedient.[02]Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 13-15 u. 34. Entscheidend ist die Asymmetrie dieser Kommunikation, die anti-aufklärerische Methode: Ihrem Adressaten wird das Gefühl vermittelt, im Besitz der Wahrheit zu sein, aber die Mittel, sich diese Wahrheit selbst zu erarbeiten (oder zu anderen Schlüssen zu kommen), werden ihm systematisch vorenthalten. Nicht Erkenntnis ist das Ziel, sondern Gewissheit – und sei es die Gewissheit, dass „alles Lüge“ ist, alles fake.

Sprachliche Äußerungen, die den genannten Kriterien entsprechen, lassen sich selbstverständlich übersetzen und werden auch ständig übersetzt. Wo ich mich dazu bereit erkläre, bin ich Werkzeug einer Herrschaftstechnik, vielleicht wende ich sie auch aus freien Stücken an. Es kann verschiedene Motive geben, das zu tun, darunter durchaus ehrenwerte: Vielleicht übersetze ich Glaubensartikel einer propaganda fides, von der ich selbst überzeugt bin, um ein in meinen Augen moralisch richtiges Anliegen zu befördern. [03]Auf einen solchermaßen positiven Propagandabegriff geht das russische Kürzel Agitprop (agitacija i propaganda) zurück: Politische Bildung, … Fußnote lesen Im gesamten Massiv der übersetzten propagandistischen Kommunikation dürfte eine so klare Position aber eher selten sein. Meist operiert Propaganda nicht offen, sondern verdeckt [04]Vgl. Christian Adam: „Großartig geschrieben!“ Übersetzungsliteratur auf dem deutschen Buchmarkt 1933–1945, in: Marie Luise Knott, Thomas … Fußnote lesen – wer beeinflusst wird, soll sich darüber besser nicht im Klaren sein, und auch wer an dieser Einflussnahme mitwirkt, braucht das nicht zu wissen.

Propaganda lebt von der Zweideutigkeit, und Zweideutigkeit ist ansteckend. Das Geiselvideo von Raman Pratassewitsch war als „Interview“ inszeniert und als Demontage und Drohung gemeint – wer genau hinsah, dem entging dies nicht. Dennoch übernahmen auch internationale, unabhängige Medien teils ungeprüft den Sprachgebrauch des belarussischen Staatsfernsehens und berichteten ihrerseits von einem „Interview“, in dem der inhaftierte Regimekritiker andere „beschuldigte“ und dies oder jenes „zugab“. Wer die Dinge in dieser Weise nicht beim Namen nennt, spielt schon mit seiner Wortwahl das Spiel der Propaganda mit. [05]So zu lesen in der Süddeutschen Zeitung vom 4.6.2021; dort heißt es über Pratassewitsch unter anderem: „Einen Tag nach seiner Festnahme am 23. … Fußnote lesen Anders gesagt: Wer dieses Spiel nicht mitspielen will – sei es als Journalistin oder als Übersetzer – kommt ohne Sprachkritik nicht aus.

Wie aber verhält sich die Propaganda zum Literaturübersetzen, und vice versa?

Übersetzung ist hier synonym mit dem Fremden an sich.

Den offensivsten Verfechtern und Nutzern der Propaganda im modernen Verständnis, den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, war die Übersetzung als Gattung suspekt. Die nationale Kultur sollte autark sein, und ihre Stärke glaubte man auch am Verhältnis von literarischen Im- und Exporten ablesen zu können.[06]Christopher Rundle: Translation in Fascist Italy, in: Ders., Kate Sturge (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010, S. 15-50, hier … Fußnote lesen Dazu kam die fixe Idee von der Reinheit des Volkskörpers und -geistes: Im faschistischen Italien wurden Übersetzungen als Quelle „kultureller Verschmutzung“ gesehen, und auch im nationalsozialistischen Deutschland galt eine radikale Reduktion der Literaturimporte als Weg zur „geistigen und moralischen Gesundung“ der Nation.[07]Christopher Rundle, Kate Sturge: Introduction, in: Dies. (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010, S. 3-12, hier S. 10. – Kate … Fußnote lesen Besonders unerwünscht war die Verwischung interkultureller Grenzen. In den „12 Thesen wider den undeutschen Geist“, die im Vorfeld der Bücherverbrennung 1933 veröffentlicht wurden, wird unter Punkt 7 verlangt: „Wir wollen den Juden als Fremdling achten und (…) fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in deutsch, sind sie als Übersetzung zu kennzeichnen. (…) Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung.“ Übersetzung ist hier synonym mit dem Fremden an sich.

Im Wunschbild der geistigen Homogenität und kulturellen Eindeutigkeit stellt letztlich auch die Person des Übersetzers einen Fremdkörper dar. Wer übersetzt, sieht immer zwei Seiten, ist „the alien within“.[08]Kate Sturge: ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004. In der Sowjetunion unter Stalin bot das Übersetzen zwar für zahlreiche Autoren, die sich dem ästhetischen Diktat des sozialistischen Realismus nicht unterordnen konnten oder wollten, einen (ökonomischen, sozialen, kreativen) Ausweg; die Beispiele, angefangen von Boris Pasternaks Faust, sind bekannt – Anna Achmatowa übersetzte Leopardi, Marina Zwetajewa Lorca, Michail Kusmin Apuleius, Petrarca und Shakespeare. Eine sichere Zuflucht war diese Arbeit aber keineswegs: In einem Klima der Spionomanie, in dem jeder Kontakt zum Ausland verdächtig war, konnte auch die literarische Beschäftigung damit gefährlich werden.

In exemplarischer, ja extremer Weise zeigt sich dies im Schicksal der Dichterin und Übersetzerin Tatjana Gneditsch (1907–1976). 1942 wurde die Spezialistin für englische Literatur des Elisabethanischen Zeitalters als Übersetzerin zum Kriegsdienst verpflichtet, sie arbeitete in der Aufklärungsabteilung der sowjetischen Ostseeflotte; 1944 wurde sie verhaftet, angeblich – diese Version soll auf Gneditsch selbst zurückgehen[09]Diese und die folgenden biografischen Angaben basieren großteils auf Efim Etkinds Gneditsch gewidmetem Kapitel „Pobeda ducha“ in seinem … Fußnote lesen – aufgrund einer Selbstdenunziation: Ein Angehöriger der britischen Streitkräfte, beeindruckt von ihren Lyrikübertragungen ins Englische, hatte ihr Zusammenarbeit im Interesse der kulturellen Beziehungen vorgeschlagen, die Perspektive einer Reise nach England sei ihr verlockend erschienen, so sehr, dass sie sich einer Parteimitgliedschaft (aufgrund ihrer militärischen Position war sie Kandidatin) nicht mehr für würdig hielt, sich anzeigte – und in der Folge wegen versuchten Landesverrats zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Die zweite Pointe: In den zwei Jahren, die die „Delinquentin“ vor ihrem Abtransport ins Lager in Einzelhaft in einem Leningrader Gefängnis verbrachte, übersetzte sie – anfangs aus dem und über längere Strecken auch ins Gedächtnis – Byrons Versepos Don Juan, mehr als sechzehntausend Verse. Nach Stalins Tod und ihrer Entlassung aus der Haft konnte Gneditsch ihre Übersetzung veröffentlichen, sie wurde für ihre Eleganz, Leichtigkeit und Treffsicherheit gefeiert, vielfach neu aufgelegt, auf die Bühne gebracht: Das Übersetzen hatte sie „sowohl ins Verderben gestürzt als auch neu erschaffen“.[10]Polina Barskova: Katastrofa kak lirika: ruinotekst blokadnoj pamjati Tat’jany Gnedič, in: Neprikosnovennyj zapas, 5/2019, S. 130-142. Barskova … Fußnote lesen

 

Tatjana Gneditsch am Tag ihrer Verhaftung am 27. Dezember 1944.

Auch wenn Gneditschs Geschichte in der Realität mehr Facetten und Nuancen hatte, als diese von Efim Etkind wiedergegebene Version auf Anhieb zeigt: Ihre Verfolgung, ihr doppeltes Opfer, ihr später literarischer Triumph und selbst die exzentrisch-bescheidene Art, in der sie ihn auskostete, scheinen sie für die Rolle einer Nationalheiligen im imaginären Land der Literaturübersetzer zu prädestinieren – umso mehr, als die Zahl der verfolgten, verhafteten, verurteilten Kolleginnen auch in unseren Tagen weiter wächst.[11]Ein jüngerer Fall trug sich wiederum in Belarus zu, siehe Artikel auf literaturuebersetzer.de. Der russische Literaturwissenschaftler, Soziologe und Übersetzer Boris Dubin hat darauf hingewiesen, dass das Bewusstsein von den Brüchen in und zwischen der Welt und der Sprache, das mit der übersetzerischen Arbeit einhergehe, für die repressive Staatsmacht einen „Skandal“ darstellt, sie wittere darin „Verrat, Provokation“.[12]Boris Dubin: Ein Mensch zweier Kulturen. Theorie und Praxis des Übersetzens bei Vadim Kozovoj. In: Ders.: Das Unmögliche leben. Studien, Essays, … Fußnote lesen Daraus folgt jedoch nicht, dass jeder Übersetzer schon qua Beruf ein Widerstandskämpfer gegen repressive Systeme und ihre Propaganda wäre: Die quasi exterritoriale Position einer Gneditsch lässt sich nicht ohne weiteres auf die ganze Zunft übertragen.

Selbst in den totalitären Systemen der Vergangenheit waren Übersetzer und Übersetzungen längst nicht immer nur randständig. Im nationalsozialistischen Deutschland ging die Zahl der publizierten Übersetzungen erst gegen Ende des Krieges wirklich signifikant zurück, davor war ihr Anteil am Buchmarkt entgegen allen politischen Verlautbarungen sogar gestiegen.[13]Kate Sturge, Translation [Fn.6], S, 53f. à Christopher Rundle, Kate Sturge (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010? – vgl. … Fußnote lesen Trotz der 1935 eingeführten Vorzensur für übersetzte Literatur, die jüdische Autoren aus dem Strom der Publikationen herausfiltern sowie unerwünschte Inhalte identifizieren sollte, trotz massiver staatlicher Eingriffe in die Auswahl der übersetzten Titel: Übersetzungen blieben ein wichtiger Teil des Buchmarkts – zum einen wohl als Ventil, um ideologischen Überdruck (und Überdruss) beim lesenden Publikum zu vermeiden, zum anderen, um dem Ausland gegenüber eine halbwegs zivilisierte Fassade aufrechtzuerhalten. Auswärtige Kulturpolitik spielte auch für Propagandaminister Joseph Goebbels bereits eine Rolle.[14]Kate Sturge, ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004, S. 35-39. – Christian Adam sieht in den auf den … Fußnote lesen

Das Stichwort führt uns zur Gegenwart zurück. Die Zeiten der Propagandaministerien sind in unserem Teil der Welt zum Glück vorbei, aber dass sich die Literaturübersetzung politisch nicht instrumentalisieren ließe, ist damit nicht gesagt. Wird sie es? Ich muss gestehen, dass ich etwas erschrocken war, der beliebten Metapher von der Übersetzung als Brücke in einem programmatischen Text der NS-Literaturpolitik wiederzubegegnen, Bernhard Payrs Aufsatz „Dichtung als Brücke zwischen den Völkern Europas“.[15]Payr war Mitarbeiter von Rosenberg; sein Text geht auf einen Vortrag bei einer Arbeitstagung des „Amtes Schrifttumspflege beim Beauftragten des … Fußnote lesen Die Literaturwissenschaftlerin Kate Sturge zeigt, wie eng das Bild der Brücke mit dem der Kulturen als getrennten, klar umgrenzten Entitäten verbunden ist: Nicht die Fremdheit selbst machte Übersetzungen für die NS-Ideologie verdächtig. Verpönt war vielmehr die universalistische Vermischung, erwünscht die Exotisierung – das Andere als Ganz Anderes, sozusagen.[16]Kate Sturge, ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004, S. 35. Zu Payr siehe ebd., S. 85-88: „The … Fußnote lesen Es wäre ein eigenes Thema, einer möglichen unterschwelligen Kontinuität dieser Vorstellungen (Stichwort Identitäten und Identitäres) im Kontext der Literaturübersetzung bis in die Gegenwart nachzugehen – auch wenn (oder sollte ich sagen: solange?) derlei Ideen hier und heute sicher nicht von Staats wegen propagiert werden.

Doch das ist nur eine Seite der Medaille, denn als Übersetzerin bin ich auch Teil der Auslandskulturpolitik der Länder, aus deren Sprachen ich übersetze. Internationale Kulturpolitik muss keinen propagandistischen, manipulativen Charakter haben, sie kann tatsächlich der Förderung eines Dialogs (der Gesellschaften, nicht der Staaten) mit offenem Ausgang dienen, wie das deutsche Goethe-Institut ihn sich auf die Fahnen schreibt.[17]Klaus-Dieter Lehmann: Es gibt kein getrenntes Innen und Außen, in: AKBP (=Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik). Ein Rückblick. Hg. von Johannes … Fußnote lesen Aber sie kann auch gezielt ein bestimmtes Bild zu formen versuchen. Ich erinnere mich an einen Internationalen Übersetzerkongress in Moskau, bei dem den Teilnehmerinnen in Form einer Abschlussresolution ans Herz beziehungsweise in den Mund gelegt wurde, sie sollten und wollten durch ihre Arbeit dem falschen Medienbild von Russland im Ausland ein richtiges – „frei von ideologischen Klischees“ – entgegensetzen. Wer wollte etwas gegen Klischeefreiheit einwenden, wer würde bestreiten, dass Literatur sich hervorragend dazu eignet, Stereotypen zu unterlaufen, und dass das im Sinne des Weltfriedens und der Völkerverständigung eine gute Sache ist? Nur: der Kongress fand 2016 statt, zwei Jahre nach der Annexion der Krim, der Krieg im Osten der Ukraine war in vollem Gang, das Bild Russlands im Ausland stark durch diese Ereignisse geprägt. „Ideologische Klischees“? Denen die übersetzte russische Literatur, an vorderster Stelle die Klassiker, entgegenwirken sollte? Der Kongress wurde ausgerichtet von einem sich als unpolitisch verstehenden Kulturinstitut, die Kosten für Anreise, Unterkunft, Verpflegung der Teilnehmer trug auf diesem Umweg der russische Staat. Ein kleiner Gegengefallen, hier keinen Einspruch gegen die Resolution zu erheben, nichts zurechtzurücken, nicht die kritische Berichterstattung zu verteidigen? Der Preis dafür, dass das an sich sinnvolle, unpolitische Institut unbehelligt weiterexistieren und uns alle fördern konnte?

Es bleibt uns nicht erspart, in jeder einzelnen Situation zu prüfen, ob und auf welchem Weg genau unsere Übersetzungen oder auch wir als Personen Teil einer Propagandaanstrengung werden, und unser Verhältnis dazu zu bestimmen.

Worauf ich hinaus will, ist kein generelles „Prostitutions“-Verdikt, es ist überhaupt nichts Generelles, sondern im Gegenteil etwas sehr Spezielles: Es bleibt uns nicht erspart, in jeder einzelnen Situation zu prüfen, ob und auf welchem Weg genau unsere Übersetzungen oder auch wir als Personen Teil einer Propagandaanstrengung werden, und unser Verhältnis dazu zu bestimmen. Das verlangt Wachheit und Wahrhaftigkeit in erster Linie uns selbst gegenüber. In welchen Kontext stelle ich mich mit der Annahme eines Preises? Welchen Jahresbericht schmückt meine Annahme eines Stipendiums, für welche Untat dient meine übersetzerische Großtat als Gegengewicht oder Rechtfertigung? All diese Fragen lassen ganz unterschiedlich gewichtete pragmatische Antworten zu, es gibt hier kein reines Schwarz-Weiß. Um mir über die Grauwerte klar zu werden, muss ich mir die Fragen aber zumindest stellen und sie innerlich, gegebenenfalls aber auch öffentlich, ehrlich beantworten – was mich im real existierenden Literaturbetrieb, der eben auch ein politischer Betrieb ist, in höchst verzwickte, peinliche, schmerzhafte Lagen bringen kann.

Und damit nicht genug.

„Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei?“, fragt Victor Klemperer in seiner 1947 erschienenen Abhandlung über die Sprache des Dritten Reiches. Die stärkste Wirkung, fährt er fort, „wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden.“ Eben diese durch veränderte „Wortwerte und Worthäufigkeiten“ aus Bestehendem geformte Sprache, die im Interesse der Partei das Denken lenke, sieht Klemperer als deren „stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel“.[18]Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S.20-22. Vor dem Gift einer wie auch immer gearteten Propaganda ist niemand gefeit (bei Klemperer sind es nicht einmal die Gegner und Opfer des NS-Regimes[19]Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S.17.), auch nicht die Helden des Unidentischen, die Übersetzer.

Ich zitiere Klemperer nicht, um eine Parallele zwischen den politischen Systemen damals und heute zu ziehen. Aber die Sprache, die ich spreche und in meinen Übersetzungen schreibe, hat ihre Geschichte. „My poetic and linguistic fingerprint betrays entirely my history and the history of those around me“, heißt es in Sasha Dugdales Vorwort zu ihrer Übersetzung von Maria Stepanovas Krieg der Tiere und Untiere – einem Gedichtzyklus, der der propagandistischen Zurichtung von Sprache nachgeht und den schillernden Blüten, die deren Sedimente in der Vermischung mit anderen, älteren und neueren Schichten treibt. „The Alien Within“ bin ich, aber the alien ist auch in mir, in Dugdale, in Stepanova: „We cannot escape this situation, our own language is bent and tainted (but also illuminated and made miraculos) by our past and our culture, our societies‘ crimes and peculiarities.“[20]Sasha Dugdale: Translator’s Foreword, in: Maria Stepanova: War of the Beasts and the Animals. Hexham 2021, S. 16. – Auf Deutsch erschien Krieg … Fußnote lesen

Ich muss mir selbst jedes Wort im Mund umdrehen – wenn es sein muss, und das muss es oft, auch mehrmals.

Ich kann und will meiner Sprache ihre Zweideutigkeit, ihre fragwürdigen Komplizenschaften, ihre Geschichte nicht austreiben, ich könnte es nur um den Preis ihrer Sterilisierung. Aber damit dieser Boden nicht Sumpf, sondern Humus ist, muss ich ihn unermüdlich umgraben. Muss genau auf die ideologischen Unterströmungen meiner Wörter und Sätze lauschen, ganz besonders dort, wo ich mich von einem breiten Strom getragen fühle, mich moralisch auf der richtigen Seite sehe. Ich muss mir selbst jedes Wort im Mund umdrehen – wenn es sein muss, und das muss es oft, auch mehrmals.

Dieser Moment, in dem einem die eigene Sprache fremd wird, ist einer der konstitutiven Momente der Literaturübersetzung, und er enthält für mich in komprimierter Form die politische Dimension dieser Arbeit. Sie ist uns nicht gegeben, sondern hängt von der Art und Weise ab, in der wir unserer Tätigkeit nachgehen. Sprachkritik ist auch hier ein Stichwort. Der Übersetzer, heißt es bei dem bereits zitierten Boris Dubin, fühle sich „in jeder natürlichen Sprache als Fremder“. „Inmitten seines eigenen Idioms“ kultiviere er „eine andere Sprache, die sich das Fremde aneignen und es weitergeben kann“, und erst dadurch werde seine Sprache erwachsen, „eine Sprache der Kultur“.[21]Boris Dubin: Ein Mensch zweier Kulturen. Theorie und Praxis des Übersetzens bei Vadim Kozovoj. In: Ders.: Das Unmögliche leben. Studien, Essays, … Fußnote lesen

Die Übersetzung lebt davon und wird lebendig dadurch, dass sie beide Seiten sieht, doch sie ist keine Kraft der Relativierung. Es gibt in der Sprache keine Reinheit, aber es gibt ein Streben nach Wahrheit, etwa im Sinn von Václav Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. Man soll nicht glauben, dass das umsonst wäre – im doppelten Wortsinn.

References
01 Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 26f. Die Entwicklung reicht vom „Instrument der christlichen Missionsarbeit“ (17. Jahrhundert) über die „Kommunikationstechnik der Gegenaufklärung“ (18. Jahrhundert), die übliche „Technik zur Verbreitung von Ideologien“, das ganz normale „Instrument im politischen Meinungsstreit“ (19. Jahrhundert) bis zum integralen „Teil der Kriegsführung“, zur „zentralen Herrschaftstechnik“ totalitärer Staaten und zum ubiquitären Mittel staatlicher Selbstdarstellung sowie zur „Herstellung gesellschaftlicher Stabilität“ im 20. Jahrhundert.
02 Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 13-15 u. 34.
03 Auf einen solchermaßen positiven Propagandabegriff geht das russische Kürzel Agitprop (agitacija i propaganda) zurück: Politische Bildung, theoretische Schulung, Aufklärung wurden nicht erst von der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, sondern bereits von den nationalen Befreiungsbewegungen um 1848 mit Propaganda assoziiert, siehe Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 28f. u. 37.
04 Vgl. Christian Adam: „Großartig geschrieben!“ Übersetzungsliteratur auf dem deutschen Buchmarkt 1933–1945, in: Marie Luise Knott, Thomas Brovot, Ulrich Blumenbach, Jürgen Jakob Becker (Hg.): Zaitenklänge. Geschichten aus der Geschichte der Übersetzung. Berlin 2018, S. 125-139, hier S. 128. Siehe auch Thymian Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2008, S. 36.
05 So zu lesen in der Süddeutschen Zeitung vom 4.6.2021; dort heißt es über Pratassewitsch unter anderem: „Einen Tag nach seiner Festnahme am 23. Mai meldete er sich mit einem Video, in dem er ein Geständnis ablegte, mutmaßlich unter Zwang.“ Vielleicht „meldete er sich“ aber auch aus freien Stücken, einen Tag nach seiner Festnahme, soll die Leserin schließen? Der Journalist Nikolai Klimeniouk hat diese Form der Pseudo-Neutralität in Bezug auf die Berichterstattung russischer unabhängiger Medien über dasselbe Ereignis analysiert, <www.facebook.com/klimeniouk>, 7.6.2021.
06 Christopher Rundle: Translation in Fascist Italy, in: Ders., Kate Sturge (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010, S. 15-50, hier S. 31.
07 Christopher Rundle, Kate Sturge: Introduction, in: Dies. (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010, S. 3-12, hier S. 10. – Kate Sturge: Translation in Nazi Germany, in: Ebd., S. 51-83, hier S. 52.
08 Kate Sturge: ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004.
09 Diese und die folgenden biografischen Angaben basieren großteils auf Efim Etkinds Gneditsch gewidmetem Kapitel „Pobeda ducha“ in seinem Erinnerungsbuch Barselonskaja proza (Sankt-Peterburg 2001). – Ein detaillierteres und weniger hagiographisches Bild von der Entstehung der Übersetzung zeichnet auf der Grundlage von Gneditschs Tagebüchern und Briefen Marija Malikova: ‚Don Žuan‘ Tat’jany Gnedič, in: Russkaja literatura, 2/2017, S. 183–210.
10 Polina Barskova: Katastrofa kak lirika: ruinotekst blokadnoj pamjati Tat’jany Gnedič, in: Neprikosnovennyj zapas, 5/2019, S. 130-142. Barskova geht auch auf die Widersprüche und blinden Flecken in Gneditschs Biographie ein – „hier ist alles apokryph“ –, was deren symbolische Bedeutung aber nicht schmälert.
11 Ein jüngerer Fall trug sich wiederum in Belarus zu, siehe Artikel auf literaturuebersetzer.de.
12 Boris Dubin: Ein Mensch zweier Kulturen. Theorie und Praxis des Übersetzens bei Vadim Kozovoj. In: Ders.: Das Unmögliche leben. Studien, Essays, Erinnerungen. Berlin 2015, S. 237-246, hier S. 242.
13 Kate Sturge, Translation [Fn.6], S, 53f. à Christopher Rundle, Kate Sturge (Hg.): Translation under Fascism. Houndmills, New York 2010? – vgl. auch Kate Sturge: ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004, S. 56-59.
14 Kate Sturge, ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004, S. 35-39. – Christian Adam sieht in den auf den ersten Blick konträren Positionen des Chefideologen Alfred Rosenberg und Propagandaminister Goebbels in dieser Frage keinen echten Gegensatz, sondern eher ein Hand-in-Hand (vgl. Christian Adam: „Großartig geschrieben!“ Übersetzungsliteratur auf dem deutschen Buchmarkt 1933–1945, in: Marie Luise Knott, Thomas Brovot, Ulrich Blumenbach, JJ. Becker (Hg.): Zaitenklänge. Geschichten aus der Geschichte der Übersetzung. Berlin 2018, S. 132.)
15 Payr war Mitarbeiter von Rosenberg; sein Text geht auf einen Vortrag bei einer Arbeitstagung des „Amtes Schrifttumspflege beim Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP“ zurück. Er erschien in: Hans Hagemeer (Hg.): Einsamkeit und Gemeinschaft. Stuttgart 1939.
16 Kate Sturge, ‚The Alien Within‘: Translation into German during the Nazi regime. München 2004, S. 35. Zu Payr siehe ebd., S. 85-88: „The bridge image allows the retention of two distinct entities, separated by a highly visible line across which a mediating link, translation, allows limited travel“; die Nationalsprachen erscheinen in diesem Zusammenhang als Grenzmauern.
17 Klaus-Dieter Lehmann: Es gibt kein getrenntes Innen und Außen, in: AKBP (=Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik). Ein Rückblick. Hg. von Johannes Ebert und Olaf Zimmermann, Berlin 2020, S. 20-27, hier S. 22f. Das Buch als online zugängliches PDF finden Sie hier. – Zum Umgang mit dem ganz anders gearteten Erbe der deutschen auswärtigen Kulturpolitik nach 1945 vgl. Christina von Braun: Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik im Spiegel des Deutschland-Bildes, in: ebd., S. 14-19.
18 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S.20-22.
19 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975, S.17.
20 Sasha Dugdale: Translator’s Foreword, in: Maria Stepanova: War of the Beasts and the Animals. Hexham 2021, S. 16. – Auf Deutsch erschien Krieg der Tiere und Untiere in: Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder. Berlin 2020.
21 Boris Dubin: Ein Mensch zweier Kulturen. Theorie und Praxis des Übersetzens bei Vadim Kozovoj. In: Ders.: Das Unmögliche leben. Studien, Essays, Erinnerungen. Berlin 2015, S. 237-246, hier S. 240.