Schönpflästerchen Übersetzung. Kleists Räthsel als Metapher

Dass das Übersetzen etwas mit dem Rätseln und dem Fremden zu tun hat, ist bekannt. Und immer gibt es mehrere Lösungen. Aber keine absolute. Dagmara Kraus folgt eigenen Pfaden im Rätseln um Polylingualität.

Dass Heinrich von Kleist uns kurz vor seinem Freitod mit einer übersetzungspoetologischen Schrift beglückt hat, ist bislang selbst den glühendsten Adepten dieses laut Brentano „mit langsamem Consequenztalent herrlich ausgerüstete[n] Mensch[en]“[01]Clemens Brentano über Kleist, in: Brandenburger Kleist-Blätter II [BKB] (zur Brandenburger Kleist-Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle). … Fußnote lesen entgangen. Dass Kleist in besagtem Text darüber hinaus auf das Thema der Polylingualität zu sprechen kommt, wirkt regelrecht unglaubwürdig.

Vorbehaltlich einer zielführenden Auslegung scheint dies im Rahmen einer merkwürdigen Kurzerzählung gleichwohl der Fall zu sein. Die Geschichte, die ich im Sinn habe, fällt hinsichtlich ihrer Niederschrift in eine Zeit, da Autoren wie Wilhelm Grimm sich der Entdeckung einer neuen Gattung rühmen.[02]Vgl. ebd., S. 388 u. S. 392. Wilhelm Grimm beschäftigt sich seinerzeit mit den Rätseln aus der von ihm zur Gänze übersetzten Hervararsaga. Auch Kleist, dem Zeitgeist nicht abgeneigt, wird schnell zu einem Versuch darin verführt und betitelt das kaum je bemerkte, weil durchaus werkabseitige Kammerstück mit der in Mode[03]Vgl. dazu auch Michael Gamper: „Rätsel kurz erzählen. Der Fall Kleist.“ In: Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.): Kurz & knapp. Zur … Fußnote lesen gekommenen Genrebezeichung. Dann lässt er es „bei J.E. Hitzig hinter der katholischen Kirche Nr. 3“[04]Vgl. diese stete Hinzufügung des Verlegers in den Berliner Abendblättern [BAb]. in den von ihm herausgegebenen Berliner Abendblättern drucken, jenem zunächst mit großem Beifall aufgenommenen, bald jedoch schon als „ideale Wurstzeitung“[05]Wilhelm Grimm über die BAb an Paul Wigand, BKB, a.a.O., S. 3. verspotteten, prompt totzensierten und im April 1811, kaum sechs Monate nach seiner Taufe (und zugleich nur sechs Monate vor dem Selbstmord des Autors) aufgrund politischer Intrigen wieder eingestellten Tageblatt, dort dicht gefolgt von den ihm nicht unverwandten „Miszellen“:

Räthsel

Ein junger Doktor der Rechte und eine Stiftsdame, von denen kein Mensch wußte, daß sie mit einander in Verhältnis standen, befanden sich einst bei einem Commandanten der Stadt, in einer zahlreichen und ansehnlichen Gesellschaft. Die Dame, jung und schön, trug, wie es zu derselben Zeit Mode war, ein kleines schwarzes Schönpflästerchen im Gesicht, und zwar dicht über der Lippe, auf der rechten Seite des Mundes. Irgend ein Zufall veranlaßte, daß die Gesellschaft sich auf einen Augenblick aus dem Zimmer entfernte, dergestalt, daß nur der Doktor und die besagte Dame darin zurückblieben. Als die Gesellschaft zurückkehrte, fand sich, zum allgemeinen Befremden derselben, daß der Doctor das Schönpflästerchen im Gesicht trug; und zwar gleichfalls über der Lippe, aber auf der linken Seite des Mundes. –
(Die Auflösung im folgenden Stück.)[06]Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke (Brandenburger Ausgabe), Bd. II/7, hg.v. Roland Reuß und Peter Staengle. Basel und Frankfurt am Main: … Fußnote lesen

Die in der Schlussellipse angekündigte „Auflösung“ hat es meines Wissens nie gegeben: Weder in den unmittelbaren Folgeausgaben der Kleist’schen Zeitschrift noch, après coup, in einem der Frühjahrsblätter aus dem Todesjahr Kleists; allenfalls eine Auflösung seiner Verlobung mit der Frankfurterin Wilhelmine von Zenge, zwischenzeitig verheiratete Krug, zuvor Stiftsfräulein wie die hier Porträtierte, und Tochter eines gewiss nicht von ungefähr auch im Text in Erscheinung tretenden Stadtkommandanten, deren Liebe Kleist sich (wie auch ihrer Wechselseitigkeit) absolut gewiss zeigte, ein paar Jahre vor der Veröffentlichung der Miniatur.

Zwar eigentlich – – ich will es Ihnen nur offenherzig gestehen, Wilhelmine, was Sie auch immerhin von meiner Eitelkeit denken mögen – eigentlich bin ich es fest überzeugt, daß Sie mich lieben. Aber, Gott weiß, welche seltsame Reihe von Gedanken mich wünschen lehrt, daß Sie es mir sagen möchten. Ich glaube, daß ich entzückt sein werde, und daß Sie mir einen Augenblick, voll der üppigsten und innigsten Freude bereiten werden, wenn Ihre Hand sich entschließen könnte…[07]Kleist an Wilhelmine von Zenge, Frankfurt a. d. Oder, Anfang 1800.

Aber wie hätte eine Auflösung dieses augenzwinkernden Räthsels auch aussehen können? Ihre Ankündigung wirkt vor dem Hintergrund des im Text Gesagten wie pure Rhetorik, der eingeklammerte Schlussakkord beinahe wie die hinreichende Bedingung einer literarischen Versuchsanordnung.
Aus Geschichtsperspektive betrachtet scheint Kleists Tod selbst dieses Rätsels einzige, ja einzig mögliche Lösung zu bedeuten und man meint rückblickend, in den Kulissen eines Schriftstellers gewahr zu werden, der mit gewaltiger „schwere in der fühle“[08]Aus einer Zeile von Reinhard Priessnitz‘ Gedicht „die ermüdete nacht“, in: vierundvierzig gedichte. Linz: Edition Neue Texte 1978. als unverbesserlicher Stichler, da im Zuge der Liebesenttäuschung untröstlich in seinem Vertrauen gekränkt, seiner einst Angetrauten einen Zerrspiegel der Lächerlichkeit vorzuhalten sucht, wenn er, der stets Besorgte, Warnende, ihr immerzu mit Reue Drohende[09]Du wirst genug leiden durch Deine Reue“, verspricht Heinrich von Kleist Wilhelmine von Zenge im Brief aus Würzburg vom 19. (–23.) September 1800. und in Briefen aus der Ferne rasend Eifersüchtige, das „liebe Mädchen“, wie er sie anspricht, das „Herzensminchen“, im Gewand der koketten Kanonissin mit aufgeklebtem Muttermal über der Lippe auf einen gelehrten, ganz offensichtlich liebessüchtigen Jüngling treffen lässt.

[…] ich möchte Deiner Seele nur den Gedanken recht aneignen, daß es höhere Freuden gibt, als die uns aus dem Spiegel, oder aus dem Tanzsaale entgegen lächeln. […] Bringe der Mode, oder vielmehr dem Geschmack die kleinen Opfer, die er nicht ganz mit Unrecht von jungen Mädchen fordert, arbeite an Deinem Putze, frage den Spiegel, ob Dir die Arbeit gelungen ist – aber eile mit dem allen, und kehre so schnell als möglich zu Deinem höchsten Zwecke zurück. Besuche den Tanzsaal – aber sei froh, wenn Du von einem Vergnügen zurückkehrst, wobei nur die Füße ihre Rechnung fanden, das Herz aber und der Verstand den Pulsschlag ihres Lebens ganz aussetzten, und das Bewußtsein gleichsam ganz ausgelöscht war.[10]Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Würzburg, den 10. (und 11.) Oktober 1800.

Gerüchte kommen Kleist zu Ohren, brodelnde, oft über lange Umwege, aber sie versagen nicht, ihn zu erreichen und aus dem ohnehin fragilen Gleichgewicht zu bringen. In Würzburg nicht, wo er stationiert ist, in Koblenz, Leipzig, Berlin, Dresden, Reichenbach, wo er geheimen Geschäften nachgeht, auch in Bayreuth nicht, über das ihn seine aus den Briefen herauszulesende Flucht vor der Bürgerlichkeit führt, schließlich auch in „Pasewalk. Pasewalk? Ja, Pasewalk, Pasewalk.“[11]Kleist an Wilhelmine von Zenge am 16. September 1800.

Und Kleist lügt, belügt sie, nein: er sucht die Sache zu ‚deeskalieren‘, die eine wie die andere, zumal aber diejenige, die ihn zutiefst anrührt und umtreibt, wie um sich selbst zu beruhigen, dass sie ihm treu bleiben, sich in seiner Abwesenheit keinen anderen Mann suchen wird – fidèle, so der in dringlichem Französisch gehaltene, an die schon als „Frau von Kleist“ und Mutter seiner vielen Kinder Angesprochene gerichtete absolute Imperativ.

Liebe Wilhelmine, ich will nicht, daß Du aufhören sollst, Dich zu putzen, oder in frohe Gesellschaften zu gehen, oder zu tanzen…[12]Kleist an Wilhelmine von Zenge am 10. und 11. Oktober 1800.

„…aber das Schönpflästerchen verbiete ich Dir“, unterstelle ich dem Autor eigenmächtig jetzt einen nie aufgeschriebenen Halbsatz. Denn dieses winzige Schönpflästerchen ist ihm, wie die prominente Textstelle im Räthsel verrät, ein Dorn im Auge. Dabei steht diese längst nicht nur auf französischen Soirées der Zeit von Frauenzimmern gern getragene mouche (manchmal Pockennarbencamouflage) nicht so sehr für Wilhelmines Eitelkeit und fröhliche Soziabilität in oft vornehmer aristokratischer Gesellschaft, wie für ihre Unentschlossenheit ihm gegenüber – Kleist, der die totale Hingabe von ihr fordert, ja erwartet, weshalb er keinen einzigen Briefausfall (und sei er auch der Post und nicht einem Versäumnis ihrerseits geschuldet) zu tolerieren imstande ist. Gerade dies Pflästerchen scheint ihm daher aller Laster Anfang zu sein. Doch trotz des Bittens und Flehens, trotz all seiner Versuche, zu ihr vor- und in ihr Gewissen einzudringen, scheitert er: Wilhelmine hört nicht auf ihren physisch so selten anwesenden, dabei immerzu nur mahnenden Verlobten.

Ob es sich im Räthsel tatsächlich um ein intimes und zugleich bitter-humoriges Schlüsselstück handelt oder nicht – die Nähe des Textes zur historischen Realität wirkt aufgrund der brieflichen Belege ebenso unbestreitbar wie sie der auszubreitenden Deutung hinsichtlich irrelevant und, weil irreführend, womöglich sogar abträglich ist. Denn nicht nah am Leben und der biographischen Überlieferung soll hier interpretiert werden, sondern entlang des symbolisch-metaphorischen Gehaltes eines Textes, der deutlich mehr zu bieten hat als auf diesen ersten Blick zu vermuten. Mithilfe von Kleists Räthsel können wir uns hier dem Thema der Polylingualität in der Übersetzung nähern und – die Textanlage frei und über Bande, da per Übertragung, ausfabulierend – gleichsam der Tatsache, dass uns diese in translatorischen Prozessen immer entgleitet, entgleiten muss.

*

Nehmen wir einmal an, das Zusammentreffen der Stiftsdame mit dem jungen Juristen sei dem Treffen der einen Sprache auf eine andere gleichzusetzen, öffnet sich eine Tür im Text, die a priori vielleicht nicht in ihm angelegt war, aber als Falltür in eine subtextuelle Dimension führt, die sich in sinnbildlicher Hinsicht für eine theoretisierende Lektüre des Übersetzungsvorganges fruchtbar machen lässt. Zudem eröffnet der Titel angesichts der niemals nachgelieferten Lösung die Perspektive auf aller Art Spekulationen – Rechtfertigung genug, die Anekdote probeweise aus einem metaphorischen Winkel anzuleuchten, der sich nicht unmittelbar aufdrängt.

Da sitzen sich also im Kreis einer nicht näher bestimmten, allerdings gewiss größeren und interessanten Gesellschaft eine schöne Dame und ein junger Mann gegenüber. Einander unbekannt, haben sie sich zuvor nie gesehen. Das etwas naive, da noch junge Polnisch – hier mehr oder minder willkürlich gewählt für „die Ausgangssprache“ – auf der einen Seite, im religiösen Stift zwar streng geführt und zu nönnischer Disziplin angehalten, zum Rendezvous jedoch überaus kokett, und auf der anderen Seite das gelehrte, wiewohl nicht viel ältere Deutsch – hier als „die Zielsprache“ eingesetzt. Die beiden betrachten einander zunächst aus der sicheren Entfernung; als säßen sie sich auf unterschiedlichen Canapés leicht versetzt, aber nicht exakt vis-à-vis gegenüber. Dabei werden sie andauernd durch die Bewegung von auf Kante gebügelten Hosenbeinen, knirschligen Atlasfalten und wippelnd vorbeischwebenden Kokarden in ihrer Betrachtung des Gegenübers gestört, indes momenthaft der ohnehin scheue Blickkontakt ganz abzubrechen droht. Verstellte Sicht bei romantischer Ahnung. Zeitweise schiebt sich anderer Sprachversatz vor das Auge und verflackert kurzfristig im Blick. Malaise. Suchen, Sondieren, Ausschauhalten. Sitzt er da noch?, fragt sie sich. Und er: Ist sie bereits auf dem Sprung? Dazwischen wieder Falten, Hosen, Geraschel. Dann erneut Sparren und jetzt sogar eine großzügige Eröffnung der ersehnten Fluchtlinie, für einen Augenblick frei von ungebetenen Kreuzungen. Das Hinüberschielen und Sich-Wiegen im Lächeln: Das, glaube ich beim Zuschauen sofort, geht ins Auge.

Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen, mit allen Deinen Hoffnungen und Wünschen und Aussichten.[13]Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Pasewalk, 20. August 1800.

Und schon schaut er in ihr hübsches Gedicht, und sie, beim Blicketausch plötzlich rotwangig, fühlt sich inmitten der Sonntagsgesellschaft seinem Syntaxappeal ausgeliefert. Und dies trotz seiner angesteift-nerdigen, fast noch ein wenig „grünen“, schier naseweißen Worthaltung. Ale przystojny – mit seiner consequenztalentierten langsamen Grammatik, das Verb vornehmlich hinten. Aber wie mager dieser sprachliche Springinsfeld doch ist! Denn diese deutschsprachige Übersetzung-to-be, in die sich der junge Jurist des Räthsels unter meinen lesenden Augen nun verwandelt, weiß ja noch nichts von seinem Schicksal. Er ahnt nicht, dass er Empfänger einer Übersetzung sein wird, deren (stets vorläufige) allen sichtbare Spur er bald an sich trägt. Die beiden Schönen sind ja bisher bloßes Potenzial, pures (Sprach-)Potenzial, allein im Zusammenklang umzusetzen. Sie stehen an diesem Punkt der Handlung noch unerkannt in keinerlei explizitem Verhältnis zueinander. Ihn kann es ohne sie naturgemäß jedoch gar nicht geben. Denn wäre nicht sie im Raum, hätte er sich längst der allgemeinen Bewegung angeschlossen und umgehend entfernt, stünde schmauchend (wohl der Mode nach vapierend) mit den anderen Herrschaften draußen. Doch dazu wirkt sie allzu bezaubernd und hält ihn fest am Platz; allzu rätselhaft, wie das Stück, das sie vorstellt, auch sie. Und wie elegant sie doch Fessel und Verse enjambiert, kreuzgejambt in ihrer spitzenen Schönstsprache. So aufgestilt, metrum(pf)t sie mit ihrer feschen Mouche im Gesicht auf.

Solcherart etwa ist das vom Rest der Halbwelt unbemerkte Funken, die große Anziehung. Und es kündigt sich ein Umziehen der Gesellschaft an; Schwaden wallen heiter plaudernd unter Lachsalven nach nebenan. Endlich: freie Sicht. Indes anzugs vorzüglich die rasche Hoffnung, dass blitzartig etwas geschehen möge, stracks vor der Rückkunft des Kommandanten(-vaters) – denn billigte er’s? – und jenseits aller Augen. Oder vielmehr: nur unter den höchstintimen vier.

Gehe in frohe Gesellschaften, aber suche Dir immer den Bessern, Edleren heraus, den, von dem Du etwas lernen kannst.[14]Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Pasewalk, 20. August 1800.

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Wer zuerst zu wem herüberrutschte, wer sich zuerst auf wen stürzte, wer wen oder umgekehrt: wen wer zuerst an sich (oder gar mit grober Liebesgewalt zu Boden) riss, ist nicht überliefert – das Polnische das Deutsche oder das Deutsche das Polnische? Die Ausgangssprache die Zielsprache oder andersherum? Das Gedicht seinen Übersetzer oder der Übersetzer das Gedicht? Aber: Ist genuine Anziehung nicht etwas Wechselseitiges? Doch wie kommt denn, befrage ich das Räthsel jetzt wie ein Orakel und stelle die tausendfach bereits gestellte Frage auch hier, wie kommt ein Text eigentlich und überhaupt zu seiner Übersetzung? – Tja, scheint das Räthsel zu seufzen und bleibt daraufhin entschlossen offen und für immer eine definitive Antwort schuldig. Die Frage nach dem Wie ist ja nicht umsonst das Ausgesparte der Geschichte. Sie selbst ist das Rätsel, das vermeintlich unergründliche, im Titel. Schließlich hat niemand zugesehen, wie der Liebestausch vonstattenging. Und hätte jemand zugesehen, zusehen können, ein Dritter, eine Dritte, wäre zwischen zweien nichts passiert. Solange sich nämlich Gesellschaft im Raum befand, waren jedwedes Anbandeln, jegliche Handlung unmöglich. Möglich ja nur unter Ausschluss der Augen. Außerdem nicht auszudenken, denn kein Mensch wußte, daß sie mit einander in Verhältnis standen. (Hätte man sie überhaupt alleine gelassen?) … ein Zufall … Es heißt: Es fand sich. Ja: Es fanden sich einander zwei. Suchten nicht, wurden gefunden.
Ein Resultat, ein klares, jenes geheimen Verkehrs jenseits der Blicke, gibt es auch, ohne dass man sagen könnte, wie es zustande gekommen ist, da scheinbar nicht herzuleiten. Fest steht nur, dass es sich fand. Und dass im Zuge dieses „Es fand sich“, des Findens und Gefundenwerdens und -seins ein modisches Schönpflästerchen sich erst rechts, dann links im Gesicht einfand; des Anderen. Hinübergeflogen dorthin ist es freilich nicht. Und diese mouche, dieser unscheinbare kleistrige Aufsatz, klebt nun spiegelverkehrt über der Lippe des Deutschen. Übertragen, übersetzt, in einem Akt sinnlicher Kontamination von der einen Sprache in die andere, vom Original in ein es Begehrendes, das es sich mit Lust anzueignen trachtete – vollzugs noch ohne Worte, aber wie?

Genau darüber wundern sich die Leute, die Zurückgekehrten, und rätseln im Pulk. Was im Stillen in absentia der Menge nämlich insgeheim zwischen zweien passierte, so flink und stumm, bleibt auch jetzt noch unausgesprochen. Niemand wagt eine laute Bemerkung. Aber alle sehen, con ciglie inarcate, auf etwas, und sie starren gebannt auf dieses Selbe. Unter regem Blickeverkehr der Gesellschaftsaugen, der Kommandantenaugen mit den Augen der überall Herumstehenden, deren Lachen plötzlich versiegte, klebt jetzt dies künstliche Ding, schwarz wie Tinte, an fremdem Ort. An eigentlich unzugänglichem. Gegenüber. Ein Raunen, Genuschel darüber, Geläster. – Aber, aber, meine Damen und Herren, was ihn jetzt schönpflästert, constatez!, es steht ihm doch vortrefflich gut zu Gedicht!

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Natürlich lässt sich das Latente dieser hochgradig erotisch aufgeladenen Eifersuchtsphantasie des Räthsels, sein insinuiertes Geschehen jenseits der Augen der Welt leichterhand wie leichterzung aus der gemeinen Welterfahrung ableiten: dass es ein peau-à-peau gegeben haben muss, ein spontanes joue-à-joue und plötzliches bouche-à-bouche, ein intensives, invasives jeu-à-jeu und Zungenspiel der języki – der Sprachen, bekanntlich nicht nur im Polnischen zugleich „Zungen“ –­, in dessen Folge die Zierde mir nichts, dir nichts übersetzte… Das, meine ich, ist genuine Polylingualität innerhalb (und, des Mals eingedenk, unterhalb) einer jeden Übersetzung, die in ihrem Entstehungsprozess allen anderen noch unsichtbar und im Nachhinein stets rätselhaft ist, da diskret vollzogen und niemals auf der Bühne bei voller Beleuchtung (auch: voller Bedeutung), sofern „poly-“ beziehungsweise „multi-“ denn gleich jenseits der Eins beginnen, wo im Zuge aller Art vergleichbar rätselhaften Überkreuzzüngelns auch die eine oder andere Geschichte beginnt. Ein jedes Äugeln ist allerdings – Vorsicht! – auch risikobehaftet: Denn setzt ein Schönpfästerchen über, zeigt sich das wahre Gesicht.

Mouchierter Kleist.

References
01 Clemens Brentano über Kleist, in: Brandenburger Kleist-Blätter II [BKB] (zur Brandenburger Kleist-Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle). Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 376.
02 Vgl. ebd., S. 388 u. S. 392. Wilhelm Grimm beschäftigt sich seinerzeit mit den Rätseln aus der von ihm zur Gänze übersetzten Hervararsaga.
03 Vgl. dazu auch Michael Gamper: „Rätsel kurz erzählen. Der Fall Kleist.“ In: Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.): Kurz & knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript 2017, S. 91–117.
04 Vgl. diese stete Hinzufügung des Verlegers in den Berliner Abendblättern [BAb].
05 Wilhelm Grimm über die BAb an Paul Wigand, BKB, a.a.O., S. 3.
06 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke (Brandenburger Ausgabe), Bd. II/7, hg.v. Roland Reuß und Peter Staengle. Basel und Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 146. Beide Schreibweisen finden sich zeitgleich im erstgedruckten Text: „Doktor“ und „Doctor“.
07 Kleist an Wilhelmine von Zenge, Frankfurt a. d. Oder, Anfang 1800.
08 Aus einer Zeile von Reinhard Priessnitz‘ Gedicht „die ermüdete nacht“, in: vierundvierzig gedichte. Linz: Edition Neue Texte 1978.
09 Du wirst genug leiden durch Deine Reue“, verspricht Heinrich von Kleist Wilhelmine von Zenge im Brief aus Würzburg vom 19. (–23.) September 1800.
10 Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Würzburg, den 10. (und 11.) Oktober 1800.
11 Kleist an Wilhelmine von Zenge am 16. September 1800.
12 Kleist an Wilhelmine von Zenge am 10. und 11. Oktober 1800.
13, 14 Kleist an Wilhelmine von Zenge aus Pasewalk, 20. August 1800.