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Veröffentlicht am 16.11.23

Original

Die Übersetzung definiert sich immer im Bezug auf einen bereits existierenden Text, der als das Original bezeichnet wird. Dem Original wird gemeinhin ein Status zugesprochen, der höherranging, wertvoller, authentischer sein soll als der der Übersetzung.  Doch auch das Original bestimmt sich in Bezug auf ein Gegenüber – Fälschung, Kopie, Imitat  – und mit Benjamin sei festgestellt, dass das literarische “Original” überhaupt erst durch die Übersetzung zu einem solchen wird. [1]

Das Original verdankt seinen Status der Tatsache, dass es aus einem Schaffensimpuls erwachsen ist, der aus dem Nichts etwas entstehen lässt und dadurch der Urgeste der Schöpfung nachempfunden ist, bei der “die Dinge ihre Namen wussten”, wie es bei Benjamin in dem bereits zitierten Essay heißt. In einem literarischen Text wird das Material Sprache von dem/der Autor*in einer Vision und keinem Vorbild folgend auf eine noch nie dagewesene Weise geformt. Die Übersetzung hingegen kann nie einer Vision folgen, weil sie sich notwendigerweise am bestehenden Text orientiert, es gibt keine Übersetzung ohne den einzigartig gestalteten Text in der Originalsprache, dessen Version sie in der neuen Sprache wird. Solange das Was eines Textes im Vordergrund steht, erfüllt die Übersetzung eine Funktion, wie sie mit Kunst und erst recht mit einem Originalitätsanspruch nicht vereinbar ist: sie dient der Vermittlung eines im Original von der/dem Autor*in gestalteten Inhalt. Doch sieht man einmal vom Was des Dargestellten und jeder Vermittlungsfunktion – also keine Brücke! – ab und konzentriert sich nur auf das Wie, welches ja das Wesentliche in jeder Kunst ist, wird man auch der Übersetzung eine Einzigartigkeit zugestehen müssen, die sie im Umgang mit dem Material Sprache zu einem Original macht. Eine Übersetzung, die nicht bloß aus einem Wunsch nach oder einem Auftrag zur Inhaltsvermittlung entstanden ist, ist das Ergebnis einer Texterfassung, die auf ein weit über die Verständigungskonvention hinausgehendes Begreifen des Gemeinten ausgerichtet ist. Diese Art der Übersetzung ist weder andersfarbige Kopie noch Interpretation noch Imitation, denn sie steht in einem Spannungsverhältnis zum Original, das sich in der Eigenheit und Eigenwilligkeit der Sprache eines jeden Übersetzenden artikuliert. Sprache ist subjektiv. Wörter, Worte sind affektiv besetzt und mit ganz persönlichen Assoziationen behaftet, das gilt sowohl für die Wahrnehmung der Worte des Originals als auch für die eigene Wahl der Worte in der Übersetzung. Die Schmalspur der gegen Einspruch gefeiten Unmissverständlichkeit eignet sich für die Dichtung genausowenig wie für deren Übersetzung. Sprache braucht Spielraum, um sich als Material in der Kunst zu behaupten, und dieser Spielraum wird von jeder/jedem Sprachkünstler*in auf eigene Weise ausgelotet und genutzt. Auch die Übersetzung kommt nicht aus ohne Intuition, ohne ein Gespür, das über das reine Inhaltsverständnis hinausgeht, weil dichterische Sprache nie eindeutig daherkommt und von den unvorhersehbaren und unvorhersagbaren Unterschieden der Nähe zwischen Ding und Namen lebt, sie ist eigen und gehört einer Stimme an, die nicht nur ihr Echo, sondern auch einen neuen Klang in der Übersetzung sucht. Die ganz persönliche und damit auch – im Hinblick auf die eigenen sprachlichen Mittel – radikale Auseinandersetzung mit der Textur einer bestehenden Dichtung in der Übersetzung verhilft dem konventionell als Original bezeichneten Text zu einer weiteren Bedeutungsebene in der neuen Sprache. 

Übersetzer*innen wird schon lange Urheberschaft zugestanden, und auch wenn das Verhältnis Vision-Version bestehen bleibt, erübrigt sich die Dichotomie “Original und Übersetzung”, weil eben auch letztere durch ihre Einzigartigkeit als Original gelten kann.


[1] Walter Benjamin, die Aufgabe des Übersetzers, in: Gesammelte Schriften Bd. IV/1, S. 9-21. Frankfurt/Main 1972.