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Veröffentlicht am 26.12.21

Variation

Variation [1]

Eine Übersetzung wiederholt das Original. Stimmt das überhaupt? Heißt »nach dem Original«, dass dessen Eigenheiten und Nuancen in der Zielsprache Rechnung getragen wird? Hält die Übersetzung gegenüber dem Original mit anderen Worten die Treue, wenn in großer Zahl Varianten ausprobiert und verworfen werden auf der Suche nach einem Text, der dem Original am ehesten entspricht? Stimmt es überhaupt, dass am Ende die eine Variante unter anderen das Original am deutlichsten reproduziert? Inwieweit legt diese eine Übersetzung ihr Original angemessener aus als die anderen, verworfenen Varianten? Wie kann eine Übersetzung ein Original wiederholen, wenn keine zwei Sprachen identisch sind? Muss auf eine treue Übersetzung geachtet werden und werden Übersetzer derselben Sprache dasselbe Original auf dieselbe Weise übersetzen? Wann darf auf Originaltreue verzichtet werden? Könnte die Wirkung eines Texts auf einen selbst in der eigenen Zielsprache eigentliche Aufgabe des Übersetzens sein? Wenn ein Text so dominante Eigenschaften aufweist, dass er sozusagen nicht übersetzt, sondern nachvollzogen werden möchte, was dann? Werden seine stilistischen und formalen Eigenheiten in der Zielsprache reproduziert, wann gibt die Übersetzung das Original noch wieder oder ist bereits ein neuer Text? Versuche etwas mit dem Original, indem Du es übersetzt: mit den Dir zur Verfügung stehenden Mitteln, mit den Mitteln, auf die Du im Zuge des Übersetzens kommst. Welche Rolle spielen Deine bzw. meine Zeit, Ort und Herkunft für die Übersetzung des Originals? Ist es wichtig, welches Geschlecht Original und Übersetzung in ihrer jeweiligen Sprache haben? Tappe im Dunkeln und suche Anhaltspunkte, folge unterschiedlichen Fragen, bis Du Deine Übersetzung mit dem zu übersetzenden Text besser zu verstehen beginnst. Du und das Original, beugt Euch über den Text und spielt verschiedene Möglichkeiten durch. Probiere es mit jedem beliebigen Textteil. Übersetze, indem Du Wort für Wort und Satz für Satz übersetzt in die Sprache aus der oder in die Du übersetzt. Übersetze den Text männlich, weiblich, divers. Übersetze, indem Du dem Text vehement widersprichst, ihm frenetisch zustimmst, ihm gegenüber gleichgültig bist. Übersetze nach Spielregeln, folge etwa seinem Rhythmus oder halte die Abfolge seiner Vokale ein. Finde seine Reime, übersetze ihn als Sonettenkranz oder Palindrom (ein Teil des Textes ist als Palindrom geschrieben). Du wirst sehen: Das alles ist Variation.
24.10.2021

Variation [2]

Dante Alighieri soll den Rosenroman von Guillaume de Lorris und Jean de Meung, statt in paarweise gereimten Achtsilbern, übersetzt haben in Sonetten. Jorge Luis Borges ließ seinen Pierre Menard den Don Quijote Wort für Wort neu schreiben, ohne eine einzige Stelle des Originals zu ändern. Ezra Pound übertrug mithilfe Ernest Fenollosas Notizen chinesische Gedichte und brauchte davon manchmal zwei für eine englische Übersetzung. Achim Wagner wählte zentrale Stellen aus dem Gedicht eines türkischen Dichters und kombinierte sie in einer Textcollage solange, bis daraus in den Grenzen der vorgefundenen Poetik ein neues Gedicht entstand, das der nachgedichtete Autor quasi selbst geschrieben hat. Der kanadische Dichter bpNichol las ein Gedicht Guillaume Apollinaires und übersetzte es im Abstand von Tagen mehrmals aus dem Gedächtnis. Anne Carson übersetzte Fragmente des vergessenen antiken Dichters Stesichorus und rekonstruierte daraus ihre »Autobiography of Red«. James Macpherson hat das altgälische Epos Ossian gar aus seiner Phantasie übersetzt. Meret Oppenheim variierte Zeilen und sogar die Namen von Hans Arp, Henri Michaux und anderen in Anagramm-Gedichten. Trobadore wie Arnaut Daniel paraphrasierten ganze Ovid-Passagen und nutzten sie für eigene Zwecke. Shakespeare wurde so oft variiert, dass er mit sich verwechselt werden könnte. Fernando Pessoa variierte sich selbst in Heteronymen, die miteinander im Streit lagen. Der US-Dichter Kent Johnson gab Gedichte des Hiroshimaüberlebenden Araki Yasusada heraus, die eine Debatte über literarische Fälschungen anstießen. Thomas Chatterton hingegen erfand einen dichtenden Mönch aus dem 15. Jahrhundert. Jack Spicer übersetzte mit seinem Freund Federico dessen bislang unbekannte Gedichte für »After Lorca«. Jerome Rothenberg wählte Substantive und Verben aus eigenen Lorca-Übersetzungen, um seine »Lorca-Variations« zu schreiben. Louis Zukofsky schrieb Verse auf Englisch, die annähernd klangen wie Catulls Verse auf Latein. Ernst Jandl übersetzte Gedichte Wordsworths, indem er deutsch klingende Worte des englischen Originals aufschrieb. Man nennt beides homophone Übersetzung. Mit phonetisch und orthographisch sich ähnelnden, doch semantisch unterscheidenden Worten, »Falschen Freunden«, die eine assoziative, mehrsprachige Vielfalt aufdecken, arbeitet Uljana Wolf. Charles Bernstein versteht Übersetzen als Weiter- und Umschreiben, Wreading sagt er dazu. Als lesendes Schreiben bzw. schreibendes Lesen lässt sich auch die Arbeit des Übersetzerkollektivs Versatorium verstehen, das etwa Texte Bernsteins in vielen spielerischen Varianten ins Deutsche gebracht hat. Ähnlich sprachverspielt hat Oskar Pastior Baudelaires »Harmonie du soir« aufgefächert in »43 intonationen«. Mathias Traxler übersetzte Álvaro Seiças portugiesische Gedichte, mal mit einem Französisch-Wörterbuch, mal mit Vergils Aeneis und einem Aufnahmegerät, in Musikstücke und Sprechpartituren. Christian Hawkey ließ Trakl-Gedichte in mit Regenwasser gefüllten Einmachgläsern verrotten, um sie danach zu übersetzen. Emmanuel Hocquard machte Übersetzungen von Michael Palmers »Sun«, die dieser wiederum in Gedichte übersetzte, die Hocquard nun erneut zu übersetzen an der Reihe wäre, würde er noch leben. Doch das muss nichts heißen. William Butler Yeats hörte auf Stimmen, die seine Frau als Medium kontaktierte, und übersetzte ihre Äußerungen in Gedichte. James Merrill und sein Mann benutzten für eine ähnliche Korrespondenz mit den Toten ein Ouija-Board. Auch, wenn es manchmal nicht aussieht danach, die Freiheit der Übersetzer ist grenzenlos.
24.10.2021