Verlust
Wer sich erstmals daran macht, einen fremdsprachigen Text, zumal ein Gedicht, in die eigene Muttersprache zu übertragen, wird grübeln, sich zahlreiche Fragen stellen müssen, mag Freude empfinden im Wechsel mit Ratlosigkeit, wird vor allem jedoch die Erfahrung machen, dass unweigerlich etwas verloren geht bei dem stets rätselhaften und stets anregenden Transfer von einer Sprache in die andere. Wie auch könnte es anders sein? Mit dem Verlust beginnt es also, der Verlust ist sozusagen die Geschäftsgrundlage, ist die frisch aufgezogene Leinwand, auf der nun zu arbeiten sein wird, und wie so oft ist es Michael Hamburger, der diese Tatsache am präzisesten formuliert hat: „Da er“, so Hamburger in seinem Essay Erfahrungen eines Übersetzers, da der Übersetzer also „etwas Unmögliches anstrebt, weiß er von Anfang an, dass er nicht alles wiedergeben, keine Reproduktion schaffen kann. Aus dem unmöglichen Unternehmen muß er eine Kunst des Möglichen machen; dazu gehört die Wahl, eine instinktive Wahl, zwischen dem einen und dem anderen Verlust.“[01]Michael Hamburger, Literarische Erfahrungen, Luchterhand 1981
Soll man jedoch das Reimschema opfern, nur um die elegante Syntax des Originals nicht zu gefährden? Darf man in einer Passage auf die musikalische Lautfolge verzichten und stattdessen anderswo ihr Echo anklingen lassen? Wie gewichtet man einen Verlust, wie wägt man ihn ab, wiegt man ihn auf? Manchmal, es ist wahr, wird es gelingen, alle formalen Eigen- und Schönheiten eines Originals auch in der Übertragung zu berücksichtigen. Dass aber Treue beim literarischen Übersetzen und insbesondere beim Übersetzen von Lyrik nicht unbedingt Treue in lexikalischer Hinsicht bedeuten muss, wird nicht zuletzt bei Idiomen und Wortspielen deutlich, wo der Verlust an Witz, Sinn, Bildhaftigkeit oft besonders augenfällig ist. Die sehr britische Wendung „to carry coals to Newcastle“ beispielsweise hat, wie jedes Wörterbuch verraten wird, eine deutsche Entsprechung: „Eulen nach Athen tragen“. Aber was, wenn ein englisches Gedicht nicht nur den Sinn jener Wendung, sondern auch ihr Bildmaterial nutzt, also Kohlenmetaphern variiert, auf lokale Besonderheiten Newcastles anspielt? Wählt man den Kolkraben statt der Eule? Ruft man den Ruhrpott an? Oder umgekehrt: Sollte ein deutsches Gedicht, die bekannte Formulierung nutzend und auf ihr aufbauend, mit der sagenhaften Weisheit der Eulen oder dem antiken Scherbengericht spielen – in welche Lösungen flüchtet sich der geplagte englische Übersetzer?
Dabei beruht ja das Vergnügen des lyrischen Übersetzens gerade auf dem Verlust, das schöne Spiel, das in Gang kommt, sobald man ein Gedicht zu übersetzen sich anschickt, bezieht seinen Reiz durch das gekonnte Ausbalancieren des Verlusts. Herrlicherweise ist das Deutsche eine Sprache, welche in das Wort „Verlust“ sogleich die „Lust“ einschmuggelt, ein Wink und eine Wahrheit, die es so weder im Englischen (loss), im Italienischen (perdita), im Französischen (perte) noch anderswo gibt. Gewiss, es ist ein schmaler Grat zwischen Treue (die trotz allem möglich ist) und Verzicht (der unabwendbar ist), und ja, Robert Frosts Diktum, Poesie sei eben das, was beim Übersetzen verloren gehe, ist berühmt. Aber viel zu selten wird doch betont, dass im Übersetzen stets auch ein Gewinn enthalten ist, nicht nur weil es mit verblüffender Regelmäßigkeit gelingt, auf jenem schmalen Grat zu balancieren; viel zu selten erfährt man, dass die Verluste nicht nur in Gewinne umgemünzt werden können, sondern die Gewinne die Verluste mitunter übertreffen. Schließlich fügt die Sprache, in welche übersetzt wird, dem Originaltext ja all die grammatischen, syntaktischen, lexikalischen und phonetischen Aspekte hinzu, die dem Originaldichter nicht zur Verfügung standen, die aber durchaus im Geiste des Originals gewesen wären und es nach wie vor sind, all die zielsprachlichen Besonderheiten also, die der Originaldichter ohne jeden Zweifel genutzt hätte, wäre seine Sprache die unsere. Sie ist es nicht, und so wird die Ausgangssprache erst mit der Übersetzung durch all die Möglichkeiten erweitert, die nur der Zielsprache zu eigen sind.
„As it happens“, sagte David, der Lyriker aus Washington, als wir über die Zeilen eines deutschen Gedichts nachdachten, in denen das Funkeln der großen japanischen Goldfische im Teich mit den Münzen verglichen wird, die der Abschiednehmende, um beim Schicksal eine Rückkehr an den geliebten Ort zu erwirken, über die Schulter in den Brunnen schnippt und die nun am Grund des Beckens schimmern und funkeln, „wie es der Zufall will“, sagte also David, „ist das englische Wort für Münze „coin“, das, wie man hört, unseren Fisch, also den Koi, bereits lautlich in sich trägt, mit anderen Worten: die ganze Metapher ist eigentlich schon in der Übertragung eines einzigen Wortes enthalten, knapper geht es eigentlich nicht, oder?“ Und wirklich: Welch ein Gewinn, und welch eine Lust.
↑01 | Michael Hamburger, Literarische Erfahrungen, Luchterhand 1981 |
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