Wen geht das an? Stakeholder im Übersetzungsprozess

Übersetzer sind (in der Regel) selbständig tätig und keine Großunternehmen. Dennoch bewegen auch sie sich in einem Geflecht unterschiedlicher Ansprüche und Loyalitäten und sind mit ihrer Arbeit öffentlich sichtbar. Luis Ruby beschreibt dieses zunehmend komplexe Terrain, macht sich Gedanken über Eigenes und Nicht-Eigenes und über das Potential absichtsloser Offenheit.

Als ein spanischer Freund in den frühen 90er Jahren ein Auslandsjahr in Heidelberg verbrachte, wurde er von deutschen Mitstudenten zum Abendessen eingeladen. Er freute sich, war allerdings ziemlich erstaunt über die Bitte, sein eigenes bistec mitzubringen. Nun gut, dachte er, andere Länder, andere Sitten, ging zum Metzger und kaufte sich ein Steak.

Das Gabler Wirtschaftslexikon Online definiert Stakeholder als „alle Anspruchsgruppen, ohne deren Unterstützung [ein] Unternehmen nicht überlebensfähig wäre“ und deren Interessen (stakes) daher zu berücksichtigen sind. Der Umgang mit dieser Erkenntnis ist wesentlicher Teil der Glaubwürdigkeitsstrategie eines Unternehmens. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Erweiterung der Vorstellung, dass wirtschaftliche Aktivitäten den Zielen der Unternehmenseigner und ihrer Kunden dienen, ohne die Erfolg allenfalls kurzfristig denkbar ist. Davon ausgehend hat sich der Blick zu weiteren Personen und Institutionen geöffnet, die von unternehmerischem Handeln betroffen sein – und es ihrerseits beeinflussen – könnten.

Die Hauptanspruchsträger sind bei einer literarischen Übersetzung der Auftraggeber – in der Regel ein Verlag, der die betreffende Übersetzung veröffentlichen will – sowie der oder die Lizenzgeber, mit annähernd deckungsgleichen Interessen: Veröffentlichung und Erfolg. Wer den zu übersetzenden Text verfasst hat, wird darüber hinausreichende Ansprüche stellen. Für ihn oder sie steht noch anderes auf dem Spiel als die Publikation und deren ökonomische Folgen: In der Regel möchten Autorinnen und Autoren sich darauf verlassen können, dass ihre Texte erstens verstanden und zweitens adäquat in die Zielsprache übertragen werden. Vertrauen, dass dies so ist, kann geschenkt oder erworben werden. Falls die Übersetzung nicht regelrecht überprüft wird, spielt hier der Ruf des Übersetzers eine Rolle, bisher übersetzte Titel, erhaltene Preise et cetera. Zudem kommen Eindrücke aus dem persönlichen Kontakt zum Tragen – als sinnvoll und klug erscheinende Fragen und Bemerkungen, vielleicht auch Sympathie und Affinität.

Woher weiß eine Übersetzerin, was ihrem Autor wichtig ist? Durch persönlichen Austausch, soweit möglich, ansonsten durch öffentliche Äußerungen, etwa in Interviews. Was der Kunde will, ergibt sich hauptsächlich aus dem Dialog mit dem Lektorat. (Lektorinnen und Lektoren könnte man ebenfalls als Stakeholder betrachten; dass sie häufig über die Auftragsvergabe entscheiden und in intensiver gemeinsamer Arbeit ein enger Kontakt entstehen kann, macht sie zu ausgesprochen wichtigen Mitspielern. Ähnliches gilt, mit Unterschieden, für externe Redakteure).

Die oben verwendete Kategorie der Hauptanspruchsträger soll weniger auf eine Rangordnung hinweisen als auf den Umstand, dass die Interessen der erstgenannten Gruppen direkt erschlossen werden können. Auf den erweiterten Kreis der Stakeholder trifft das so nicht zu: Das Publikum einer Publikation ist von vornherein eine offene Menge. Wer tatsächlich liest (und wie), war lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Heute kann ein Unternehmen wie Amazon dank proprietären E-Book-Anwendungen in einem Umfang Lese(r)daten erheben, wie man es sich noch vor ein paar Jahren nicht hätte träumen lassen. Verlage halten sich weiterhin an Umfragen, Marktstudien und Erfahrungswissen (etwa die praktische Kenntnis von Buchhändlerinnen und Verlagsvertretern). Die Literaturwissenschaft wiederum versucht, aus Merkmalen von Texten sogenannte implizite Leser zu erschließen.[01]Nach Wolfgang Iser im gleichnamigen Buch (München: Fink 1972) und anderen Publikationen. Eine knappe pragmatische Darstellung des Konzepts findet … Fußnote lesen

Die Öffentlichkeit als ganze ist noch schwerer dingfest zu machen als das Publikum im engeren Sinne. In Zeiten ’sozialer‘ Medien und zunehmend unscharfer Grenzen zwischen Journalismus und Aktivismus bekommen laute Gruppen oder Einzelpersonen (solche mit Reichweite) eine besondere Relevanz. Einerseits können Bücher, Themen und Sprechweisen – mitsamt den Beteiligten – gepusht oder desavouiert werden. Andererseits wirkt die öffentliche Debatte geschmacks- und identitätsbildend. Auf die Textarbeit wirkt sich das alles in dem Maß aus, in dem es in die Vorstellungen und Sensibilitäten der Lektorate einsickert. Und natürlich in die der Übersetzerinnen und Übersetzer. Die haben freilich noch zwei weitere Quellen von Ansprüchen zu berücksichtigen. Eine davon sind sie selbst, die als Zweiturheber mit ihrem Namen für den übersetzten Text bürgen. Wie sie diesen gestalten, betrifft neben ihrem Ruf auch ihre persönliche Auffassung von Qualität und die übersetzungsästhetischen Positionen, die sie bewusst oder unbewusst vertreten. Und es gibt unweigerlich Antwort auf ethische Fragen. Hierzu sei nur gesagt, dass man Aufträge ablehnen sollte, die einem so sehr gegen den Strich gehen, dass man seine Stimme dafür nicht hergeben will.[02]Die Gründe dafür können sehr verschieden sein und haben unvermeidlich subjektive Anteile, ob es um politische Haltungen geht oder um unerwünschte … Fußnote lesen Nimmt man eine Übersetzung hingegen an, so muss man sich last, but not least vom Text beanspruchen lassen.

Kommen wir zurück zu dem eingangs erwähnten Erasmusstudenten. Der erschien mit seinem Steak und einer Flasche Rioja zu der Einladung und sah, dass die Gastgeber durchaus fürs leibliche Wohl gesorgt hatten. Ihre Studenten-WG hielt lediglich zu wenig Besteck bereit – den falschen Freund des spanischen bistec im Rucksack des erstaunten und integrationswilligen Gasts. Sollte die Übermittlung dieser Anekdote halbwegs funktioniert haben, so verdankt sich das einem Glücksfall: Die iberische Vokabel, die man mit germanischem Esswerkzeug verwechseln konnte, ist ebenso ein Lehnwort wie das deutsche Steak und daher hoffentlich verständlich. Solches Glück hat man nicht immer. An seine Grenzen stößt das Übersetzen bei Klang und Wörtlichkeit, mit einem Wort: bei der Identität. Die eine Sprache ist nicht die andere, eine Übersetzung ist nicht der Originaltext. Natürlich schmerzt es, wenn dem Starkregen, der vom Englischen ins Deutsche fällt, unterwegs Katzen und Hunde abhanden kommen. Oder wenn deutsche Hostien im Tabernakel bleiben und keines von beidem sich zum Fluchen eignet – im Unterschied zum tabernac des Quebecer Französischen wie auch zur spanischen hostia, die außerdem ‚eine aufs Maul‘ sein kann (und vieles mehr). Schauen wir allerdings dem hiesigen Volk aufs Maul, finden wir reichlich Mittel, die uns das Original nicht anbietet: unsere eigene Farbigkeit, den eigenen Klang, das eigene Schillern zwischen Wörtlichkeit und sich öffnenden Räumen in der Sprache. Und selbstverständlich auch eigene Möglichkeiten in der Wortbildung und im Satzbau.

Was im Original steht, ist verbindlich. Freiheit bietet und erfordert der Umgang mit der eigenen Sprache, eine gestaltende Arbeit, die nicht ideologischer, sondern handwerklicher Natur ist. Diversität erweist sich dabei als eine Frage der Vielfalt und Handhabung der Mittel, also der Kunstfertigkeit. Die Hand des Übersetzers kann nicht auf dieselben sprachlichen Instrumente zurückgreifen wie die seiner Autorin. Er verschafft sich je nach Situation (im Laufe seines Werdegangs auch kumulativ) die Möglichkeiten dazu, ihr etwas gleichzutun.[03]Was dieses „Etwas “ ist, lässt sich von Fall zu Fall (wie auch in der Theorie) ausgiebig diskutieren. Was „gleich“ ist, … Fußnote lesen Wer lernt, geeignetes Werkzeug zu wählen und zu gebrauchen, kann beim Übersetzen alle sein. Hingegen ist es dem Übersetzen wesensfremd, eigene Wünsche über das Original zu stellen – oder die Wünsche Dritter, aus Opportunismus oder einseitiger Loyalität. Wenn der Originaltext woke Sprachgepflogenheiten abbildet (ob einvernehmlich, beschreibend oder parodistisch), wird man sich der einschlägigen Mittel ebenso versichern wie in anderen Fällen der Terminologie des Baseballspiels oder der Küstenfischerei. Bernardine Evaristos Mädchen Frau etc.[04]Aus dem Englischen von Tanja Handels, Stuttgart: Tropen 2021. erfordert eine entsprechende Sensibilität und Kenntnis, womöglich auch die Unterstützung durch Sensitivity Reader. Bei Huckleberry Finn[05]Siehe etwa Andreas Nohls Notiz „Zur Übersetzung“ sowie seine Anmerkungen und sein Nachwort zu Mark Twain, Tom Sawyer & Huckleberry … Fußnote lesen sieht es anders aus: Aktuelle Haltungen und Anmerkungen zu Eigenheiten ferner Texte gehören ins paratextuelle Umfeld und obliegen darüber hinaus der Rezeption.[06]Verschiedene Positionen zu dieser Thematik (des Übersetzens) wurden in den letzten Jahren ausgiebig diskutiert. Einen kurzen Überblick bietet etwa … Fußnote lesen

Zum Abschluss möchte ich das Dilemma nochmals in literarischen Begriffen fassen: Stakeholder sind Kontext. Einer prägnanten Aussage Jonathan Cullers zufolge ist Bedeutung kontextgebunden,[07]„Meaning is context-bound, but context is boundless“: Culler, On deconstruction, Kapitel 2.2 (Ithaca (NY): Cornell University Press 1982, … Fußnote lesen dieser aber ist ungebunden und nimmt kein Ende; oder die hinzukommenden Mitspieler nehmen keines an.

Spätestens wenn eine Übersetzung ihrer Deadline entgegengeht, wird es also Zeit, Interessen zu gewichten. Bedeutende Texte – solche, deren Bedeutung sich nicht erschöpft, sondern mit jeder Lektüre aufleben und neu erstehen kann – halten ein Potential bereit, das größer ist als die jeweils an der Übersetzung Interessierten. Um dieses Potential gilt es, sich redlich zu bemühen, ihm Raum zu verschaffen und Horizonte zu öffnen, im Sinne aller potentiellen Leser, die fortan daraus schöpfen können. Der wichtigste Anspruchsträger einer Übersetzung ist der Text an sich. Ihm gegenüber in Form und Inhalt loyal zu bleiben, hält die Fülle der Lektüren offen, das ganze Spektrum zwischen Information, Faszination und Kritik.

References
01 Nach Wolfgang Iser im gleichnamigen Buch (München: Fink 1972) und anderen Publikationen. Eine knappe pragmatische Darstellung des Konzepts findet sich z.B. hier: https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/i:impliziterleser-5807. Einige begriffliche / konzeptuelle Varianten hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Fiktiver_Leser.
02 Die Gründe dafür können sehr verschieden sein und haben unvermeidlich subjektive Anteile, ob es um politische Haltungen geht oder um unerwünschte Inhalte (etwa exzessive Gewaltdarstellung, um nur ein Beispiel zu nennen).
03 Was dieses „Etwas “ ist, lässt sich von Fall zu Fall (wie auch in der Theorie) ausgiebig diskutieren. Was „gleich“ ist, ebenfalls: „Nur ist es leider so, daß wir erstens nicht ohne weiteres angeben können, was es heißt, das selbe zu sagen […] Zweitens wissen wir angesichts eines zu übersetzenden Textes nicht immer, was eigentlich da gesagt werden soll.“ (Umberto Eco, Dasselbe mit anderen Worten, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München: Hanser 2006, S. 9.)
04 Aus dem Englischen von Tanja Handels, Stuttgart: Tropen 2021.
05 Siehe etwa Andreas Nohls Notiz „Zur Übersetzung“ sowie seine Anmerkungen und sein Nachwort zu Mark Twain, Tom Sawyer & Huckleberry Finn (München: dtv 2013).
06 Verschiedene Positionen zu dieser Thematik (des Übersetzens) wurden in den letzten Jahren ausgiebig diskutiert. Einen kurzen Überblick bietet etwa die Zusammenfassung eines Podiumsgesprächs auf der Frankfurter Buchmesse 2019: https://www.sueddeutsche.de/kultur/umgang-mit-unwoertern-wer-spricht-1.4644540.
07 „Meaning is context-bound, but context is boundless“: Culler, On deconstruction, Kapitel 2.2 (Ithaca (NY): Cornell University Press 1982, S. 123).