Die permanente Revision. Notizen zu Anneliese Botonds Übersetzungskunst

Ignacio Morán erweist der Suhrkamp-Lektorin und Übersetzerin vor allem südamerikanischer Literatur Anneliese Botond eine Hommage. Aus im Suhrkamp-Archiv gesichteten Dokumenten destilliert er die Arbeitshaltung und die vielgestaltigen Kompetenzen einer Übersetzerin heraus, die mit jedem neuen Werk und jedem Arbeitsschritt ihre Kunstfertigkeit vermehrte.

Die Dokumente der Übersetzerin Anneliese Botond (1922-2006), die sich im Suhrkamp Archiv in Marbach erhalten haben, wurden nicht im Hinblick auf eine Nachwelt verfasst. Nichts in den erhaltenen Schreibstücken schlägt eine Brücke in die Zukunft, nichts deutet darauf hin, dass andere als die unmittelbar adressierten Personen mitgedacht gewesen seien, dass jenseits der Einzelgespräche Wissen weitergegeben werden sollte.[01]Dieser Essay basiert auf Dokumenten aus dem Suhrkamp Archiv, das sich im DLA Marbach befindet. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Briefe und … Fußnote lesen Vielmehr zeichnen sich die Dokumente – mehrheitlich Briefe – durch eine große Unmittelbarkeit aus, ähnlich wie jene Mumien von Männern und Frauen aus den Wüsten der Anden, die einst erfroren und deren letzte Gebärden durch Salz, Sonne und Kälte für immer konserviert wurden. Die Briefe ihrerseits konservieren Momente, Fragen und Nöte aus Botonds Arbeitsalltag, zunächst als Lektorin im Insel/Suhrkamp Verlag, später dann als freie Übersetzerin. Neben ihrer Dankesrede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis 1984 haben sich keine weiteren Interviews, Aufsätze oder Artikel zum Thema Übersetzen erhalten. Womöglich gab sie alles, was sie darüber wusste, alles, was sie erfuhr und lernte, nur privat weiter, an ihre Autoren und ihre Verlags-Kolleginnen und Kollegen.

Ich begann meine Forschungen in der Hoffnung, im Archiv des Suhrkamp Verlags auf erhellende Anekdoten aus dem deutsch-lateinamerikanischen Kulturaustausch zu stoßen und natürlich: auf unbekannte Briefe der großen lateinamerikanischen Autoren, die Botond übersetzt hat.[02]Siehe den Beitrag von Lydia Schmuck Übersetzung als Dialektik. Anneliese Botond und die lateinamerikanische Literatur: das Beispiel Alejo Carpentier … Fußnote lesen Doch wie so oft bei der Arbeit im Archiv verlor das ursprünglich Gesuchte an Bedeutung angesichts dessen, was ich in ihren Briefen vorfand: eine sehr eigene und eigenwillige übersetzerische Haltung. Anneliese Botond besaß nicht nur eine exquisite literarische Bildung und ein klares literarisches Urteilsvermögen, sondern vor allem auch viel Humor und Ironie, und eine unermüdliche, nicht nachlassende Ernsthaftigkeit. Es ist an der Zeit, ausgehend von der Lektüre der Briefe dieser Übersetzerin eine kleine Hommage zu erweisen.

Jeder Versuch, die übersetzerische Haltung von Anneliese Botond genauer zu betrachten, stößt auf den Enthusiasmus und die Unermüdlichkeit, mit der Botond ihre Übersetzungen von der ersten Lektüre des Originals bis zur Imprimatur begleitete. Geboren als Anneliese Strasser am 1. Juli 1922 im süddeutschen Weilheim studierte sie ab 1941 Romanistik und Germanistik an den Universitäten Würzburg, München und Freiburg. Nach einer einjährigen Unterbrechung, erzwungen durch Tuberkulose, promovierte sie 1947 mit einer Arbeit über das Werk von Giacomo Leopardi. 1949 heiratete sie den Germanisten Joseph Botond, dessen Namen sie annahm und lebenslang trug. Anfang der 1950er Jahre arbeitete sie zunächst am Institut Français in Köln, von wo aus sie 1952 für eine zweite Promotion – über den deutschen Philosophen Johann Fichte – nach Paris ging. Nach einem kurzen Zwischenstopp (1959 bis 1960) in einer Genfer Buchhandlung begann sie am 15. Oktober 1960 als Lektorin beim Frankfurter Insel-Verlag, der 1963 von Suhrkamp übernommen wurde. Dort übersetzte sie u.a. Werke von Michel Foucault und erste lateinamerikanische Autoren. 1967 wurde sie Cheflektorin, doch Ende 1969 verließ sie den Verlag und ging für vier Jahre nach Lateinamerika. Als sie 1974 endgültig nach Deutschland zurückkehrte, zog sie nach Würzburg. Von da an lebte sie vom Übersetzen. Sie arbeitete schnell und präzise, und so erschienen zwischen 1976 und 1991 achtundzwanzig von ihr übersetzte Bücher – die meisten aus dem Spanischen bzw. lateinamerikanischen Spanisch, darunter Werke von Alejo Carpentier, Mario Vargas Llosa, Isabel Allende und Juan Carlos Onetti. Als sie 1984 den Johann-Heinrich-Voß-Preis erhält, widmet sie ihn

allen den Menschen in Lateinamerika …, die mich während meines Aufenthaltes dort aufgenommen und gefördert haben, die mir die Türen aufgeschlossen haben. Daß ich Lateinamerika lieben gelernt habe, verdanke ich vor allem ihnen.[03]https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/johann-heinrich-voss-preis/anneliese-botond/dankrede

In den 1990er Jahren nahm ihre Produktivität deutlich ab und in den letzten Lebensjahren konzentrierte sie ihre Energien auf einen alten persönlichen Wunsch und verfasste eine kritische Studie mit dem Titel Die Wahlverwandschaften: Transformation und Kritik der neuen Héloïse, die 2006 bei Königshausen und Neumann erschien. Botond starb am 3. Dezember 2006 im Alter von 84 Jahren. Viele Jahrzehnte trug sie den Namen Anneliese Botond, nicht französisch, sondern ungarisch ausgesprochen. Von der Kindheit und Jugend, von den ersten Lektüren und von der jungen Literaturstudentin Anneliese Strasser, die am Anfang dieser Übersetzerinnenkarriere steht, wissen wir kaum etwas.

Obwohl Anneliese Botond vor allem durch ihre großartigen Übersetzungen von Alejo Carpentier bekannt wurde, war das erfolgreichste Buch, das sie je übersetzte, La casa de los espíritus (Das Geisterhaus) von Isabel Allende. Der 1982 erstmals auf Spanisch erschienene Roman wurde Botond im Mai 1983 angeboten, und noch im selben Jahr lieferte sie das Manuskript der Übersetzung an den Verlag, der offensichtlich eine junge, noch unerfahrene Lektorin mit der Redaktion betraute. Botond überprüfte die neue Fassung und sandte am 4. Dezember 1983 die ersten Seiten des überarbeiteten Manuskripts zurück – „leider mit ziemlich viel Korrektur“, wie sie schrieb.

Sie machen aus einem galicischen Priester einen galizischen, das heißt, aus einem spanischen einen polnischen… Sie haben da eine Partizipialkonstruktion in einem Nebensatz mit ‚nachdem‘ aufgelöst, aber das ist logisch unsinnig… ‚sondern‘ verlangt eine vorausgehende Negation… Eine Konstruktion wie diese: ‚er hörte auf zu sprechen, sondern schwieg‘, ist grammatikalisch falsch.

Aus den kleinen Randnotizen der Lektorin in diesem Brief geht hervor, dass einzelne Fehler aus dem Manuskript von Anneliese Botond stammten; einer dürfte im Satz entstanden sein, andere waren wohl tatsächlich Lektoratsfehler. Doch dies tut der Richtigkeit der lakonischen Bemerkung, mit der Botond ihren Brief abschließt und die so manchem Übersetzer aus der Seele sprechen dürfte, keinen Abbruch:

Im übrigen ist die Sache die: Der Kritiker, der auf den ersten Seiten eines Buches auf ein paar grobe Deutschfehler stößt, notiert sich: Übersetzer beherrscht nichtmal die Grundregeln des Deutschen, und sein Urteil steht fest. Der Übersetzer muß den Kopf hinhalten, nicht der Lektor. Der Lektor bleibt anonym, der Übersetzer, der keine Aufträge mehr bekommt, kann Steine klopfen. Und unter Umständen ist das Buch ruiniert. Deshalb ist es so wichtig, dass Lektor und Übersetzer zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Natürlich weiß ich, daß Sie wenig Zeit hatten, aber das wäre ein Grund mehr für Zurückhaltung gewesen, nur nach dem Gefühl schnell hingekritzelte Korrekturen bringen nichts.

Am Anfang und am Ende dieses Briefes entschuldigt sich Botond für die Schärfe ihres Tons. Sie wolle nicht pedantisch sein, erklärte sie, aber es sei für die noch unerfahrene Lektorin wichtig, sich bewusst zu sein, auf welch ernste Aufgabe sie sich eingelassen habe: Man habe schließlich das Werk anderer Menschen in seiner Obhut. Botond durchschreitet so im Brief mit eigenen Worten das ganze literarische Feld, das Übersetzer·innen unabhängig von Verleger·innen und Kritiker·innen bewirtschaften, und exponiert die eigene Verletzlichkeit. Die Aufzählung und Korrektur der Fehler ist Verteidigung und Angriff zugleich, eine Vergewisserung des eigenen spezifischen Wissens sowie ein Aufruf zur Professionalität. Doch alles Tun weiß darum, dass es zuvorderst dem je spezifischen einzelnen Werk verpflichtet ist.

Mit den Überarbeitungs- und Korrekturdurchgängen will Anneliese Botond also zweierlei: die Qualität des übersetzten Textes erhöhen und den eigenen Ruf schützen. Wenn sie dem Verlag das fertige Manuskript übersendet, ist in ihren Augen noch nichts „fertig“; Übersetzen ist ihr ein ständiger, offener Prozess, Überarbeitungen und Korrekturen sind konstitutiv. Mehr oder weniger eindringlich insistiert Botond bei jedem Text darauf, dass ihr nicht nur die lektorierten Texte, sondern auch die endgültigen Fassungen jeweils vor der Drucklegung noch einmal zugesandt werden. Als sie Ende 1984 von Suhrkamp mitgeteilt bekommt, dass das Korrektorat des Hauses die letzten Korrekturen des Manuskriptes von Felisberto Hernández‘ Las Hortensias überprüfen wird, schreibt sie am 4. Dezember an Jürgen Dormagen, der mehrere ihrer Übersetzungen lektorierte:

Einerseits wäre ich dadurch ja fein heraus. Aber der Gedanke, einen Text nicht durch alle Stadien zu begleiten, läßt mir keine Ruhe. Ich habe nicht die Absicht, neue Korrekturen anzubringen, aber ich würde doch gerne sehen, wie sich der korrigierte Text nun präsentiert. Im Grunde ist es schon seltsam, – wenngleich nicht neu – daß man als Gnade erbetteln muß, was eigentlich im Interesse aller liegen sollte. Ich bitte um einen Revisionsabzug.

Botond begründet ihre Forderungen stets mit ihren Erfahrungen. In diesem Fall geht es darum, zu sehen, wie der Text sich mit den eingearbeiteten Korrekturen darstellt, um die verschiedenen Phasen seiner Transformation abzuschließen. Als ehemalige Lektorin kannte sie den Prozess ja bestens. Auf dem Weg von der Übersetzung zur Veröffentlichung durchläuft ein Text verschiedene Formate und Medien, und es ist in ihren Augen die Aufgabe der Übersetzerin, jeden Schritt dieses Wegs mit wachem Blick zu begleiten. Botond hatte bereits im September desselben Jahres 1984 an Michi Strausfeld, Lektorin und Verantwortliche für das Lateinamerika-Programm im Suhrkamp Verlag, über das gleiche Buch von Felisberto Hernández geschrieben:

Wie immer wäre es mir auch diesmal lieb, wenn ich den Text noch einmal sehen könnte, ehe er in den Satz geht, selbst wenn Sie nicht viel Korrektur haben. So ein letzter Blick nach einem gewissen zeitlichen Abstand bringt immer etwas.

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

Hier kommt zum Ausdruck, dass in Botonds Verständnis und Praxis die Übersetzungen im ständigen Wandel bleiben. Dass jede Revision die Chance bietet, auf neue Aspekte zu stoßen und weitere Ungenauigkeiten aufzudecken. Erst mit dem Druck ist dieser Prozess – zumindest vorübergehend – abgeschlossen. Dahinter steckt – nicht zuletzt – ein Bewusstsein von der eigenen Fehlbarkeit. Am 22. Dezember 1984 schrieb sie einen dringenden und verzweifelten Brief an Jürgen Dormagen:

Hernández und kein Ende… Bei einem Gespräch am Samstag fiel ein Wort, und das erinnerte mich plötzlich an eine Stelle im ‚Überschwemmten Haus‘, und da wußte ich, daß ich mich geirrt hatte. Es ist ein einziges Wort, ‚Getreue‘, aber es kommt siebenmal vor und müßte siebenmal ‚Gläubige‘ heißen / Ich hatte mich gegen das Wort ‚Gläubig‘ gesträubt und es in ‚Getreue‘ abgemildert, aber das war eine Fehlentscheidung und falsch. Auch wenn nur von einer Religion des Wassers die Rede ist: es gibt keine Getreuen, es gibt nur Gläubige einer Religion (allenfalls Anhänger, aber Hernández schreibt: ‚fieles‘).

Botond bietet hier in aller Kürze so etwas wie die Genealogie einer Korrektur, indem sie Dormagen die Gründe ihres „Fehlers“ erläutert. Die deutsche Transkription der Geschichte von Felisberto Hernández verlangte eine stilistische Entscheidung, die jedoch den Sinn des Originaltextes verriet und sie zu einer Ungenauigkeit veranlasst hatte. Später im Brief gesteht sie, sie sei „ganz am Boden zerstört: dass mir das passieren konnte!“. Aber es geht hier nicht darum, sie zu kritisieren, sondern um die Frage, welche Faktoren die Entscheidungen von Übersetzer·innen beeinflussen. Schließlich bleiben sie nicht dabei stehen, die Wörter einer Sprache durch die Wörter einer anderen auszutauschen. Komplexe Begriffe wie “fieles“, für die im Deutschen ja mehrere Übersetzungen möglich sind – „Gläubige“, “Getreue“, “Anhänger“ – müssen neben stilistischen Überlegungen (“Ich hatte mich gegen das Wort gesträubt… und es in… abgemildert“), auch verschiedene kulturelle Bedeutungen mitbedenken.

Die philologische wie politische Dimension der Übersetzung bringt die Aufgabe mit sich, die Rücksichtnahme auf das deutschsprachige Publikum mit der Achtung vor dem Originalwerk, seiner Herkunft und seiner Botschaft, in Einklang zu bringen. In einem Brief vom 5. Februar 1986, der im Zusammenhang mit der Übersetzung von Juan Carlos Onettis Lassen wir den Wind sprechen steht, schreibt Botond an Jürgen Dormagen:

Der deutsche Leser kann nicht wissen, daß die Militärjunta in Uruguay tatsächlich im eigenen Interesse die Geschichte verfälscht hat und Onetti hier mit ihr abrechnet. Daß sie z.B. den General Latorre (Präsident ab 1875), dessen Standbild Onetti auf den Hauptplatz von Santa María stellt, zum großen Reformator und Nationalhelden umstilisiert hat, während er in Wirklichkeit ein brutaler Diktator war, wie so viele andere. Aber anders als durch eine möglichst genaue Wiedergabe der Onettischen Kryptokritik kann man dem deutschen Leser nicht helfen.

In diesem Absatz bündeln sich Anneliese Botonds akademische Ausbildung und ihre jahrelange Verlagstätigkeit. Als Vermittlerin zwischen dem Inhalt eines Originals und dem deutschen Publikum muss sie Wege suchen, noch die verschleiertsten Botschaften mitzutransportieren. Übersetzen erweist sich bei ihr als die komplexe Kunst, kombinierte Bedeutungsebenen zusammenzuführen und miteinander in Einklang zu bringen; Übersetzer·innen sind Weber·innen, die zunächst das Original aus dem Gewebe des Originaltextes herauslösen und die Fäden dann wieder in die deutsche Sprache einweben müssen. Die Briefe von Anneliese Botond verbinden Reflexionen zu Grammatik und Syntax, Geschichte und Kultur, Lokalismen und Etymologien, Synonymen und Bedeutungen. Aus ihnen erkennt man, welche Schlüsselrolle in ihrem übersetzerischen Denken dem Prozess von Kommentierung und Überarbeitung zukommt.

Briefe sind Gespräche, und jede der Übersetzungen von Anneliese Botond brauchte viele Gespräche. Für sie war die Arbeit von Übersetzerinnen und Lektoren ein gemeinsames Werkeln an der Welt der Weltliteratur. Am 1. April 1987 schrieb sie an Jürgen Dormagen:

das Ausbleiben der gewohnten Wochenendration Onetti läßt mich vermuten, daß Sie zunehmend an anderen Fronten kämpfen, es erinnert mich aber auch daran, daß ich mich längst bei Ihnen hätte bedanken sollen für Ihre Briefe und – vor allem – für Ihre Arbeit am Manuskript. Es sind ja nicht nur die nützlichen Korrekturen, es ist auch die Tatsache, daß wenigstens 1 Mensch außer mir dieses Buch konzentriert liest, mit mir und gegen mich.

Mit mir und gegen mich! Dankbarkeit und das Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit beseelte Botonds Arbeit. Doch hier wird noch ein weiterer Aspekt ihres übersetzerischen Ansatzes von der Notwendigkeit einer permanenten Revision deutlich: Jedes Manuskript muss aus vielen Blickwinkeln betrachtet werden, man kann und muss jeden Text (und gerade die eigenen Übersetzungen) im Satz und im Layout immer noch einmal mit neuem Blick daraufhin anschauen, ob sich in der veränderten Textgestalt (Zeilenfall, Seitenstand) neue Korrekturaspekte ergeben. Anneliese Botonds Ideal der permanenten Revision stellte als philosophischen Kern das Prinzip des Widerspruchs in den Mittelpunkt der Übersetzungsarbeit. „Mit mir und gegen mich“, sagt sie, und man könnte hinzufügen: „zum Wohle des literarischen Werkes“.

So sehr die übersetzerische Arbeit an Fristen gebunden ist: Literarische Werke brauchen nicht nur das Abgeben – das Loslassen, sondern auch das Dranbleiben bis zum Ende. Und für Anneliese Botond war jedes Ende ein neuer Anfang. Es ging ihr nicht darum, sich aus reinem „Schuldgefühl“ auf die Suche nach den eigenen Fehlern zu begeben, sondern viel mehr nach einer absoluten intellektuellen Ehrlichkeit , die das Gelernte als neuen Maßstab setzt. Als sie 1981 vom Suhrkamp Verlag den Auftrag bekam, das Buch „La guerra del fin del mundo“ von Mario Vargas Llosa zu begutachten, konnte sie bei ihrem ersten Entwurf nicht zu einer endgültigen Stellungnahme kommen. Etwas an dem Werk hatte sie gestört und sie brauchte Zeit, um herauszufinden, was das war. Nachdem sie ein erstes, undatiertes Gutachten an den Lektor Wolfgang Eitel schickte, schrieb sie dazu am 25.04.1981 und am 26.04.1981 noch zwei Ergänzungen. Ihre Unsicherheit basierte auf einem Widerspruch: ihre politische und stilistische Ablehnung des Romans gegen die Möglichkeit, dass er zu einem Publikumserfolg werden könnte.

Der Roman ist auch zu verstehen – und das ist wichtig – als Kritik am Versuch jeder politischen Revolution in Lateinamerika. /…/ Die Frage ist, ob sich hinter der scheinbar so ehrenhaften Haltung VLs nicht einfach bürgerliches Wunschdenken verbirgt. Es ist also leicht vorauszusehen, wo der Roman ideologisch auf Zustimmung, wo auf Kritik stoßen wird. Zuletzt wird er wie das unwahrscheinliche Dorf, von dem er handelt, untergehen im Schlachtgetümmel.

Im ersten Gutachten, wenn auch nicht komplett überzeugt, hatte sie für die Annahme des Buches zugestimmt. Dann aber änderte sie ihre Haltung: sie sagte nicht „nein“, kündigte aber für das Buch das Schicksal der Bedeutungslosigkeit an. Und das aufgrund einer entlarvten unehrlichen, trügerischen Haltung des Schriftstellers. Die Präsenz des Wortes „Revolution“ ist nicht unbedeutend. Wir befinden uns am Anfang der 80er Jahre und die gute alte kubanische Revolution verlor immer mehr an symbolischer und politischer Kraft. Es ging hier aber nicht darum, eine neue Verteidigung der Revolution vorzunehmen, sondern vielmehr darum, das Buch mit seinen Bedeutungskonstellationen und die Werte des Schriftstellers zu hinterfragen. Und genau wie beim Übersetzen war das eine Frage des Dranbleibens und des Selbstzweifels, der ständigen Revision eigener Ideen und Argumente.

Anneliese Botond in ihrem Büro. Foto aus der Zeitung Die Presse, vom 2.6. 2018 ©DIE PRESSE / Suhrkamp

Die gesamte Zeitungsseite mit einem Vorabdruck aus dem Briefwechsel ist unter diesem Link zu finden.


 

Anmerkung des Autors:

Die Originale sind mit der Schreibmaschine geschrieben und enthalten kleine Schreibfehler. Die Rechtschreibfehler wurden nicht korrigiert. Fehlende Anführungszeichen wurden zum besseren Verständnis ergänzt.

Mit Ausnahme des Zitats der Dankesrede zum Erhalt des Johann-Heinrich-Voß-Preises, stammen alle Zitate aus Dokumenten des Suhrkamp Archivs des DLA Marbach. Die Adressaten, an die sich die zitierten Briefe richten, sind Michi Strausfeld, Jürgen Dormagen, Ulli Langenbrinck und Wolfgang Eitel. Die ersteren drei haben die Verwendung der Quellen genehmigt. Auch nach erheblichen Anstrengungen war es leider nicht möglich, Herrn Wolfgang Eitel ausfindig zu machen. Sollte jemand einen Kontakt haben, freuen wir uns über einen Hinweis.

Die Quellenangaben der Zitate in Reihenfolge ihrer Verwendung wurden aus dem Katalog des Marbach-Archivs übernommen und sind folgende:

 

  • ZITAT 2 und 3, aus dem Brief von 4.12.1983 an Frau Langenbrink; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika; Mediennummer: HS011696657
  • ZITAT 4, aus dem Brief von 4.12.1984 an Jürgen Dormagen; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika/Bibliothek Suhrkamp; Mediennummer: HS012317052
  • ZITAT 5, aus dem Brief von 20.09.1984 an Michi Strausfeld; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika/Bibliothek Suhrkamp; Mediennummer: HS012317052
  • ZITAT 6 und 7, aus dem Brief von 22.12.1984 an Jürgen Dormagen; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika/Bibliothek Suhrkamp; Mediennummer: HS012317052
  • ZITAT 8, aus dem Brief von 5.2.1986 an Jürgen Dormagen; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika; Mediennummer: HS011904965
  • ZITAT 9, aus dem Brief von 1.4.1987 an Jürgen Dormagen; Signatur: SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Internationales/Lateinamerika; Mediennummer: HS01190483X
  • ZITAT 10, aus dem Gutachten zum Roman „La guerra del fin del mundo“ von Mario Vargas Llosa. Datiert am 26.4.1981, adressiert an Wolfgang Eitel; Signatur: SUA:Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Vargas Llosa, Mario; Mediennummer: HS008617268

 

Abschließend möchte ich Leonore Autenrieth und Irmgard Häberle-Bubb für die Genehmigung zur Veröffentlichung der Zitate aus den Briefen Anneliese Botonds danken.

References
01 Dieser Essay basiert auf Dokumenten aus dem Suhrkamp Archiv, das sich im DLA Marbach befindet. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Briefe und Gutachten. Die hier angestellten Überlegungen haben nicht die Absicht, ein Gesamtbild von Anneliese Botonds übersetzerischem Lebenswerk darzustellen. Die Frage, ob sich an einem anderen Ort Nachgelassenes von ihr befindet, habe ich nicht weiterverfolgt.
02 Siehe den Beitrag von Lydia Schmuck Übersetzung als Dialektik. Anneliese Botond und die lateinamerikanische Literatur: das Beispiel Alejo Carpentier in dem Band: Übersetzungen im Archiv. Potenziale und Perspektiven. Herausgegeben von Franziska Humphreys, Anna Kinder, Douglas Pompeu und Lydia Schmuck, Reihe: marbacher schriften. neue folge; Bd. 19, Wallstein Verlag 2024.
03 https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/johann-heinrich-voss-preis/anneliese-botond/dankrede