»Übersetzen (Dich), das ist selber schreiben.« – Der Briefwechsel zwischen Georges-Arthur Goldschmidt und Peter Handke

Der deutsch-französische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt schrieb lange Zeit nur auf Französisch. 1971 übersetzte er erstmals Peter Handke, der seinerseits 1982 zum ersten Mal Goldschmidt ins Deutsche übertrug. Seither sind sie, trotz aller politischen Unterschiede, befreundet geblieben. Welche Debatten haben die beiden Autoren über das Übersetzen geführt? Wie haben sie sich in der Sprachbetrachtung gegenseitig beeinflusst? Ihr Briefwechsel, aufgehoben in zwei Literaturarchiven und zum Teil unerschlossen, gibt wertvolle Einblicke.

Am 6. Januar 1983, gerade hatte er die Übersetzung von Peter Handkes Kindererzählung beendet, schrieb der 54-jährige Georges-Arthur Goldschmidt ein paar Zeilen an »seinen« Autor. Dessen Briefe seien jetzt schon eine richtige Geschichte.

[E]s ist weder meine noch deine Geschichte, sondern eben eine schöne Geschichte. Es wäre schön, gerade weil sie so zugänglich ist, sie einmal zu veröffentlichen, aber später vielleicht, wenn ich mal sehr alt bin, denn ich hoffe noch andere zu erhalten. (06.01.83; hier und im Folgenden sind alle Briefstellen beider Autoren nach dem Original zitiert, inkl. aller Eigenheiten der Orthographie und Interpunktion.)

Heute, ziemlich genau vierzig Jahre später, ist der Briefwechsel zwischen Goldschmidt und Handke auf zwei Literaturarchive verteilt. Mit dem Babelwerk-Stipendium im Gepäck reise ich nach Marbach und nach Wien, wo die Vorlässe der beiden Autoren liegen. Beim Lesen frage ich mich: Haben sich Goldschmidt, der Handke-Übersetzer, und Handke, der Goldschmidt-Übersetzer, über das Übersetzen ausgetauscht? Was erfährt man über das Übersetzen, wenn man in die Korrespondenz dieser einander übersetzenden Schriftsteller eintaucht?

 

Die eigene und die andere Sprache

Georges-Arthur Goldschmidt war zehn Jahre alt, als er 1938 in einen Zug von Hamburg nach Florenz gesetzt wurde, um der Judenverfolgung zu entgehen. Aus Italien musste er wenig später nach Frankreich weiterfliehen, wo er in den Savoyer Bergen in einem Internat überlebte. Das Heimweh, die körperlichen und seelischen Gewalterfahrungen im Schülerheim und die Todesangst während der deutschen Besetzung Savoyens (1943–1944) prägten Goldschmidts gesamtes späteres Werk und insbesondere sein Verhältnis zur deutschen Sprache. Das Deutsche war für ihn beides, die Sprache des Verbrechens, weil die Nazis sie sprachen, und die Sprache des Verlustes, weil sie die Trennung von seinen Eltern wachrief. Das Französische dagegen wurde zur Sprache des Schutzes – einerseits, weil Goldschmidt sein Leben all den französischen Menschen verdankte, die ihn deckten und versteckten; andererseits, weil er, um zu überleben, die Muttersprache vor den deutschen Besatzern verbergen musste. Das deutsch-französische Brückenwort »Flocken/flocons« machte ihm den eigenen Spracherwerb zum ersten Mal bewusst:

Ich weiß nur, dass im November 1939 einer meiner Mitschüler plötzlich gesagt hat »Les premiers flocons«, und dank der Ähnlichkeit mit dem Wort »Flocken« stellte ich auf einmal fest, dass ich seit einiger Zeit schon, ohne es wirklich wahrgenommen zu haben, alles ganz von selbst verstand.[01]Goldschmidt, Georges-Arthur (2012): Über die Flüsse. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.

Nach der Befreiung kehrte Goldschmidt nicht nach Deutschland zurück. Ab 1949 französischer Staatsbürger, studierte er an der Pariser Sorbonne Germanistik und machte sich in den Sechzigerjahren einen Namen als französischsprachiger Essayist, Literaturkritiker und Übersetzer von Autoren wie Büchner, Nietzsche und Kafka.

Der Österreicher Peter Handke lebte von 1971 bis 1978 in und um Paris und siedelte Anfang der Neunzigerjahre endgültig nach Frankreich über. In seinem Film Handke in Paris (1975) konstatierte der Regisseur und Autor Georg Stefan Troller, Handkes Pariser Bezirk Auteuil gebe ihm die bürgerliche Anonymität, die er brauche, mit gerade so viel persönlicher Anbiederung, wie er verkraften könne. Umgeben von den »gespenstischen Formen« des Hochhausviertels La Défense, äußerte sich der damals 32-jährige Handke auch selbst zu seiner Wahlheimat:

Ich fühle mich […] auf perverse Art wohl hier. Und zwar weil mir die Welt sich hier so darstellt, wie sie eigentlich ist, und nicht mit diesen pittoresken Verschnörkelungen, wie sie sonst in den alten Quartieren sich zeigen. Es ist schon eine Seelenlandschaft hier, ja. Ich glaube, dass das Innere hier dem Äußeren entspricht. Das Innere der Leute, die heutzutage existieren, entspricht auch der Geometrie des äußeren Anblicks.

Goldschmidt und Handke im Gespräch. Filmstill aus „Handke in Paris“ von Georg Stefan Troller (ZDF, 1975).

Beginn einer Sprachfreundschaft

Im Marbacher Archiv entdecke ich ein Schulheft der Marke Clairefontaine, in das Goldschmidt seine Rede zum Osnabrücker Romanistentag 1999 niedergeschrieben hat. Der Titel: Handke übersetzen. Dass Goldschmidt und Handke einander in Paris begegneten, lese ich dort, verdankten sie dem Verleger Christian Bourgois. Der bat Goldschmidt 1971, das Buch eines jungen, kaum bekannten österreichischen Autors für ihn zu übersetzen. Etwas an dem Buch muss Goldschmidt angezogen haben: Nachdem er anfangs ablehnte – er sei schließlich kein Übersetzer –, warf er dann doch einen Blick in den Text und überlegte es sich kurzerhand anders. Begrüßung des Aufsichtsrats (1967) / Bienvenue au conseil d’administration wurde Goldschmidts erste Handke-Übersetzung. Fünf Jahre später schrieb er an Hans Paeschke von der Zeitschrift Merkur: »Ich will jetzt nur noch Handke übersetzen und für mich schreiben.« (26.12.76) Weshalb fühlte sich Goldschmidt derart angezogen von Handkes Büchern? Was verband die beiden Autoren?

Eine bisweilen zwar rissige, aber unverbrüchliche Freundschaft, so sagen es die Dokumente. Der Briefwechsel, soweit erhalten und dem jeweiligen Archiv bereits überlassen, umfasst sieben Briefe, drei Postkarten und mehrere Dutzend bislang unerschlossene Schriften (in Marbach) sowie 147 Briefe und sieben Postkarten (in Wien). Der erste Brief ist auf den 4. März 1974 datiert, der letzte traf nach großen Zeitsprüngen im Juni 2012 ein, weitere mögen bis zur Stunde bei den Autoren liegen. So lückenhaft das vorliegende Material auch sei – es bietet tiefe Einblicke in die wechselseitige Beeinflussung der beiden Schriftsteller. Goldschmidt fühlte sich dem Kärntner im Geiste verbunden, sprach von »Empathie der Seelen« (05.06.81) und von »innerer Wahlverwandtschaft« (24.11.81). Wie sehr Handke die Sympathie erwiderte, belegt eine Postkarte aus Aix-en-Provence.

Aber Du sollst doch wissen, dass Deine Bemerkungen zu meinem Buch für mich ein Schatz sind, der mich hütet (statt ich ihn). Dank für so viel Eingehen, Aufmerksamkeit, Mitgehen. Niemand sonst gibt mir das als Du (nicht einmal mein Traum von mir selber). (25.08.83)

Während Handke ein »stilles, belebendes Vergnügen« daran fand, Goldschmidts Geschichten zu lesen, war die Handke-Lektüre für Goldschmidt eine zwiespältigere Angelegenheit. Immer wieder fielen ihn beim Lesen Heimweh, Schuld- und Schamgefühle an. Noch im Jahr 1983 fehlte ihm die eigene Sprache, um seine Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen.

Mein doch nie vergehendes Heimweh wird während ich lese durch Dich Sprache. Selten habe ich mich in einem Buch derart daheim gefühlt. Deine Sprache das ist wirklich die Vorzeit (meine eigene) so wie sie in mir noch andauert, denn vom letzten Morgen in meinem Elternhaus, 1938, kann ich doch nicht weg. (18.12.83)

In etlichen Briefen schilderte Goldschmidt, wie Handkes Sprache ihn körperlich betaste, wie Handkes Bücher ihn tiefer in ihn selbst hineinführten und ihn »breiter«, das heißt zu jemand anderem machten – ein Vorgang, den Goldschmidt »Entselbstung« (09.01.81) nennt ­– eine Entselbstung, die ihn von der Scham des Überlebenden erlöse und ihm »inneren Frieden« schenke (05.06.86).

 

Erste Übersetzungen

Das Handke-Lesen war nicht die einzige Ursache für Goldschmidts Entselbstung. Auch das Handke-Übersetzen trug dazu bei; für Goldschmidt kein rein geistiges, sondern ein »beinahe andächtige[s]« (13.03.80), Körper und Seele beeinflussendes Tun. 1976 erstattete er Rapport über seine Arbeit an der Stunde der wahren Empfindung (1975).

[D]a ich beinahe alles körperlich selbst an mir empfinde und nicht mit meinem Kopf sondern mit dem Schamgefühl im Rückgrat übersetze […]. (17.01.76)

Ähnlich empfindsam äußerte er sich zur Übersetzung der Langsamen Heimkehr (1979).

[D]ein Buch führt mich […] zu ganz anderen Horizonten, zu ganz anderen Beziehungen mit der Sprache, die erst in mir völlig reif werden müssen. […] [D]iesmal ist jedes Aufgeben der eigenen Persönlichkeit totale Unmöglichkeit: das worauf ich so stolz war: daß es mich nie und nirgends gab, daß kein Sterbenswörtchen auch im entferntesten von mir war, diese eigentlich hochmütige Bescheidenheit, das gibt es hier nicht. […] [D]iesmal versetze ich mich stets in den Zustand, den das Geschriebene erzeugt und schreibe mehr aus diesem Zustand, also aus dem Gemeinten heraus, als daß ich versuchen würde die »Wörter« zu übertragen, die sowieso unübersetzbar sind. (16.07.80)

Die tief eingewurzelte Scham auszuhalten hatte therapeutische Wirkung, und so verhalf Goldschmidt das Handke-Übersetzen zum ersten eigenen »Sterbenswörtchen«: zu Le miroir quotidien (1981), dem ersten autofiktionalen Werk. Der Versuch, den Text selbst ins Deutsche zu übertragen, scheiterte, wohl weil er sich der eigenen Lebensgeschichte unmöglich in seiner »Kindersprache« (dem Deutschen) annähern konnte. Die Sprache des Verbrechens und des Verlusts weckte zu viele schmerzliche Erinnerungen.

Tatsächlich vermutet die Wissenschaft, dass keine andere Sprache einen so tiefen »emotionalen Resonanzraum«[02]Wüstenhagen, Claudia (2015). Mensch, was bist denn du für einer? Zuletzt abgerufen am 14. Februar 2024 von … Fußnote lesen in uns anlegen kann wie die eigene Muttersprache: Ihre Worte berühren uns mehr (oder anders). Goldschmidt begriff, dass er seine Erlebnisse nicht nur in, sondern auch auf die französische Sprache übertragen hatte, im psychoanalytischen Sinne: Alte, verdrängte Gefühle wurden auf die neue, als erinnerungsleer empfundene und teilnahmslos angenommene Sprache projiziert. Aber auch das Französische war nicht frei von Traumata – an die Jahre zwischen 1940 und 1943 konnte sich Goldschmidt kaum erinnern –, die ihrerseits eine leere Projektionsfläche brauchten, das Deutsche. Diesen Chiasmus, die Nichtübereinstimmung zwischen der Sprache des Erlebten und der Sprache des Schreibens, nannte Goldschmidt »Sprachenumkehrung«.

Es fügte sich eins zum anderen: Peter Handke übersetzte Le miroir quotidien noch im selben Jahr (1981) ins Deutsche. Rückblickend nannte er die Entscheidung, das Buch dem deutschsprachigen Publikum zu überliefern, eine »Schnapsidee« , spontan, aber aus einer persönlichen Anteilnahme an Goldschmidts Kindheitsgeschichten erwachsen. Der Spiegeltag (1982) war Handkes erste Goldschmidt-Übersetzung und seine vierte überhaupt: Vergeblich hatte sein Verleger Sigfried Unseld ihm immer wieder Übersetzungsangebote angetragen, ehe Handke 1979 sein erstes Buch übersetzte: The Movie Goer von Walker Percy, das ihm besonders am Herzen lag. Beide, Handke wie Goldschmidt übersetzten, weil etwas an dem fremden Werk sie ansprach und anging.

 

Ansätze und Kontroversen

Die Arbeit am Spiegeltag sei keine leichte, reflektierte Handke in einem Brief an den Autor, jeder Satz verlange eine Entscheidung, ein Wegdenken von der Sprache in die Lebenswelt und dann ein Zurückfinden in die Sprache. Den Prozess des Wegdenkens nannte Handke »Bildwerdung«[03]Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989). In: Études de Lettres: revue de la Faculté des lettres de … Fußnote lesen.

Manchmal, wenn ich bei einer Passage ratlos bin, frage ich: Was ist das Inbild, das zugrundeliegt – das also auch ich kenne; und dann geht es meist doch. (13.11.81)

Für Handke erforderte das Übersetzen also einen Dreischritt: Verstehen – Bildwerdung – Übertragung. Doch den ersten beiden Schritten folgte nicht unweigerlich der dritte, denn Handke beschloss, einige Passagen aus Le miroir quotidien nicht zu übersetzen, und begründete die Kürzungen wie folgt.

Einige Trauer- und Schamgebärden habe ich vorderhand weggelassen. Einmal habe ich zur Seite hingeschrieben: Alte Heulboje – aber nicht im Bösen. (13.11.81)

Ein paar »Wichs-«Details brachte ich sozusagen nicht übers Herz und nicht in den Geist der Erzählung. (11.12.81)

Goldschmidt protestierte gegen die Kürzungen:

Mit gewissen Streichungen dagegen, bin ich nicht einverstanden, es sind gerade die, welche die Perversität des Buches ausmachen, diese Perversität ist doch gerade zugleich Ursache der Scham, dann aber wieder auch die eigentliche Lebenskraft. [o. D.]

In Wien erlange ich Einblicke ins Originalmanuskript der Übersetzung mit handschriftlichen Randnotizen von Goldschmidt. Eine dieser Notizen – »Die gestrichene Stelle, wenn auch zu deutlich vielleicht, ist doch sozusagen die Losung der Geschichte. Ohne sie verliert sie ihren eigentlichen Sinn, oder?« (1981) – führt mich zu einer der »ausgesparten« Passagen des Originals.

Et pourtant chaque fois, quand il avait eu le fouet, ils l’entrainaient au grenier et le forçaient à leur rendre hommage, humilié, nu, il subissait leur joie. Que voulaient-ils de plus? Que voulait-il de plus?[04]»Nach seiner Züchtigung aber schleppten sie ihn jedes Mal auf den Dachboden und zwangen ihn, vor ihnen niederzuknien; gedemütigt, nackt, musste er … Fußnote lesen

Ein Blick in die Suhrkamp-Ausgabe von 1989 lässt erkennen, dass Handke bis zum Schluss auf seiner Auslassung bestanden haben muss. Darf man als Übersetzer·in ins Original eingreifen? Darf Handke das, weil er Autor ist? In der Osnabrücker Rede verneinte Goldschmidt diese Frage: Menschen, die die Originalsprache nicht beherrschten, seien auf die Übersetzung angewiesen, der Übersetzer sei deshalb »Mitautor« und dürfe sich keine Freiheiten erlauben.

Leider kann er [der Übersetzer] sich keinen »private joke« erlauben, da er doch merkwürdigerweise der einzige Vermittler für viele andere ist.

Dieser moralischen Haltung zum Trotz konnte sich Goldschmidt des »private joke« nicht immer erwehren. In derselben Rede bekannte er sich dazu, bei der Übersetzung von Nietzsches Also sprach Zarathustra einen ganzen Satz ergänzt zu haben – aus Überdruss. Keiner habe ihn jemals bemerkt.

Was das Übersetzen der eigenen Texte anging, waren beide Autoren im Prinzip gelassen. Um »Umständlichkeit und Verrätselung« (18.01.83) zu vermeiden, schrieb Handke, dürfe Goldschmidt kürzen und mit der Vorlage frei umgehen. Habe sein Übersetzer Verständnisfragen, mache er sich »oft einen Spaß daraus, ihm was Falsches zu sagen oder, was er sich gedacht hat, so in der falschen Stellung zu lassen. Denn manchmal gibt es in der anderen Sprache ein Bild, das das eigene Bild, das man beim Schreiben hatte, erweitert oder korrigiert.«[05]Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989). op. cit. Die Idee, dass der Irrtum des einen das Werk des anderen bereichern kann, fand auch bei Goldschmidt Erwähnung.

In meinem Buch zum Beispiel sprach ich von Kühen, die die Hecken ausgeleert haben. Das wird dann so schwarz unten, und hohl. Peter hat das als »Wege im Gras« verstanden, was eigentlich viel schöner ist. Das habe ich Dir gar nicht gesagt, weil das viel schöner ist in meinen Augen.[06]ebd.

Ähnlich in einem Brief an Handke:

Ab und zu hast Du andere Bilder als ich (z.B. das Blech am Baum wird überwachsen und nicht angerostet was eigentlich aber genau so meinem Blick entspricht) aber die nun, wie gesagt, aus der gleichen Blickrichtung kommen. (o. D.)

Was bedeutet diese Einschränkung, der Übersetzer bzw. die Übersetzerin sei frei, solange er oder sie die Blickrichtung beibehalte? Bei optisch aufgebauten Texten, schrieb Goldschmidt in der genannten Osnabrücker Rede, müsse man deren räumlichen und zeitlichen Aufbau gerecht werden. Diese Maxime formulierte er mit Blick auf seine Handke-Übersetzungen. Die genaue Wiedergabe der Raumerfahrung sei bei Handke nämlich besonders wichtig, da sie stets mit dem inneren Unwohlsein der Hauptfigur zusammenfalle.

Im Juni 1982 hielt Goldschmidt erstmals den Spiegeltag in der Hand. Und damit nicht nur die eigene, ins Deutsche übertragene Geschichte, sondern auch das gegenständliche Symbol seiner Rückkehr in die deutsche Heimat und in das, was er seine »Seelensprache« nannte.

Ich bin auch sehr stolz daß unsere Namen so nebeneinander erscheinen und meiner neben Deinem in meinem eigenen Sprachraum (schönere Heimkehr konnte ich mir kaum denken, dafür vielen Dank). (17.06.82)

 

Zuspruch und Beanstandungen

Nicht nur im Fall Spiegeltag pflegten Goldschmidt und Handke den Dialog. Immer wieder tauschten sie Gedanken über das mögliche und unmögliche Übersetzen aus. Handke las Goldschmidts Übersetzungen, und umgekehrt. Es wurden Details erfragt, Entscheidungen begründet, Beanstandungen ausgesprochen: Ist das Fenster ein Quadrat oder nicht (carré oder rectangle) (13.03.80)? Ist mit »Glück« chance oder bonheur gemeint (21.03.82)? Goldschmidt hielt seinem Übersetzer vor, das »Nicht-Funktionieren[s] der französischen Sprache [zu verkennen]: un continent étranger zB würde ein Ausländisches Erdteil heissen« (21.03.78). Als Goldschmidt Handkes Roman Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004) übertrug, mahnte Handke, »stetig, beständig, mit Rück- und Vorblick« zu übersetzen, um Ungleichmäßigkeiten, um ein »Gemisch von Sprachglanz und -gerümpel« zu vermeiden. »[G]länzende, schwebende, klare Passagen« wechselten sich ab mit »arg verkrauteten, arhythmischen, sogar unverständlichen, ja fehlerhaften« (11.05.06).

Neben Kritik gab es Zuspruch und Anregung, insbesondere von Handke. Er ermutigte den von Selbstzweifeln geplagten, erklärtermaßen nicht immer »vom Hauch des Gottes gestreift[en]« (27.09.88) Goldschmidt zum Weitermachen und ging ihm beim Übersetzen zur Hand. Mal riet er ihm, anstatt zu interpretieren, Wörter zu wählen, »die nichts vorwegnehmen an Gefühlen und Gedanken, damit sie diese erst bewirken können«. Goldschmidts Entscheidung, den Begriff »private Weltgeschichten« als histoires privées d’importance mondiale zu übersetzen, sei mit dem Wort importance »schon eine Deutung und damit die Aufhebung der poetischen Potenz des deutschen Ausdrucks« (30.01.75). Mal warnte Handke vor »den Füllseln, falscher Fülle« (04.10.83) und legte Goldschmidt Kürze ans Herz: »Bleib vor allem lakonisch. Motto: Festlich, aber nicht pompös!« (11.12.81). Mal befürwortete er eine natürliche Ausdrucksweise.

Es soll nie fremd wirken in der Wortwahl (auch wenn es biblisch ist); es soll einem die Phantasie stauen, aber den Sprachsinn nicht stutzen lassen. (07.04.82)

Das schrieb er, während er Emmanuel Bove übersetzte.

Goldschmidt nahm Handkes Ratschläge gerne an. Er bewunderte dessen Übersetzungstechnik, die »bescheidene aber doch monumentale Worttreue«. Handke war ein Vorbild, dem Goldschmidt als Übersetzer »nacheifern« (09.01.81) wollte.

 

Wie das Übersetzen das Schreiben beeinflusst

Wie wichtig der Austausch mit Handke für ihn war, spürte Goldschmidt schon Mitte der Siebzigerjahre.

Dieses Zusammenarbeiten an Deinen Übersetzungen ist für mich auch literarisch wichtig, warum kann ich noch nicht genau ermessen jedenfalls ist es so. (28.09.75)

Vier Jahre später erhob er das Übersetzen zu einer besonderen Form des Selbstschreibens.

Dass Du übersetzt, finde ich sehr schön: manchmal erscheint es mir als die Schönste Form des Schreibens […] man übersetzt nicht Sprache, das ist mir inzwischen klar geworden, sondern einzig das Verstehen im Texte. (08.05.79)

In der Osnabrücker Rede berichtete Goldschmidt, sein Schreiben habe sich in den Achtzigerjahren völlig verändert – nicht unter dem Einfluss Handkes, sondern unter dem des Übersetzens. Bei der Entstehung von La forêt interrompue (1991) seien »die Raumbeschaffenheit, die ganze Beziehung zu den Entfernungen, dem Fahren, der Landschaftsempfindung«, für die es oft nicht die gewünschten Wörter gebe, von der Arbeit an Handkes Langsamer Heimkehr bestärkt worden. Und auch im Briefwechsel lese ich: »[…] das Übersetzen Deiner Bücher wird immer mehr mein eigentliches Schreiben.« (08.09.82)

Mehrmals betonte Goldschmidt, wie »schöpferisch« (01.10.75) die Arbeit an Handkes Texten sei, und ging sogar noch einen Schritt weiter: »Übersetzen (Dich), das ist selber schreiben.« (17.04.85) Ein Satz, den man wörtlich lesen kann: Goldschmidts Briefe an Handke illustrieren sein Nachdenken über die Unterschiede zwischen dem Deutschen und dem Französischen. Dieses Nachdenken hat bekanntlich zu Quand Freud voit la mer (1988)[07]Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): Als Freud das Meer sah. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. geführt, Goldschmidts berühmtem Buch über das Leben in zwei Sprachen. Seine Überlegungen zu den für das Deutsche so charakteristischen Vorsilben lassen vermuten, dass das Handke-Übersetzen ihn zu Quand Freud angeregt haben könnte.

[M]anchmal auch bin ich gezwungen einfach Wortteile »Vorahnung« z.B. auszulassen, wo sich Ahnung schon nicht übersetzen läßt was soll ich da schon mit dem »vor« machen […]. (20.03.80)

Und es gibt weitere Gründe, warum das Handke-Übersetzen für Goldschmidt auch literarisch wichtig war. Was Handke im Jahr 1983 als Nachlässigkeit empfand und höflich monierte – er nannte es Goldschmidts »Schwung« (14.06.83) –, wich handwerklicher Sorgfalt.

Nicht routinierter bist Du geworden, sondern verständiger, langsamer, einfühlsamer, skrupelhafter, im Ergebnis dann sicherer. […] Du erreichst auch eine Lakonie, die mir selber immer wieder als Ideal vorschwebt. (08.02.83)

Dass die poetische Kraft Handkes ihm den Schwung austrieb, wusste Goldschmidt zu schätzen. Handke habe ihm, dem »ewige[n] Lügner aus Hektik«, zur Selbstgenauigkeit verholfen, ihn »bewahrheitet« (18.08.82).

Ohne das Übersetzen – wogegen ich mich erst gesträubt hatte, Bourgois hatte ich zuerst »abgewimmelt« – wäre mein eigenes Schreiben parodistisch, verzerrt und unehrlich gewesen. Mit Übersetzen meine ich natürlich Dich übersetzen […]. (27.09.88)

Auch Handke lernte die Übersetzertätigkeit schätzen. Wo er sich anfangs noch zurückhaltend äußerte – »Manchmal erfreut mich diese Arbeit.« (27.04.79) –, hieß es einige Jahre später:

Das ist auch die Herrlichkeit des Übersetzens, mitspielen zu können, endlich nicht mehr allein zu spielen, sondern mitzuspielen.[08]Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989), op. cit.

In der Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers (1987) ließ Handke seinen Übersetzer auftreten. Dessen eigene Schreibversuche scheitern, sodass er schließlich »nur« noch übersetzt. Seitdem leide er keine Qualen mehr, sei nicht mehr zum Grübeln gezwungen und habe auch seine Angst verloren: »Am Schreibtisch sterben, das möchte ich erst, seit ich Übersetzer bin.«[09]Handke, Peter (1987): Nachmittag eines Schriftstellers. Salzburg/Wien: Residenz-Verlag.

 

Fazit

Der Briefwechsel bezeugt, dass das Gespräch zum Übersetzen nicht unwesentlich das Schreiben beider Autoren beeinflusst hat. Nicht allein das Französische, sondern auch das Handke-Übersetzen hat Goldschmidt das Deutsche (zurück-)geschenkt. In einem der jüngsten Briefe, die im Marbacher Archiv aufgehoben sind, beschrieb Handke, wie Goldschmidts Sprache auf ihn wirkte: »Deine Sprache, deutsch, hat eine anderszeitliche Schönheit […]« (12.04.12). Umgekehrt hat auch Handke seinem Übersetzer viel zu verdanken, nicht zuletzt seinen Transfer in die französische Sprachlandschaft. 2006 richtete er würdigende Zeilen an Goldschmidt:

Und immer wird in und bei mir bleiben Dein Enthusiasmus für die Sprache(n), das Erzählen, das Öffnen, Klären, Lichten, das Du mir »Freiberufler« stetig zugeschrieben hast, und an dem Du nicht schlecht mitgewirkt hast. (11.05.06)

Der Briefwechsel zeigt uns: Schreiben und Übersetzen stehen miteinander im Dialog. Jede Schriftstellerin und jeder Schriftsteller schreibt in einer ganz eigenen Sprache, übersetzt sich auf diese Weise schreibend die eigene Fremdheit in der Welt, und kann im Übersetzen die Eigensprache fremddrehen und fremdwenden. Als Goldschmidt, wie eingangs zitiert, 1983 seinem Sprachfreund vorschlug, ihre Briefe eines fernen Tages zu veröffentlichen, winkte Handke bescheiden ab. Goldschmidt solle nicht so viel aus seinen Briefen machen. Ich sehe es wie Goldschmidt: Der Schriftverkehr ist eine »schöne Geschichte« – über Freud und Leid an der eigenen Sprache und über die Macht des Übersetzens.

Brief von Georges-Arthur Goldschmidt an Peter Handke, 27.09.1988

Brief von Georges-Arthur Goldschmidt an Ina Böhme, 15.10.2023

References
01 Goldschmidt, Georges-Arthur (2012): Über die Flüsse. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
02 Wüstenhagen, Claudia (2015). Mensch, was bist denn du für einer? Zuletzt abgerufen am 14. Februar 2024 von www.zeit.de/zeit-wissen/2015/02/sprache-veraenderung-persoenlichkeit.
03 Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989). In: Études de Lettres: revue de la Faculté des lettres de l’Université de Lausanne. Zuletzt abgerufen am 14. Februar 2024 von https://doi.org/10.5169/seals-870669.
04 »Nach seiner Züchtigung aber schleppten sie ihn jedes Mal auf den Dachboden und zwangen ihn, vor ihnen niederzuknien; gedemütigt, nackt, musste er zusehen, wie sie sich vergnügten. Was wollten sie mehr? Was wollte er mehr?« (Dt. von Ina Böhme)
05 Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989). op. cit.
06 ebd.
07 Goldschmidt, Georges-Arthur (1999): Als Freud das Meer sah. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
08 Discussion entre Peter Handke, Georges-Arthur Goldschmidt et le public (1989), op. cit.
09 Handke, Peter (1987): Nachmittag eines Schriftstellers. Salzburg/Wien: Residenz-Verlag.