Unübersetzbarkeit
Unübersetzbarkeit ist ein Mythos, einerseits. Meist findet sie nicht auf der lexikalischen Ebene statt. Es kommt vor, dass mir in einer Sprache ein Begriff für eine bestimmte Kulturtechnik ermangelt, die es in dem Sprachraum, in den hinein ich übersetze, gar nicht gibt. Im Alltag kann ich diese Begriffe umschreiben, ich kann sie erläutern. Ich bin weniger prägnant, verbrauche mehr Worte als in der Ursprungssprache nötig gewesen wären, aber da der semantische Gehalt einander entsprechender Worte in verschiedenen Sprachen sowieso nie ganz identisch ist, ist dies eigentlich keine große Sache. Ich kann sogar Gefallen finden am Reichtum der fortgesetzten Umschreibung. Wenn ich aber ein Gedicht in gebundener Form vor mir habe, ist dies schwieriger. Dann habe ich es mit metrischer, klanglicher oder zusammenfassend gesagt: poetischer Unübersetzbarkeit zu tun.
Auf welchen Ebenen verwirklichen sich verschiedene Formen der Unübersetzbarkeit? Auf Platz eins findet sich nicht die poetische Unübersetzbarkeit, sondern? Die finanzielle.
1. Hierzu zählen alle Gedichte und Texte, die weltweit in kleinen oder großen Sprachen geschrieben werden und für die sich weder Übersetzer*innen noch Verlage finden. Sie sind unübersetzbar, weil sich niemand leisten kann, ihre Übersetzung zu finanzieren, und weil außerhalb ihres Sprachraums kaum jemand von ihnen weiß.
2. Auf poetischer Ebene. Wenn ich eine Sestina aus dem Isländischen übersetze, worin Seele und Ente homonym sind, also das gleiche Wort bewohnen, und „önd“ mal als Ente, mal als Seele gebraucht wird, habe ich ein Problem.
3. Auf grammatischer Ebene. Wenn ich einen Text aus einer Sprache ohne grammatikalisches Geschlecht, zum Beispiel aus dem Ungarischen, ins Deutsche übersetze, und der Autorin oder dem Autor daran liegt, das Geschlecht der Personalpronomen in der Schwebe zu halten, kann ich vielleicht auf den Infinitiv oder die 2. Person ausweichen – aber das ist schon ein ziemlich drastischer Eingriff.
4. Auf der Ebene der außersprachlichen Phänomene. Es gibt einige Vogelarten, die nichts miteinander zu tun haben und irrtümlicherweise den gleichen Namen tragen, denn die ersten Siedler, die England in Richtung der Neuen Welt verließen, waren nicht immer Ornithologen. Auch ist die schlanke russische Birke mit der eher behäbigen hiesigen Birke nur schwer in Übereinstimmung zu bringen.
5. Auf der Ebene des Duktus: Wenn ein bestimmter Duktus aus historischen Gründen in bestimmten Sprachen nicht mehr zu gebrauchen ist, wird es schwerfallen, das poetische Pathos eines politischen Appells ins Deutsche zu übersetzen, ohne dass sich sogleich das Echo nationalsozialistischer Sprachgebungen erhebt.
6. Auf der Ebene der Dialekte, Soziolekte und Regionalsprachen. In welchen deutschen Dialekt soll ich das Friaulische bringen? Welcher deutsche Soziolekt ist am meisten Cockney? Hier ist es noch am ehesten möglich, eine Kunstsprache zu finden, die mir aushilft, wenn nicht gar taugt.
Zurück zur Lexik: Schadenfroh? What about gleeful or malicious? Seelenheil? Let me think. Da, wo es keine direkte Entsprechung gibt, was genaugenommen viel häufiger der Fall ist, als man gemeinhin annimmt, empfiehlt sich die Ansiedlung eines neuen Fremdwortes für eine neue Praxis, wie zum Beispiel in der schönen Essaysammlung „Untranslatable Terms of Cultural Practices – A Shared Vocabulary“[01]https://www.akademie-solitude.de/de/publication/untranslatable-words-of-cultural-practices-a-shared-vocabulary/ beispielhaft vorgeführt. Und wenn ich dann erst einmal in der Lage bin, eine verwickelte linguistische Lage ins Deutsche zu rekombinowatschen, dann finden sich sicherlich auch Lösungen für die Punkte zwei bis sieben, das ist gewiss. Für Punkt eins gibt es halt nur eine gute Lösung, und die ist bekannt.
↑01 | https://www.akademie-solitude.de/de/publication/untranslatable-words-of-cultural-practices-a-shared-vocabulary/ |
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