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Veröffentlicht am 16.10.23

Gebärdensprache

Als hörende Person, die Gebärdensprache noch nicht gelernt hat, sehe ich die Bewegungen der sprechenden Person, doch ich verstehe sie nicht. Aber ich weiß, dass es keine Gesten sind, sondern Gebärden, die je sprachliche Bedeutungen tragen. 

Dunkelheit ist wie Stille und grelles Licht sehr laut. Denn die Aufmerksamkeit für die gesprochene Gebärdensprache liegt im visuellen Sinn. Ich verstehe, dass Gebärdensprache und Lautsprache schon immer in einem Machtverhältnis zueinanderstanden. Und dass die Lautsprache das Sprechen mit Gebärden nicht in ihre Alltagsmetaphorik übernommen hat. Denn, statt sich auf die Zunge zu beißen, müsste es auch heißen: die Hände zu verstecken. Statt nur Luft zu holen, auch: mit den Armen auszuholen. Dass ein Wort nicht nur auf der Zunge liegt, sondern auch in den Händen. Dass nicht nur die Zunge im Zaum gehalten werden kann, sondern auch die Füße. Dass nicht nur die Zunge spitz ist, sondern auch die Finger. 

Eine Möglichkeit der Übersetzung, die ich für ein Projekt ausprobiert habe, ist, die Bewegung der Gebärde zu beschreiben. So bekommt die Suche nach dem richtigen Wort einen doppelten Boden. Beispielsweise wird dann die entsprechende Gebärde mit schwitzen übersetzt oder mit zwei handrücken fahren die wangen entlang. Eine andere mit orgasmus oder mit handfontänen

Julia Kulda-Hroch hat eine Gebärdenpoesie um das Palindrom Leben-Nebel entwickelt. Sie daktyliert L-E-B-E-N mit einer Hand, sie zeigt also die Buchstaben nacheinander mit dem Fingeralphabet. Die zweite Hand zeigt die Handform für Nebel und verdeckt dabei die erste Hand beim Daktylieren. Zum Schluss daktyliert sie N-E-B-E-L, eine Bewegung, die unverdeckt sichtbar ist. 

Die Dynamik und die Räumlichkeit der Performance zeigte mir als Übersetzerin sofort die Grenzen der linearen Schrift, die mir unmittelbar als mein Werkzeug einfiel. Ich wollte jedoch eine Form finden, die diese Grenzen zu lockern vermag, und fand eine Antwort in der Visuellen Poesie. Aus der Handform wird in meiner Übersetzung ein Buchstabennebel. Dabei können die einzelnen Buchstaben des deutschsprachigen Alphabets die Dichte der physischen Hand höchstens andeuten. Meine Übersetzung sieht nun wie folgt aus: 

Wäre ich in einer Sprache aufgewachsen, die mit Piktogrammen arbeitet, hätte ich Lust, ihre Möglichkeiten in der Übersetzung auszuprobieren. Ich denke zum Beispiel ans Japanische, in dem Nebel 霧 als Kanji und きりin Silbenschrift ist. Wie könnte ein solcher Nebel in visueller Poesie aussehen? Hier muss natürlich erwähnt werden, dass jeder Sprachraum mit einer eigenen Gebärdensprache arbeitet. Aber könnten nicht solche Überlegungen dazu einladen, sich eine deutsche Lautsprache vorzustellen, die mit Piktogrammen verschriftlicht werden kann? So als Idee. 
 
Eine andere Möglichkeit ist, die Gebärdenpoesie in Sound zu übertragen. So ließen sich ihre Bewegungen zum Beispiel mit dem Instrument Theremin hörbar machen. Doch läge dann der Fokus auf der Bewegung, nicht auf der sprachlichen Bedeutung. Und eine auditive Modalität würde ein Taubes Publikum als Rezipientinnen ausschließen. Daran muss gedacht werden. Hörende Personen sollten nicht einfach tun, was sie wollen, sondern ein Sensorium ausbilden für die eigenen audistischen Haltungen und Verhaltensweisen. Und im Gespräch herausfinden, welche Übersetzungsweise sich richtig anfühlt. Andererseits wird gerade in der Arbeit mit Sound sehr deutlich, dass auch die Lautsprache eine sehr körperliche Dimension hat, die oft in der Wahrnehmung zwischen den Zeilen verschwindet. 
Noch eine andere Möglichkeit, die mich zuletzt am meisten umgetrieben hat und darauf wartet, im Übersetzungsspiel erprobt zu werden, ist, den dynamischen Prozess der Gebärdenpoesie in eine bewegte Lautsprachenpoesie zu übertragen. In eine Form, die am ehesten die Mittel der Videopoesie bereithalten. 
 
Anders als in einer Übersetzung von einer Lautsprache in die andere, habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mir keine Interlinearübersetzung notiere, denn es gibt keine Zeilen. Es gibt einen Raum. Mein Notizzettel wimmelte in der Regel vor Szenen, Beschreibungen, Bewegungen, einzelnen Worten oder Annäherungen an Bedeutungen, die mir als Grundlage für eine lautsprachliche Übersetzung dienten.
 
Ich vermute, die Übersetzung eines Nachrichtentextes bei der Tagesschau lässt weniger Interpretationsspielraum. Und mag mir dabei eine Welt vorstellen, in der die Nachrichten von Gebärdensprache in Lautsprache übersetzt würden statt umgekehrt.  Wie wäre das? Doch ich schweife ab. 
Die Poesie hingegen bedient sich des Spiels. Das nicht nur einen bestimmten Inhalt transportieren soll, von einer Sprache in die andere. Sondern sich in den ästhetischen Möglichkeiten ausprobieren darf. Ich behaupte, dieselbe Gebärdenpoesie wird sehr viel unterschiedlichere Übersetzungen anstoßen, als ein lautsprachliches Gedicht das täte. Das macht die Übersetzung mitnichten beliebig. Doch wird die Übersetzerin aufgefordert, sich selbst am poetischen Spiel zu beteiligen.