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Veröffentlicht am 29.04.24

Medialität

Medialität bezeichnet die Eigenschaft einer Sache, als Medium zu dienen. Was aber ein Medium ist, darüber herrscht in der Medienwissenschaft alles andere als Einigkeit. Das lateinische Fremdwort, das steht fest, ist im Deutschen seit dem siebzehnten Jahrhundert belegt. Seine unterschiedlichen Übersetzungen – als Mitte oder Mittel – verweisen bereits auf die den späteren Auslegungen des Begriffs innewohnenden Spannungen. Als Mitte leistet ein Medium die räumliche Vermittlung voneinander getrennter Elemente; dabei kann es entweder als ein neutrales Zwischen oder als eine prägende, das zu Vermittelnde zugleich formende Substanz verstanden werden. Als Mittel dagegen wird das Medium zum Organon oder Instrument einer zweckgerichteten, den Absichten eines Benutzers gehorchenden Vermittlung. So ist das Medium zugleich Milieu und Werkzeug, ein Raum des Übergangs und der Transformation; bis zur völligen Unsichtbarkeit tritt es hinter dem zurück, was es vermittelt, und prägt es doch auf die ihm eigene Weise.

Diese widersprüchlichen Bestimmungen treten gerade an jenem Medium zutage, das gemeinhin als Medium aller symbolischen und technisch-apparativen Medien gilt: der Sprache. Sie erlaubt, nüchtern formuliert, die Speicherung, Verarbeitung und Distribution von Sinn. Dieser Sinn ist nicht in einer der Sprache vorausgehenden, ihr transzendenten Welt gegeben; vielmehr ist Sprache selbst das Medium der Welterschließung. Erst in ihr gibt es Welt, gibt es andere Welten und anderes als Welt.

Freilich geht der Sinn den ihn versinnlichenden Zeichen ebenso wenig voraus wie diese jenem. Sie sind wechselseitig aufeinander bezogen. Erst durch Konvention, erst durch eine Sprachgemeinschaft, die ihr einen – stets auszuhandelnden – Sinn verleiht, wird eine an sich bedeutungslose Sequenz von Phonemen oder Inskriptionen zu einem beliebig iterierbaren, mit sich selbst formal identischen Zeichen. Darin unterscheidet sich das sprachliche Zeichen ebenso vom indexikalischen wie vom ikonischen Zeichen. Weder steht es zu seinem Referenten in einem Verhältnis der kausalen oder räumlichen Kontiguität (wie die Spur) noch in einem der Ähnlichkeit oder der strukturellen Homologie (wie das Bild).

Aus dieser Verschränkung des Sinns mit dem Sinnlichen zieht die Sprache ihren Eigensinn. Nicht nur wirken die Syntax, die Grammatik, der Klang und der Lautstand der Wörter an der Konstitution der Welterfahrung mit; vielmehr sind sie imstande, aufgrund formaler Ähnlichkeiten (wie der Homophonie oder Homonymie) eine gänzlich eigene Ordnung außerhalb jeder Fremdreferenz zu begründen. Wortspiele und Kalauer machen sich diesen Überschuss der Sprache ebenso zunutze wie die anspruchsvollsten Formen der Dichtkunst. Der Unterschied zwischen oralen und schriftlichen Kulturen spielt dabei keine Rolle. Unabhängig von ihren Erscheinungsweisen besitzt die Sprache aufgrund ihrer semiotischen Doppelnatur eine (von Roman Jakobson sogenannte) poetische Funktion.

Neben der Dichtung ist das Übersetzen wohl die intensivste Erfahrung des medialen Eigensinns der Sprache. Der in der fremden Sprache artikulierte Sinn soll in eine andere übertragen werden. Doch je stärker die poetische Funktion des zu übersetzenden Werkes ausgeprägt ist, umso schwieriger wird das Unterfangen, umso deutlicher tritt die Verwobenheit von Sinn und Sprachkörper hervor. Was übersetzt wird, ist nie allein das Werk eines Autors, sondern der Gebrauch, den er von den Eigenschaften seiner Sprache gemacht hat. Für diese Problematik ist seit den Übersetzungstheorien der Frühromantik die idealtypische Unterscheidung zwischen einbürgernder und verfremdender Übersetzung aufgekommen. Während die einbürgernde Übersetzung die Differenz zwischen den Sprachen tilgt, soll die verfremdende Übersetzung gerade die Fremdheit der anderen Sprache in der eigenen fühlbar machen. Eine solche Übersetzung wäre im Idealfall nicht nur das Medium eines Werkes, sondern das Medium der Möglichkeiten der ihm zugrunde liegenden Sprache: ihrer je eigenen Medialität.

Als Werkmedium ist die Übersetzung ihrerseits in einen ganzen Medienverbund eingebettet, der von den Techniken schriftlicher Fixierung bis zur Druckerpresse und der Entwicklung eines internationalen Buchmarktes reicht. Selbst die (freilich problematische) Forderung nach Originaltreue kann nur da erhoben werden, wo ein Werk in mehreren textidentischen Exemplaren vorliegt.

Ein Werkmedium sind Übersetzungen nicht zuletzt in Bezug auf die Rezeptionsgeschichte eines Werkes. Seine historisch mehr oder weniger verbürgte Textgestalt bleibt in der Originalsprache stets dieselbe, verlangt aber mit der wachsenden Distanz, die es von seinen Lesern trennt, nach immer weiterer Erklärung und Auslegung. Dieser hermeneutische Horizont des Verstehens und Nicht-Verstehens wird von der Vielfalt der möglichen Übersetzungen abgesteckt. Sie zeigen, auf welche Weise ein Werk zu einer bestimmten Zeit gelesen (oder nicht gelesen) werden konnte, und verweisen zugleich auf die Geschichte ihrer eigenen Sprache wie auf den Stand der Übersetzungstheorie. Auch daran ließe sich also ein Klassiker erkennen: Seine Übersetzung bleibt ohne Ende.