Dieses Spiel ist keine Spielerei. Experimentelles Übersetzen, Übersetzung als Experiment

Was ist experimentelle Übersetzung? Ausgehend von drei Beispielen traduktorischer Praktiken, die die Grenzen dessen, was wir gewohnt sind, als literarische Übersetzung zu verstehen, deutlich überschreiten, geht Anna Luhn dieser Frage nach.

Als experimentelle Übersetzung, so schreibt Lily Robert-Foley, lasse sich „jede Übersetzungspraxis“ bezeichnen, „die sich den geltenden Übersetzungsnormen widersetzt.“[01]Lily Robert-Foley, »The Politics of Experimental Translation: Potentialities and Preoccupations«, in: English 267 (69/2020), S. 401–419. Die Resultate traduktorischer Praktiken against the norm, die sich unter der Klammer einer solchen Minimaldefinition versammeln lassen, können sich naturgemäß überaus vielfältig gestalten. Der einzige auf den ersten Blick erkennbare Nenner der drei Beispiele jedenfalls, von denen ausgehend ich in diesem Essay über die Praxis des experimentellen Übersetzens nachdenken möchte, ist wohl die Tatsache, dass alle drei Fälle die Grenzen dessen, was wir gewohnt sind, als literarische Übersetzung zu verstehen, deutlich überschreiten. Die acht „Extraktionsübersetzungen“ des Pariser Polivanov-Zirkels, veröffentlicht 1973 in der Zeitschrift CHANGE, reduzieren etwa die Verse des Sonetts Tombeau d’Edgar Poe von Stéphane Mallarmé auf jeweils ein bis drei Worte und stellen diese ›verdichteten‹ Übersetzungen jeweils unter neue Überschriften (z.B.: „Der Dichter und die Menge“, „Revolte oder Revolution?“, „Verb“).[02][Cercle Polivanov], »Tel qu’en lui même enfin la traduction le change«. In: CHANGE 14 (1973), S. 92. Die in Eigenregie erstellte „alchemische Übersetzung“ von B. P. Nichols Gedicht Translating Apollinaire nimmt eine Umschreibung (respelling) aller Wörter vor, „so that the letter strings form strings of chemical elements“.[03]B.P. Nichols, Translating Translating Apollinaire, Milwaukee (Wisconsin) 1979 [unpaginiert]. Und in Oskar Pastiors „bau des dingis“ gerät die syntaktische Struktur von Baudelaires Sonett Harmonie du soir in den Beschreibungsfokus einer „syntaktisch aufgeriffelt[en]“[04]Oskar Pastior, o du roher iasmin, Weil am Rhein 2002, 29. Übersetzung.

Le Tombeau d’Edgar Poe

Tel qu’en Lui-même enfin l’éternité le change,
Le Poète suscite avec un glaive nu
Son siècle épouvanté de n’avoir pas connu
Que la mort triomphait dans cette voix étrange!
[…]

Verbe

Change
Suscite :
Avoir connu
Triomphait
[…]

Translating Apollinaire

Icharrus    winging up,
Simon the Magician    from Judea    high in a tree
Everyone    reaching for the sun
[…]

TTA 39: alchemical translation

Icharrus    wingaingd up,
Simon thhe Moagiciaun   fromn Udyeuau    high in au tareeu
euveryone    reachingd foru the sun
[…]

Harmonie du soir

Voici venir les temps où vibrant sur sa tige
Chaque fleur s’évapore ainsi qu’un encensoir;
Les sons et les parfums tournent dans l’air du soir
Valse mélancolique et langoureux vertige!
[…]

bau des dingis

aussagehaupt auf hinweis partizip verbunden
die einzeldingis prädikaten wie ein drittis
diese wie jene tun im dongsda es des dingis
mit anruf beiwort des zustandekommentars oh
[…]

Allein die Tatsache, dass es sich bei den ersten beiden Übersetzungen um intralinguale Übersetzungen handelt, also kein Sprachwechsel vollzogen wird, könnte bei Übersetzungspurist:innen für Kopfschütteln sorgen. Wobei dieser Umstand nur einen der vielen möglichen Einhakmomente für das Anbringen von übersetzungstheoretischen Zweifeln darstellt. Die offensichtlichste Frage darf gestellt werden: Sollte man solcherlei Textexperimente denn nicht eher unter neo-avantgardistischer oder postmoderner Literatur und konzeptuellem Schreiben verbuchen, als sie unter dem Dach der ›Übersetzung‹ eine randständige Existenz jenseits aller Kanonisierung führen zu lassen?

Statusfragen

Der tschechische Theoretiker Jiří Levý, eine Koryphäe in den Theoretisierungsbestrebungen der literarischen Übersetzung, hat in seinem frühen Standardwerk Umění překladu[05]Auf Deutsch 1969 erschienen als Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung in Übersetzung von Walter Schamschula unter Mitarbeit von … Fußnote lesen [Die Kunst der Übersetzung] von 1963 jene Formen der Übersetzung als „anti-illusionistische“ bezeichnet, die „dreist“ und selbstbewusst den Akt der Übersetzung ins Zentrum rückten, anstatt die Illusion zu wahren, man läse etwa (so Levýs Beispiel) die Buddenbrooks, auch wenn man nicht die deutschsprachige Ausgabe in den Händen hielte. Auch der Begriff der ›konzeptuellen‹ Übersetzung lässt sich in diesem Zusammenhang wohl in Anschlag bringen, als eine „unvermeidlich selbstreferenzielle und selbstreflexive“ Form der Übersetzung, die gerade durch ihre willentliche Abkehr von der translatorischen Norm in der Lage ist, ihre „eigenen Möglichkeiten, Konditionen und Beschränkungen zu reflektieren.“[06]Teresa Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of Translation«, in: Piotr de Bończa Bukowski u. Magda Heydel (Hg.), Polish Translation … Fußnote lesen Eine ›Meta-Übersetzung‹, die auch die Leser:innen drastisch nicht nur mit dem übersetzten Text, sondern insbesondere damit konfrontiert, „wie er mit existierenden Übersetzungen und mit Erwartungen an Übersetzung interagiert.“[07]Theo Hermans, The Conference of the Tongues, S. 51, zitiert nach Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of Translation«, S. 345.

Nicht selten bedeutet ein solches übersetzerisches Vorgehen allerdings, dass den Autor:innen der Status als Übersetzer:innen, jedenfalls aber dem Produkt ihrer Praxis der Status der Übersetzung abgesprochen wird. Als der Lyriker und Begründer des poetischen ›Objektivismus‹, Louis Zukofsky, und seine Frau Celia Thaew Zukofsky 1969 nach gut zehnjähriger Arbeit zeitgleich in einem New Yorker und einem Londoner Verlag ihre Übersetzungen der gesamten Gesänge des römischen Dichters Catull veröffentlichten, war die altphilologische Fachwelt entgeistert: Kritiker:innen überschlugen sich mit vernichtenden Urteilen zu dieser Übertragung von Catulls carmina, die keiner bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten englischen (und d’ailleurs: überhaupt neusprachlichen) Übersetzung auch nur ansatzweise glich.

XXVI

Furi, villula nostra non ad Austri
flatus oppositast neque ad Favoni
nec saevi Boreae aut Apheliotae,
verum ad milia quindecim et ducentos.
o ventum horribilem atque pestilentem!

26

Furius, „Little Vlla“ has no od for Auster,
flaw to oppose a taste naked to Favonius,
nor sighs with Boreas, out Apheliotes,
worms eat and mill it fifteen thousand two hundred.
o vent them horrible, I’m out quite, pestilent mm.

Ausgehend von eher rudimentären Lateinkenntnissen hatten die Zukofskys Catulls gesamtes dichterisches Werk auf eine Weise ins Englische übertragen, die nicht die lexikalische, sondern akustische Äquivalenz zu ihrem Leitprinzip machte. Die vernichtenden Urteile zu einer solch ungewöhnlichen traduktorischen Vorgehensweise kamen nicht nur aus dem Lager der Akademie, sondern auch aus den zeitgenössischen schriftstellerischen Reihen: In einer ausführlichen Kritik bescheinigte beispielsweise Burton Raffel, selbst Schriftsteller und Übersetzer, dem Unternehmen der Zukofskys – bzw. dessen Ergebnis – nicht nur schlicht Unlesbarkeit, er kam am Ende seiner Ausführungen auch zu dem drastischen Schluss, das Buch hätte niemals geschrieben werden dürfen („no one should have done this book“), weil es „weder Catullus, noch Übersetzung“[08]Burton Raffel, „No Tidbit Love You Outdoors Far as a Bier: Zukofsky’s Catullus,“ in: Arion: A Journal of Humanities and the Classics 8/3 … Fußnote lesen sei. Dem minutiös erarbeiteten Catull der Zukofskys konnte dieses Verdikt literaturgeschichtlich betrachtet glücklicherweise wenig anhaben: Als Paradebeispiel homophoner Übersetzungen, von denen einige sich in Uljana Wolfs „kleiner unvollständiger Liste zu Oberflächenübersetzungen“ im Babelkat tummeln, firmiert der Zukofsky’sche Catull nachgerade ein Klassiker unter jenen Werken, deren Status als Übersetzung im landläufigen Sinne allerdings immer ein zwielichtiger, ein zweifelhafter, ein argwöhnisch beäugter sein wird. Im altphilologischen Studium jedenfalls wird man der Zukofsky-Übersetzung, wenn man Melanie Möller Glauben schenken darf, wohl eher nicht begegnen, und falls doch, dann maximal als Kuriosum am Rande (Stelle ab 9:13).

Die Kunst im Experiment

Dabei ließen sich, um die Rhetorik der Kritiker:innen umzudrehen, die Verfahren, die bei Levý in ihren extremsten Formen das Prädikat „Anti-Übersetzung“ erhalten, auch gerade gegensätzlich bezeichnen: Bei Theresia Prammer jedenfalls firmieren sie zum Beispiel unter dem Namen „Radikalübersetzung“[09]Siehe Theresia Prammer, Übersetzen, Überschreiben, Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede, Wien 2009, z.B. S. 59. und erscheinen in dieser Formulierung nicht als das Andere der literarischen Übersetzung, sondern gewissermaßen als deren Steigerung: radikal, ja, das kann eine Abweichung von der Norm bedeuten, aber eben auch: extrem, kompromisslos, gründlich – radicalis: die Wurzel. Und ich würde behaupten, gerade um diese Wurzel geht es jenen Spielformen der Übersetzung, die man oftmals intuitiv als ›experimentell‹ bezeichnet und die ich im Folgenden versuchen will, etwas präziser zu fassen. Denn das Prädikat verweist sicherlich, und da überlappt es mit Termini wie ›Metatraduktion‹ oder ›konzeptuelle Übersetzung‹, auf die Spielformen experimenteller Literatur und ihre normenverletzenden und entgrenzenden Entautomatisierungsverfahren. Darüber hinaus aber (und zugleich mit dieser Bedeutungsfacette verbunden) deutet es zunächst und insbesondere auch – und das ist der ebenso entscheidende zweite Faktor der spezifischen Übersetzungsweisen, die ich im Blick habe – auf das wissenschaftliche Experiment hin: Im Sinne jener Versuchsanordnungen, die ab der Neuzeit und im Besonderen mit Francis Bacons epochemachendem Novum Organum zum dominierenden Paradigma der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion wurden.

Die wissenschaftliche Versuchsanordnung hat einen epistemischen Horizont: Als Praxis zielt die Ausarbeitung und systematische Ausführung eines Experiments auf Erkenntnis. Auf Aufbau und Durchführung folgt die Auswertung und – im Idealfall – ein Wissensgewinn. Gerade in der Praxis des Versuchsaufbaus, der Erprobung ist das Experiment dabei stets spekulativ und zugleich, wie der Schriftsteller Helmut Heißenbüttel Anfang der 1970er Jahre mit Bezug auf den Philosophen Karl Löwith anmerkte, eine hochgradig „artistische Veranstaltung,“[10]Helmut Heißenbüttel, »Keine Experimente? Anmerkungen zu einem Schlagwort«, in: ders., Zur Tradition der Moderne : Aufsätze und Anmerkungen 1964 … Fußnote lesen welche (wie Heißenbüttel Löwith zitiert) „die Natur wie ein Werk der Kunst nach bestimmten Erwartungen, die sich erproben müssen, erfinderisch entwirft.“[11]Karl Löwith zitiert nach Heißenbüttel, 126. Experimentelle Übersetzungen, so würde ich also Lily Robert-Foleys Minimaldefinition erweitern, agieren aus einem spezifischen Erkenntnisinteresse, einem Interesse, das etwa die geltenden traduktorischen Normen kritisch adressieren kann, vielleicht aber auch ein ganz anderes Ziel verfolgt: etwa einem bestimmten Text, einer bestimmten Sprachstruktur, einem bestimmten Lektüreschema probierend beizukommen.

Instrumentarien der Wissensproduktion

Als experimentelles Verfahren wird Übersetzung zum wissensgenerierenden Instrumentarium. In diesem Sinne ist es ein entscheidender Faktor der experimentellen Übersetzung, dass ihr ein Moment der Systematizität innewohnt, dass ihr Versuchsaufbau und die Kriterien, die zum Ergebnis führen (so idiosynkratisch sie auch sein mögen), doch in gewissem Maße stabil und damit auch nachvollziehbar sind.[12]Jany Berretti spricht dieses Moment des Systematischen in der experimentellen Übersetzung an, vgl. Berretti, Jany: »Pour la traduction … Fußnote lesen Bei Heißenbüttels Löwith wird im Experiment die Natur, in der experimentellen Übersetzung der ›source text‹ in einen ihr fremden, künstlichen Zustand versetzt, und zwar mit einer bestimmten Idee, einer Frage im Kopf, nach der sich das experimentelle ›Design‹, die Methode, der Versuchsaufbau gestaltet.

Ein kurioses Beispiel zeigt, dass eine solche experimentelle traduktorische Praxis nicht immer aus dem Umraum literarischer Avantgarde kommen muss. Balthasar van der Pol, der Mitte der 1950er Jahre eine englisch-französische iterative Übersetzungskette in Auftrag gab, bei dem ein philosophischer Text ganze viermal eine Übersetzungsschleife vom Englischen ins Französische (und wieder zurück) durchlief, war jedenfalls seines Zeichens kein Vertreter der Konkreten Poesie, sondern renommierter Physiker und Experte der Radiotechnik. Versuchsaufbau und Durchführung sind in van der Pols kurzem Papier „An Iterative Translation Test“ dokumentiert und mit einer kleinen Auswertung spezifischer Stellen versehen (besonders notierungswürdig erscheint van der Pol beispielsweise die Transformation von „dry light“ zu „lumière franche“ zu „open light“ zu „flamme libre“ zu „unconfined flame“). Der Report findet sich als Nachdruck in einem 1955 erschienenen linguistischen Sammelband der Georgetown University in Washington D.C., der sich (so jedenfalls legen die Titel nahe) nicht nur den „Problems of Literary Translation“, sondern auch den Potentialitäten von „Translation as a Research Tool“ widmet. Jiří Levý wiederum nutzt van der Pols Experiment 1966 für seine Überlegungen zu den Beschreibungspotentialen der aufkommenden Spieltheorie für die Theoretisierung literarischer Übersetzung.

Denkt man die experimentelle Übersetzung von der wissenschaftlichen Systematik her, so erscheint die häufige, wenn auch nicht zwangsläufige Anreicherung mit Peritexten erläuternder, konzeptueller oder methodologischer Natur als Teil eines solchen epistemisch motivierten, spekulativen Versuchsaufbaus. Gérard Genots „17.648 Übersetzungen zweier Dante-Terzette“ aus der Divina commedia (Purg. VIII, 1–6) beispielsweise ist eine kurze Notiz vorangestellt, in der der Italianist und Übersetzer Einblick sowohl in die Methode als auch das initiale Motiv seiner Übersetzung gibt: Ausgehend von der Problematik, dass die solitär stehende Übersetzung sich qua Autorität des Druckwerks für die Lesenden eben nicht bloß als eine, sondern immer als einzige darstelle, entwickelt Genot auf der Basis aller grammatikalisch und lexikalisch zulässigen Varianten ein Schema, das all diese Varianten in sich trägt und den Durchgang durch sie erlaubt:

Gérard Genot: „17.648 Traductions de deux tercets de Dante (Purg. VIII, 1–6)“

Es ist nicht uninteressant, Genots Schema in den Kontext von Levýs Ausführungen in „Translation as a Decision Process“ zu stellen, die den Übersetzer als Spieler:in entwerfen: „Once the translator has decided in favour of one of the alternatives, he has predetermined his own choice in a number of subsequent moves […] That is to say, he has created the context for a certain number of subsequent decisions, since the process of translating has the form of a GAME WITH COMPLETE INFORMATION — a game in which every succeeding move is influenced by the knowledge of previous decisions and by the situation which resulted from them (e.g., chess, but not card-games).“[13]Jiří Levý, »Translation as a Decision Process«, in: S. 1171–1182, hier: 1172. Hierzu auch Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of … Fußnote lesen

Abbildung aus Jiří Levý, „Translation as a Decision Process“ (1966)

So erkennbar die Übereinstimmungen in ihrem Interesse, so fundamental unterschiedlich sind die Methoden der beiden Zeitgenossen: Während Levý mittels der Spieltheorie neue Beschreibungsmodi und Erkenntnisse für die Theorie der literarischen Übersetzung zu gewinnen hofft, erspielt sich Genot die literarische Übersetzung als theoretisches Instrumentarium, mittels dessen, um nur eine Dimension dieses in vielerlei Hinsicht interessanten Übersetzungsexperiments zu nennen, die gängige Maskierung übersetzerischer Optionen in der veröffentlichten, der ›finalen‹ Übersetzung zur Disposition gestellt wird.

Spielende Übersetzungen, Übersetzung als Spiel

Überhaupt, das Element des Spielerischen ist natürlich zentral und bestimmt die Rezeption von Übersetzungsverfahren, die etwas Künstliches an das Original herantragen, die es in einen schrägen Zustand versetzen, die eine bestimmte Facette des Werks grotesk vergrößern oder verkleinern oder auf Kosten anderer Dimensionen favorisieren, die anagrammieren, durcheinanderwürfeln, reduzieren, wuchern lassen, collagieren, alchemisieren, gewichten und in all diesen Methoden offen austragen, dass sie in ihrer Auseinandersetzung den ›Ursprungstext‹ nicht intakt lassen können. Sie spielen eher nicht nach, aber mit den Regeln, nach denen diese Texte verfasst sind, oder auch mit den Regeln, nach denen man sich poetischen Texten nach allgemeiner Konvention lesend oder übersetzend nähert. Respektlos können solche Zerpflückungen wirken, und sie können es auch durchaus sein, wenn sie dem Text, mit dem sie spielen, nicht begegnen, ihn nicht als Gegenüber anerkennen, sondern bloß auf seine Kosten spielen (wollen).[14]Vgl. dazu auch Robert-Foley „The Politics of Experimental Translation,“ S. 427 ff.

„Isn’t this fun?!,“[15]Douglas Robinson, The Experimental Translator, Cham 2022, S. 171. wollen Verfahren jenseits eines traditionellen Übersetzungsverständnisses laut Douglas Robinson den Leser:innen entgegenrufen, und ja: das lustvolle Spiel ist zweifellos eine irreduzible Komponente auch des experimentellen Übersetzens. Aber: „Dieses Spiel ist keine Spielerei,“[16]Léon Robel, „La traduction en jeu“, in: CHANGE 19 (1974), S. 8: „Ce jeu n’est pas une amusette.“ stellen die Herausgeber:innen der Zeitschrift CHANGE klar, wenn sie 1974 eine ganze Ausgabe der Präsentation und Reflexion experimenteller Übersetzungsverfahren widmen. Und gerade diese Präzisierung ist spielmachend. Diejenigen Verfahren und Auseinandersetzungen, die ich experimentelle Übersetzungen nenne, spielen nicht aus Mangel an Respekt, sondern nehmen den poetischen Text in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit: sie experimentieren, weil sie einem kritischen Interesse nachgehen.[17]Den kritischen Impuls experimentellen Übersetzungsdenkens sowie einige mir besonders eindrückliche historische und gegenwärtige Konstellationen … Fußnote lesen Weil sie in dieser Begegnung zum Beispiel etwas herausfinden wollen über die Machart eines poetischen Texts, über seine Potentialitäten, die Grenzen der Auseinandersetzung, über die Historizität seiner Form, über seine Semantik, seine syntaktische Fügung, über seine metamorphotischen Qualitäten, über die eigenen Möglichkeiten und Beschränktheiten im übersetzerischen Umgang mit ihm, über seine epistemischen Bedingungen… ich könnte fortfahren. Konzeptuellen Übersetzer:innen mag der Text egal sein können, auf den sie ihr Konzept anwenden, für experimentelle Übersetzungen jedoch ist er entscheidend, weil sie auch und maßgeblich aus Erkenntnisinteresse ins Spielen kommen. „In my mind was the idea of a pure bit of research“, schreibt B. P. Nichols im Vorwort der ausschnitthaften Veröffentlichung seiner übersetzerischen Versuche zu seinem Poem Translating Apollinaire, die er einen „preliminary report“ von „research results“ nennt. Und auch der Polivanov-Zirkel weist mit der Veröffentlichung seiner Übersetzungsexperimente mit Mallarmés Tombeau den durch sie generierten Erkenntnisgewinn aus: „Man beachte“, wird die Leserin angewiesen, dass beispielsweise durch die phonetische intralinguale Übersetzung eine „sehr einzigartige strukturelle Besonderheit“ des Sonetts, eine äußerst regelmäßige Verteilung der „phonischen Wiederholungen“ nämlich, sichtbar gemacht würde.[18]Vgl. [Cercle Polivanov], „Tel qu’en lui même enfin la traduction le change,“ S. 86. Der äußerst präzise ausgeführte Experimentalaufbau der Zukofsky’schen Übersetzung schließlich betrifft nicht nur die Frage der Übertragbarkeit und Hierarchisierung lyrischer Sinn-, Struktur- und Klangmerkmale des (Catull’schen) Lateinischen, sondern auch das philologische System überhaupt, in dem Übersetzungen operieren.

Frei von Konkurrenz: Spielformen der Übersetzung

Eine solche doppelte Definition: als verspielte, entautomatisierende, auch gewaltsame Textpraxis und zugleich als epistemologisches Instrumentarium bedeutet auch, dass eine reine Listung von Verfahren nicht ausreicht, um experimentelle Übersetzungspraktiken hinreichend zu bestimmen. Interlinear-, also Wort-für-Wort-Übersetzungen, können je nach Kontext ein (meist in der Unsichtbarkeit verbleibender) Zwischenschritt eines Übersetzungsprozesses sein, oder aber als avancierte Befragung der grammatisch konditionierten Nähe-Distanz-Beziehung zwischen zwei Sprachsystemen fungieren.[19]Vgl. Paolo Valesio, „The Virtues of Traducement: Sketch of a Theory of Translation,“ in: Semiotica 18/1 (1976). Der poetische Ausgangstext und die Fragestellung bestimmen das Verfahren, das wild oder merkwürdig oder hermetisch erscheinen kann, aber niemals zufällig ist. Das macht experimentelles Übersetzen zu einer situierten Praxis, die ihr kritisches Potential verlieren muss, wenn man sie aus ihrem historischen, soziopolitischen, individuellen Kontext herauslöst und bloß im Sinne von ‚creative writing‘ oder rein als konzeptuelle Praxis bestimmt.

Im Verhältnis schließlich zu aktuell und historisch geläufigeren Übersetzungsweisen erscheint mir eine Hierarchisierung, die die experimentelle über die ‚klassische‘ oder die ‚klassische‘ über die experimentelle Übersetzung stellt,[20]Zweifellos ist die zweitere Variante deutlich häufiger anzutreffen, aber auch ersteres findet sich in der Literatur: etwa, wenn Douglas Robinson von … Fußnote lesen weder besonders zielführend noch angebracht. Als eine besondere Form der poetisch-analytischen Auseinandersetzung verfolgen beide Übersetzungsformen erkennbar unterschiedliche Interessen und bespielen dabei doch gemeinsam das Spektrum des Traduktorischen, an dessen Extremen auf der einen Seite die Re- und Neuprovokation einer ganz bestimmten literarisch-ästhetischen Erfahrung, auf der anderen Seite die spekulative Auslotung eines spezifischen epistemischen Begehrens steht.

Nicht nur also ist der Ausschlussreflex („Das ist keine Übersetzung“) experimenteller Übersetzungsverfahren hinsichtlich des Umstands fragwürdig, dass sich die experimentellen Textpraktiken explizit als Übersetzung verstehen und bezeichnen.[21]Oder dort, wo sie es nicht tun, doch wieder von den Lesenden im Umraum der Übersetzung positioniert werden, wie etwa Oskar Pastiors … Fußnote lesen Denn wie auch der uns geläufigeren Form der literarischen Übersetzung geht es ihnen gerade in ihrer Bezeichnungspraxis als Übersetzung um das textuelle Gegenüber, auf das sie sich willentlich, eindeutig und unbedingt beziehen – weil diese Bezogenheit konstitutiver Teil ihrer Praxis und ihres Horizonts ist. Hier treffen sich die ‚klassischen‘ und die experimentellen Praktiken der Übersetzung, wie auch alle ihre Mischformen: als eine radikale Form und Performance von Intertextualität.[22]Vgl. Werner v. Koppenfels, „Intertextualität und Sprachwechsel. Die literarische Übersetzung.“ In: Ulrich Broich und Manfred Pfister: … Fußnote lesen

References
01 Lily Robert-Foley, »The Politics of Experimental Translation: Potentialities and Preoccupations«, in: English 267 (69/2020), S. 401–419.
02 [Cercle Polivanov], »Tel qu’en lui même enfin la traduction le change«. In: CHANGE 14 (1973), S. 92.
03 B.P. Nichols, Translating Translating Apollinaire, Milwaukee (Wisconsin) 1979 [unpaginiert].
04 Oskar Pastior, o du roher iasmin, Weil am Rhein 2002, 29.
05 Auf Deutsch 1969 erschienen als Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung in Übersetzung von Walter Schamschula unter Mitarbeit von Levý.
06 Teresa Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of Translation«, in: Piotr de Bończa Bukowski u. Magda Heydel (Hg.), Polish Translation Studies in Action. Concepts – Methodologies – Applications, Berlin u.a. 2019, S. 343–368, hier: 345.
07 Theo Hermans, The Conference of the Tongues, S. 51, zitiert nach Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of Translation«, S. 345.
08 Burton Raffel, „No Tidbit Love You Outdoors Far as a Bier: Zukofsky’s Catullus,“ in: Arion: A Journal of Humanities and the Classics 8/3 (1969), S. 435-445, hier: S. 445.
09 Siehe Theresia Prammer, Übersetzen, Überschreiben, Einverleiben. Verlaufsformen poetischer Rede, Wien 2009, z.B. S. 59.
10 Helmut Heißenbüttel, »Keine Experimente? Anmerkungen zu einem Schlagwort«, in: ders., Zur Tradition der Moderne : Aufsätze und Anmerkungen 1964 – 1971, Neuwied [u.a.]: Luchterhand 1972, S. 126–135.
11 Karl Löwith zitiert nach Heißenbüttel, 126.
12 Jany Berretti spricht dieses Moment des Systematischen in der experimentellen Übersetzung an, vgl. Berretti, Jany: »Pour la traduction expérimentale«. In: Christine Raguet-Bouvart (Hg.), Traduire ou Vouloir garder un peu de la poussière d’or… Hommages á Paul Bensimon. Paris 2006, S. 89–112, hier: S. 103.
13 Jiří Levý, »Translation as a Decision Process«, in: S. 1171–1182, hier: 1172. Hierzu auch Brzostowska-Tereszkiewicz, »The Conceptual Art of Translation«, S. 358 ff.
14 Vgl. dazu auch Robert-Foley „The Politics of Experimental Translation,“ S. 427 ff.
15 Douglas Robinson, The Experimental Translator, Cham 2022, S. 171.
16 Léon Robel, „La traduction en jeu“, in: CHANGE 19 (1974), S. 8: „Ce jeu n’est pas une amusette.“
17 Den kritischen Impuls experimentellen Übersetzungsdenkens sowie einige mir besonders eindrückliche historische und gegenwärtige Konstellationen habe ich breiter diskutiert in Anna Luhn, Spiel mit Einsatz. Experimentelle Übersetzung als Praxis der Kritik, Wien/Berlin 2022.
18 Vgl. [Cercle Polivanov], „Tel qu’en lui même enfin la traduction le change,“ S. 86.
19 Vgl. Paolo Valesio, „The Virtues of Traducement: Sketch of a Theory of Translation,“ in: Semiotica 18/1 (1976).
20 Zweifellos ist die zweitere Variante deutlich häufiger anzutreffen, aber auch ersteres findet sich in der Literatur: etwa, wenn Douglas Robinson von der ‚klassischen‘ literarischen Übersetzung als der „subservient reproductions“ (The Experimental Translator, S. 171) spricht.
21 Oder dort, wo sie es nicht tun, doch wieder von den Lesenden im Umraum der Übersetzung positioniert werden, wie etwa Oskar Pastiors Baudelaire-Intonationen, die in der Forschung kaum je ohne den Übersetzungskontext zur Sprache kommen: Vgl. exemplarisch Theresia Prammer, Übersetzen, Überschreiben, Einverleiben; Thomas Strässle, „Traduktionslabor. Oskar Pastiors oulipotisches Übersetzungsexperiment,“ in: Michael Bies und Michael Gamper, „Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte.“ Experiment und Literatur III. 1890–2010, Göttingen 2011, S. 432–445; Marion Maurin, „Die überdrehte Übersetzung – Pastior bürstet Baudelaire. Zur Mehrsprachigkeit in den Baudelaire-intonationen,“ in: www.polyphonie.at Vol. 11 (1/2022).
22 Vgl. Werner v. Koppenfels, „Intertextualität und Sprachwechsel. Die literarische Übersetzung.“ In: Ulrich Broich und Manfred Pfister: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985.