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Veröffentlicht am 15.05.23

Leichte Sprache

„Wenn man etwas versteht, dann muss man nicht mehr so viel Angst haben.“
(Maria Hütter-Songailo, Prüferin für Leichte Sprache)

Leichte Sprache ist als Varietät des Deutschen relativ jung. Je nach Blickwinkel ist sie für die einen „eine verständlichkeitsoptimierte Reduktionsvarietät für Menschen mit eingeschränkter Lesekompetenz“ (so beim Eröffnungsvortrag der VdÜ-Jahrestagung in Wolfenbüttel 2022) oder ein laienlinguistisches Konzept mit einigen Mankos, für die anderen ein sehr wirksames und inspirierendes Hilfsmittel für mehr Zugang zur (sprachlichen) Welt. Sprachlicher Zugang zu Texten ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und demokratische Mitgestaltung, aber auch Tor zu neuen Welten und Themen, Vorbildern, Freude an Literatur und Kultur, Empowerment und Ausdrucksmöglichkeiten. Ähnlich wie bei anderen Fragen von Inklusion und Diversität, bei denen sprachliche Reibungen politische spiegeln, bewegen wir uns auch hier aktuell in einem (inspirierenden) Spannungsfeld, das es zu erforschen, auszuhalten und auszudehnen gilt. Das heißt: Ausprobieren. Anders machen. Mutig sein. Sprache dehnen. Spielen. Kreativ und neugierig Neues entstehen lassen.

Entstehung

Ihren Ursprung hat Leichte Sprache in der Selbstbestimmungsbewegung Ende der 1960er in Schweden und dann als „Easy-to-read“ in den 1970er Jahren in den USA in der People First-Bewegung. In den 1990ern kam das Konzept nach Deutschland, 2001 entstand People First Deutschland e.V., 2006 wurde das Netzwerk Leichte Sprache als Zusammenschluss von Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten gegründet (seit 2013 ein eingetragener Verein). Seit 2014 widmet sich außerdem die Forschungsstelle für Leichte Sprache an der Universität Hildesheim der Erforschung und Etablierung der Leichten Sprache.

Zielgruppen

Die Zielgruppen für Leichte und Einfache Sprache sind sehr divers und reichen u.a. von Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Hörbehinderung, über Menschen mit geringer Literalität oder anderer Muttersprache (darunter auch Gebärdensprache) bis zu Menschen mit Aphasie, Schlaganfall oder Demenz. Laut LEO-Studie 2018 der Universität Hamburg bewegt sich die Lesekompetenz der erwachsenen Menschen in Deutschland (18–64) bei ca. 16 Millionen Menschen auf dem Niveau A1-B1 des europäischen Referenzrahmens (Alphalevel 1-4, geringe Literalität und fehlerhaftes Schreiben). Das entspricht ungefähr einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung. Die absolute Mehrheit der schriftlichen Informationen (ob alltäglich, behördlich oder literarisch) liegt weit darüber, wie uns Wahlunterlagen, Corona-Infos oder Zeitungslektüre immer wieder vor Augen führen.

Leicht oder Einfach?

Die Begrifflichkeiten sind teilweise nicht trennscharf und im Fluss, gemeinhin versteht man unter Leichter Sprache (LS) eine Varietät des Deutschen mit einem A1/2-Wortschatz, die konkreten Regeln folgt, und Illustration sowie eine Prüfung der Texte durch min. zwei Menschen mit Lernschwierigkeiten mit einer speziellen Prüfausbildung einschließt (so z.B. das Netzwerk Leichte Sprache e.V.). Die Bezeichnung Einfache Sprache (ES), Wortschatz-Niveau A2/B1, wird wiederum oft für alles verwendet, was vereinfacht ist. Gegenwärtig läuft gerade ein DIN SPEC-Prozess „Empfehlungen für Deutsche Leichte Sprache“ und zu „Einfacher Sprache“ gibt es eine DIN-Arbeitsgruppe, so dass sich in Zukunft vermutlich jeweils ein stärkeres Profil herausbilden wird.

Übersetzungsprozess & Regeln

Übersetzen in Leichte Sprache ist eine völlig andere Form der Übersetzung als die Übersetzung von Literatur oder Sachtexten. Der Text wird bebildert und entsteht in enger Zusammenarbeit zwischen Auftraggebenden, Übersetzer:in, Illustrator:in und Prüfteam und durchläuft mehrere Feedbackschleifen. Dabei kommt den Prüfer:innen mit Lernschwierigkeiten die Rolle von Expert:innen zu – für alle Beteiligten ein ungewohnter und inspirierender Perspektivwechsel.

Im Laufe der letzten Jahre haben sich im deutschsprachigen Raum verschiedene Regelwerke und Siegel für Leichte Sprache parallel entwickelt, am bekanntesten sind die Regeln des Netzwerks Leichte Sprache. Gemeinsam ist allen dabei der Blick auf Gestaltung (Schriftgröße, linksbündig, usw.), Wortstruktur (Passiv vermeiden, Worttrennung, usw.), Wortschatz (A1/2), Satzbau und (in unterschiedlichem Maße) Illustration und Zielgruppenprüfung. Einen pragmatisch-differenzierten Blick mit vielen lesenswerten Erkenntnissen bietet die LeiSA-Studie der Uni Leipzig von 2019 (es gibt die Forschungsergebnisse auch in Leichter Sprache!). Bettina M. Bock plädiert dort v.a. für die Kategorie der Angemessenheit hinsichtlich Zielgruppe, Textzweck, Inhalt, Situation und Sender:in.

Rechtliche Situation

Rechtliche Grundlagen für Leichte Sprache finden sich in der UN-Behindertenrechtskonvention (2009 von Deutschland ratifiziert), im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) §11 Abs. 4 von 2002, in der BITV 2.0 (Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung) von 2011 und im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das in Deutschland 2025 in Kraft tritt und die Barrierefreiheit im E-Commerce vorschreibt (in Österreich bereits seit 2016). Grundsätzlich wird Leichte Sprache als Teil von Barrierefreiheit verstanden und unterstreicht die sprachliche Seite der Inklusion.

Inspiration für Literaturübersetzer:innen

Für Literaturübersetzer:innen bietet die Beschäftigung mit Leichter Sprache verschiedene spannende Anstöße: zum einen schult es das Auge, weil man (sprachliche) Selbstverständlichkeiten viel radikaler als sonst hinterfragt und Uneindeutigem in Struktur und Inhalt sofort auf die Schliche kommt, zum anderen lädt es zum Nachdenken ein: Kann Literatur zu einfach sein? Für wen ist (welche) Literatur? Wie kann inklusive(re) Literatur funktionieren und was braucht es dafür? An wen denken wir, wenn wir an Literatur denken?

Einerseits wird der Text beim Übersetzen „leichter“ und klarer, andererseits aber auch dichter. Die Struktur tritt in großer Klarheit an die Oberfläche, die Inhalte werden auf den wesentlichen Kern reduziert. Wenn sonst gilt: Alles lässt sich in jeder Sprache ausdrücken – was heißt das für Leichte Sprache? Die Devise „So komplex wie nötig, so einfach wie möglich“ bietet fürs eigene Schreiben und Übersetzen enorme Inspiration …

Gleichzeitig sensibilisiert die Beschäftigung mit Leichter Sprache und Barrierefreiheit auch den Blick für Intersektionalität und Dilemmata, z.B. bei geschlechtergerechten Formulierungen. Verwende ich wie in diesem Text den Doppelpunkt, ist das womöglich für Screenreader nicht geeignet. Die Verwendung von Sonderzeichen ist wiederum für viele Menschen mit geringer Literalität grundsätzlich herausfordernd – was tun, wenn ich durch die Verwendung geschlechtergerechter Sprache einerseits mehr Menschen einschließen möchte, dadurch aber gleichzeitig sprachlich/grafisch andere ausschließe?

Eine weitere Besonderheit von Übersetzungen in LS/ES sind begleitende Illustrationen, die – wenn sie die Zielgruppen ästhetisch und inhaltlich ernst nehmen – ganz neue Möglichkeiten der Übertragung von Inhalten bzw. des (auch poetischen) Zusammenspiels von Sprache und Bild erlauben, so dass Literatur in Einfacher Sprache womöglich auch für Übersetzungen neue Räume einer eigenen, neuen Text-Bild-Sprache eröffnet.

Und last but not least ist das KI-basierte Übersetzen natürlich auch im Bereich Leichte Sprache ein Thema, das die Gemüter erhitzt, und über das im Kreis von Kolleg:innen heiß diskutiert wird …

Weiterführendes:

Film: Leichte Sprache Brücke zur Welt (9 Min.),     
https://www.youtube.com/watch?v=c6_pJ27sL8w&ab_channel=EinfacheSpracheSchweiz

Alexandra Lüthen, Allen eine Chance. Warum wir Leichte Sprache brauchen, Berlin 2019, https://shop.duden.de/products/allen-eine-chance

LeiSA-Studie 2019 zu Leichter Sprache auf dem Arbeitsmarkt: Bettina M. Bock, „Leichte Sprache“ – kein Regelwerk. Sprachwissenschaftliche Ergebnisse und Praxisempfehlungen aus dem LeiSA-Projekt, Berlin 2019, Volltext online abrufbar unter:  
https://ul.qucosa.de/api/qucosa%3A31959/attachment/ATT-0/  

Die Ergebnisse in Leichter Sprache,           
https://leisa-leichtesprache.uni-koeln.de/