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Veröffentlicht am 06.07.22

Lyrik

Hier ist der Körper des Gedichts, komme ihm näher. Lerne seine Anziehung und sein Elend kennen. Du siehst die Teile, die sich sehnig gespannt, ölglänzend präsentieren und über das schlaffe Fleisch hinwegtäuschen sollen, das irgendwo unten hingekauert wartet, bis es sich obszön zeigen kann oder oben schon fröhlich schwappt. Oder umgekehrt.
Sorry, ich schnüre jetzt das Korsett auf. Gleich wird der Körper des Gedichts in seiner ganzen Pracht zu sehen sein. Wabern wird es oder noch mehr mit der Form strotzen. Alles ist möglich.

Und damit du das Gefühl hast, es ginge über den Körper (des Gedichts) hinaus, schau ihm einfach in die Augen, Kleiner, Übersetzer. (Wem eigentlich? Hat ein Text Augen?) Wenn es irgendwo vor zu viel Spannung oder aus Gewebeschwäche aufreißt, könnte ich sagen, das Gedicht schaut durch die Maschen auf dich. Oder es zwinkert dir zu. Ein polnisches Gedicht z.B. tut es, wenn du ihm das Deutsche überziehst und dabei nicht aufpasst.

Beim Übersetzen kann ich schon vieles machen mit dem Gedicht. Kann seinen Körper massieren, aber auch massakrieren. Kann ihm was überziehen oder ihn nackt frieren lassen, oder kitzeln. Zumindest in der Zwischenzeit. Soll es später unter Leute gehen, muss ich ihn in ein Korsett stecken. Ihm Muskeln oder Rundungen andichten. Gut zusammenschnüren.

In der Zwischenzeit muss ich mir seine Geschichte anhören. Und es spricht viele Sprachen, lallt gern wie ein Kind auch. Es kann mit dem Fähnchen eines Efs wedeln, kann mich mit der Spindel eines Is durchbohren oder mit den warmen Armen aus lauter As umarmen. Und wenn ich ein M als seinen Mund erkenn’, dann wird es mich küssen.

Es kann auch so tun, als wäre’s kein Gedicht, aber seinen Körper: ihn ignorieren – kann ich nicht.

Morphologische, syntaktische, rhythmische und semantische Beziehungen in einem mehrdimensionalen Text, der seine eigene, verborgene oder offene Prozessualität hat, zärtlich oder exzessiv, werden beim Lesen für einen Augenblick zur Aufmerksamkeit und Intensität, in deine Zeit hinein gekrümmt, gewellt oder entstellt, gewollt und aufbewahrt oder schnell wieder vergessen. Aber das Gedicht lebt sein eigenes Leben und du kehrst zu ihm wieder und wieder zurück, wenn du seiner Umarmungen noch nicht überdrüssig bist. Dieses sich in alle Richtungen ausbreitende Geschehen ist die Physiologie des Gedichts, die Physiologie seines Körpers und die ÜbersetzerInnen müssen sie geschehen lassen. Alle Prozesse und ihre Funktionen sind gleich wichtig. So kann es schon mal vorkommen, dass die Semantik nicht so dominant erscheint, wie dies in der Prosa der Fall ist. Doch sie hat nichts eingebüßt an Wichtigkeit. Semantik im Gedicht wird nur anders organisiert – eben durch das zirkulierende Lautsystem, Bilanz der Vokale und Konsonanten, Assonanzen, durch das Korsett des Reims, der Akzentuierungen, durch den begrenzten Raum (Vers und Strophe) und manchmal auch durch die Aufhebung der Linearität, wenn sie denn gelingt, ganz abgesehen von allem rhetorischen Rüstzeug. Das Zusammenspiel aller dieser Parameter lässt sich als ein Netz von Intensitäten verstehen, die beim Übersetzen vor dem Verblassen in einer anderssprachigen Lektüre bewahrt werden müssen.

Um ein Beispiel zu nennen: Wenn in einem polnischen Gedicht die Mauern mury heißen, und sie lassen sich irgendwann niederreißen (mury runą), dann werden sie im Deutschen als Mauern auch fallen. Wenn die Mauern aber auch ein Gebäude nicht nur umfassen, sondern auch bilden – mit all den Gängen, Stockwerken, Treppen, dann können mury zu Flure mutieren und dabei den eigenen Laut bewahren, der im Polnischen mit strukturgebend war, so dass der Körper des Gedichts nicht ganz blass geworden ist, nicht ganz vertrieben aus dem Paradies. Vielleicht wird dieser Klang auch im Deutschen strahlend durch Augen und Köpfe gehen und andere Zeichen im Text um sich herum organisieren.

Die Lyrikübersetzung sollte nicht so sehr die Suche nach Äquivalenzen sein, sondern nach Schärfe. „Poesie muss gefallen“ (E. T.-Dycki), aber damit sie das tun kann, muss ich überall, wo durch Resemantisierung des Materials eine klangliche Indifferenz droht, spürbar nachschärfen. Niemals grob, aber entschieden zusammenschnüren. Ein übersetztes Gedicht sollte eine Verschärfung sein. In der Pause zwischen meiner eigenen und einer möglichen neuen Lektüre, auf die ich keinen Einfluss mehr habe, muss ich alle Maßnahmen treffen, dass die Physiologie des Gedichts intakt bleibt. Für die kommende Lektüre eines einzelnen Gedichts sollten ganze Tonstudios, Nachrichtenagenturen, Sehlabore für den Mikro- und Teleskope für den Makrokosmos bereitstehen. Eine Idealversuchsanordnung, die immer nur begonnen werden kann.