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Veröffentlicht am 26.12.21

Treue

Beim Übersetzen sind wir bekanntermaßen dem Original zur Treue verpflichtet. Doch was heißt »Original« und was heißt »Treue«?

Viele setzen das Original mit dem Text gleich. Doch der Text ist nicht das Original. Er ist vielmehr das, was dem Schatzsucher die Karte ist. Die Karte zeigt uns den Weg zum Schatz, der Text den Weg zum Original. (Vorausgesetzt, wir verstehen die Zeichen!)

Das Original ist nicht von vornherein da. Es zu finden und freizulegen, ist unsere eigentliche Aufgabe. Das Original ist eine Idee, der wir uns Schritt für Schritt nähern können. Und die Treue ist dieses Näherkommen.

Auch die Treue ist nichts, was von vornherein feststeht. Was Treue bedeutet und wie treu wir sind, entdecken wir nicht vor, doch während der Arbeit. Wir entdecken es im Großen wie im Kleinen, im Gesamtbild wie auch in der einzelnen Silbe. Alles weist über sich hinaus. Überall gilt es, zum Sinn zu gelangen, ihn ans Licht zu holen, ihm ein neues Gefäß zu geben. Doch der Sinn eines künstlerischen Werks ist weit mehr als die Semantik seiner Worte. Es ist das Zusammenspiel und Ineinandergreifen sämtlicher gestalterischer Elemente.

Treu sein bedeutet unter anderem: Sich nicht vom Weg abbringen zu lassen, nicht in den Worten steckenzubleiben – sie sind nur Wegweiser, nicht das Ziel. Und in unserer Sprache müssen wir schließlich ganz andere Worte finden, um den Sinn darin auszudrücken. Im Extremfall, auch ohne auch nur ein einziges Wort des Originals zu verwenden.

Um dem Original treu sein zu können, sollten wir aber vor allem uns selbst treu sein: Unser Auffassungsvermögen, unser ästhetisches Empfinden, kurzum – unser Ohr gilt es unablässig zu kultivieren. Denn je feiner es ausgeformt ist, desto besser werden wir das Gelesene in uns aufnehmen können. Es ist unser Prüfstein, unsere Richtschnur, unser inneres Maß.

So wie wir ja auch die »richtige« Lesart des Originals in der Zielsprache nicht vor Kritikern zu verantworten haben, sondern allein vor uns selbst.