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Veröffentlicht am 14.07.22

Co-Übersetzung. Wie wir zu zweit Literatur übersetzen

Angefangen hat alles 1981 mit der Übersetzung von politischen Texten spanischer Anarchisten aus den 70er Jahren, Briefe aus dem Gefängnis von Segovia (Edition Tiamat, Nürnberg 1981), und zwar aus dem Französischen, das als Brückensprache diente, auf Spanisch sind sie nie erschienen. Unsere Arbeitsmethode war ebenso einfach wie aufwendig: Wir saßen nebeneinander und übersetzten gemeinsam Satz für Satz, schrieben noch von Hand, die Endfassung tippten wir dann auf einem IBM 82 Composer ab, der den Text satzfertig aufs Papier brachte. 12 Jahre später – zwischenzeitlich waren wir getrennte Wege gegangen, hatten an Uni, in Kanzleien und Werbung gearbeitet – war der PC als komfortable Schreibmaschine nicht mehr wegzudenken. Wir hatten neben unseren Jobs einzeln und getrennt weiter übersetzt: Sabine mal Kraut und Rüben, mal einen Französisch schreibenden Chinesen, Holger mal Dadaisten und Surrealisten und, bereits auf dem Weg zur Professionalisierung, seit 1990 auch erste Romane der französischen Gegenwartsliteratur. 1993 verbrachte man noch sehr viel Zeit mit Recherchen in Bibliotheken. Bezahlbares Internet für Privatpersonen, ohne das wir uns das Übersetzen heute gar nicht mehr vorstellen können, war ein Traum.

Ende 1994, unser erstes Kind war da, keimte die Idee auf, gemeinsam zu übersetzen. Noch vor dem zweiten Kind kam Truetext auf die Welt, unser Büro für Übersetzungen und Lektorat, und schnell war auch der erste große Auftrag da, die zweibändige Autobiografie des Friedensnobelpreisträgers Eli Wiesel. Wir begannen wie 14 Jahre zuvor, doch diesmal hatten wir nicht 10 Monate Zeit für 100 Seiten, sondern je Band[1] 5 Monate für 800 Seiten, die zudem literarisch anspruchsvoller, schwieriger und rechercheintensiver waren. Nach einem Monat und vielen, bisweilen auch verbissen geführten Auseinandersetzungen hatten wir 40 Seiten und mussten uns eingestehen, dass wir mit dieser Arbeitsweise scheitern würden. Im Laufe der weiteren Arbeit versuchten wir es zunächst mit wechselweisen Rohübersetzungen, die wir dann gemeinsam überarbeiteten. Das ging schon besser, aber Streitigkeiten um unterschiedliche Lösungen beanspruchten immer noch zu viel Zeit, doppelt so viel wie das eigentliche Übersetzen. Daher mussten wir einen Modus finden, der langes Diskutieren weitgehend ausschloss.

Vor rund 25 Jahren hat sich dann unsere Methodik eingepegelt: Wir teilen den Originaltext nicht auf, sondern arbeiten den gesamten Text wechselweise und häppchenweise durch, in zwei bis zehn oder zwölf Portionen. Zu Beginn steht eine Rohübersetzung, in die schon viele Recherchen einfließen. Die erste Fassung einer Portion wandert dann zur/m anderen und wird von ihr/m überarbeitet, und vice versa. Nach der dritten Fassung folgt die vierte, es kommt noch ein Korrekturlesen, bei unproblematischen Texten sind wir dann fertig, bei schwierigeren Texten können es bis zu sieben, acht oder im Extremfall (Lyrik) noch mehr Fassungen werden, die hin und her wandern.

Damit das gegenseitige Überarbeiten noch wirtschaftlich machbar bleibt, befolgen wir zwei nicht ganz eiserne Regeln (Verstöße sollen Ausnahmen sein, die die Regeln bestätigen): Zum einen gilt, dass wir über unterschiedliche Auffassungen und Lösungen nicht miteinander reden oder gar debattieren (lässt es sich nicht vermeiden, nutzen wir dazu die Kommentarfunktion am Seitenrand), und zum zweiten, dass wir bei Korrekturen der/s anderen, mit denen wir nicht einverstanden sind, nicht auf eine eigene Vorgängerversion zurückgreifen, sondern neue Lösungen suchen.

Während des Überarbeitens entfaltet sich die Übersetzung zunehmend als Ganzes. Je mehr die Übersetzung an Konsistenz gewinnt, umso weniger Streitfälle gibt es am Ende. Und umso mehr wird es ein Text aus einem „Guss“, dem man nicht anmerkt, dass er von zwei Übersetzern stammt. Erst bei der vorletzten oder letzten Version verständigen wir uns über die übriggebliebenen Probleme, meist sind das nicht mehr viele. Freilich haben wir uns im Lauf der Jahre auch stilistisch immer mehr angenähert.

Unsere erste Version, bisweilen auch noch die zweite, ist voll von alternativen Lösungen in eckigen Klammern oder durch Schrägstriche abgetrennt, dazu gibt es noch viele Randkommentare. Diese Versionen sind für Außenstehende nahezu unlesbar. Oft fragen Verlage sehr früh nach Lesefutter für Presse und Vertrieb, damit können wir selten schnell dienen. Da die einzelnen Portionen unterschiedlich lang sind und die einzelnen Überarbeitungsversionen unterschiedlich lange dauern, arbeiten wir oft asynchron, besonders bei umfangreichen Büchern. „Lesbare“ Versionen entstehen daher häufig erst ziemlich spät.

Jede/r von uns hat ihr/sein eigenes Büro, zwar Wand an Wand, aber ohne Verbindungstür. Um von einem ins andere Büro zu gelangen, muss man erst durch die halbe Wohnung gehen. Auch das hilft, überflüssige Streitigkeiten und Debatten während des Übersetzens zu vermeiden. Wie in einem „normalen“ Bürobetrieb ist unser Begegnungs- und Gesprächsraum die Küche. Außerdem arbeiten wir „zeitversetzt“: Manchmal begegnen wir uns frühmorgens auf der Treppe, Sabine steht auf, Holger geht ins Bett.

Während Sabine stärker nach innen wirkt, mit strengem Lektorat und scharfem Blick für sprachliche Schnitzer, ungeschickte Formulierungen, schiefen Bildern und unpassenden Ausdrucksweisen, sorgt Holger für die Kommunikation nach außen zu Verlagen und Lektoraten. Und zusammen bemühen wir uns um die Kontakte zu unseren Autorinnen und Autoren, treten mit ihnen zusammen bei Lesungen auf, die Holger bisweilen auch moderiert. Zu manchen von ihnen hat sich im Laufe der Zeit ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt und sie witzeln darüber, dass wir es so genau nehmen mit ihren Texten …

Oft haben wir das Gefühl, wir müssten effektiver arbeiten und schneller sein. Dem stehen das Gespür für die Qualität eines Textes und der Anspruch entgegen, ihm mit der Übersetzung zu genügen. Wirtschaftlich betrachtet ist das ein Dilemma, denn wir bekommen ja kein höheres Honorar als ein/e einzelne/r Übersetzer/in. Und seit über 20 Jahren ist von uns auch keine/r mehr in anderen Jobs tätig. Zudem sind unsere Seitenhonorare seit 20 Jahren kaum noch, seit 8 Jahren überhaupt nicht mehr gestiegen, weshalb die finanzielle Situation häufig bedrohlich ist, obwohl wir auftragsmäßig voll ausgelastet sind. Da wir auch auf keine anderen Ressourcen zurückgreifen können, fühlt sich unsere Arbeit als Literaturübersetzer/in immer öfter beengend und beklemmend an. Einziger Lichtblick in dieser Situation ist die Möglichkeit, sich um Stipendien zu bewerben, meistens beim DÜF, die glücklicherweise an Menge und Umfang zunehmen. Wenn wir eines zugesprochen bekommen, ist das für uns häufig die letzte Rettung.


[1] Beim ersten Band, Alle Flüsse fließen ins Meer, Hamburg 1995, war noch unsere geschätzte Kollegin Brigitte Große als zweite Co-Übersetzerin mit dabei.