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Veröffentlicht am 15.09.22

Demut

Von Proust stammt die Behauptung, „daß ein großer Schriftsteller das wesentliche, das einzig wahre Buch, weil es in jedem von uns schon existiert, nicht erfinden, sondern übersetzen muß. Die Pflicht und die Aufgabe eines Schriftstellers sind die eines Übersetzers.“

Der Schriftsteller wäre also ein Übersetzer, und der Übersetzer im besten Fall ein Schriftsteller. Der Unterschied zwischen den beiden scheint darin zu bestehen, daß der eine mit einem unsichtbaren Original zu kämpfen hat, während der andere den zu übersetzenden Text kennt und in Buchform vor sich liegen hat. Für den Schreibenden gilt es, den Wirrwarr im Kopf irgendwie mit der Leere auf dem Blatt zu vereinbaren. Der Übersetzer kennt keine leere Seite, er hängt nicht völlig in der Luft wie der Schreibende, sondern hangelt sich auf das andere Ufer mithilfe eines ziemlich dicken Seils.

Und doch haben Schreiben und Übersetzen etwas Gemeinsames, und dieses Gemeinsame hat zu tun mit der Art, wie ein Satz oder ein Vers, sei er nun übersetzt oder nicht, entsteht. Wieder hole ich mir Hilfe aus Frankreich: die französische Philosophin Simone Weil schrieb 1942 in einem kurzen Essay mit dem Titel Reflexionen über den richtigen Gebrauch des Schulunterrichts im Hinblick auf die Liebe Gottes, das einzig wahre Ziel und fast einzig Bedeutsame des Schulunterrichts sei es, die Aufmerksamkeit des Schülers zu schärfen. Aufmerksam sein besteht für sie nicht in einer krampfhaften Anstrengung oder Anspannung, sondern im Offen- und Leerhalten des Geistes. „Die wertvollsten Güter darf man nicht suchen, sondern man muß auf sie warten“, schreibt sie. Und weiter: „Für jede Schulübung gibt es eine spezifische Art, auf die Wahrheit inbrünstig zu warten, ohne sich zu erlauben, sie zu suchen. Eine Art, auf die Worte eines lateinischen oder griechischen Textes zu achten, ohne ihren Sinn zu suchen, beim Schreiben zu warten, daß das richtige Wort von selbst aus der Feder fließt, indem man die ungenügenden Worte zurückdrängt.“

Daß sie diesen Gedanken im Zusammenhang mit einer so einfachen Tätigkeit wie einer Schulaufgabe äußert, macht ihn nur noch großartiger. Das Übersetzen ist eine demütige Arbeit; wer nicht völlig größenwahnsinnig ist, spürt in jeder Sekunde die eigene Unzulänglichkeit. Aber wer ihr die richtige Aufmerksamkeit widmet, wem es gelingt, die ungenügenden Worte zurückzudrängen, der ist dieser Unzulänglichkeit momentweise enthoben.

Mir scheint, auch das Schreiben ist mehr eine Sache des Zurückdrängens als des Suchens. Und vielleicht bekäme etwas von der Demut des Übersetzers dem Schriftsteller ganz gut.